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       # taz.de -- Therapeut über Coronaproteste: „Zu den Durchblickern gehören“
       
       > Auf „Hygienedemos“ lebt sich der deutsche Oberlehrer aus, sagt Klaus
       > Ottomeyer. Vom „besorgten Bürger“ dürfe man sich nicht kirre machen
       > lassen.
       
   IMG Bild: Eine „Querdenken“-Demo in Stuttgart
       
       taz: Herr Ottomeyer, viel ist derzeit die Rede von Verschwörungstheorien im
       Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19. Können
       Sie mit dem Begriff als Psychotherapeut etwas anfangen? 
       
       Klaus Ottomeyer: Ja, natürlich. Die Weltgeschichte ist voll von
       erfolgreichen Verschwörungstheorien, der Antisemitismus ist da die
       bekannteste. Das Syndrom ist verbunden mit dem Autoritarismus. E[1][iner
       neueren Untersuchung zufolge] sind etwa 40 Prozent der Befragten autoritär:
       Sie sind bereit, sich selbst einer Autorität zu unterwerfen, orientieren
       sich an starren Regeln und pflegen eine Bereitschaft zur Aggression, die
       Objekte braucht.
       
       Und das zusammen korreliert dann hochgradig wiederum mit einer
       Verschwörungsmentalität. Der Hass auf Außenfeinde geistert derzeit frei
       herum, weil Corona den Rechten, welche die Flüchtlingskrise zur „Mutter
       aller Krisen“ (Horst Seehofer) stilisiert hatten, das vertraute
       Geschäftsmodell zerstört hat. Sie sind jetzt doppelt zornig.
       
       Das mit der Aggression leuchtet ein, wenn wir die [2][sogenannten
       Hygiene-Demos] betrachten. Die Leute dort verstehen sich aber explizit als
       antiautoritär. Wie bringen Sie das in diesem Modell unter? 
       
       Ähnlich bei allen Varianten ist die Hassbereitschaft. Das Konzept der
       Verschwörung ist immer verbunden mit einer Beschimpfung, einer Enttarnung
       finsterer Kräfte, die dann davongejagt werden müssen. Dazu gehört etwas
       Rechthaberisches. Man ist nicht widerlegbar, der Hinweis auf Fakten bleibt
       folgenlos. Man ist wie ein Oberlehrer. Und das möchte jeder Deutsche
       vielleicht ein bisschen sein.
       
       „Es erschreckt mich immer wieder, wenn in der taz in Artikeln über
       medizinische Themen völlig einseitig die Sichtweise der Schulmedizin
       wiedergegeben wird und kritische Denkansätze überhaupt nicht erwähnt
       werden.“ Solche Leserbriefe bekommen wir aktuell zu Corona – dieser aber
       stammt aus dem Jahr 1995, damals zur sogenannten Impfdebatte. Gibt es eine
       besondere Affinität des linksalternativen Milieus zur Infragestellung
       wissenschaftlicher Erkenntnisse unter dem Deckmantel des „kritischen“?
       
       Die Betreffenden haben offensichtlich Angst, dass ihnen oder den Kindern
       etwas „eingeimpft“ wird. Da ist eine viel größere unbewusste Angst
       beteiligt. Soweit ich mich erinnere, waren wir in der Studentenbewegung
       auch zumindest am Rande der Verschwörungstheorie. Man hat überall
       kapitalistische Machenschaften vermutet, einen großen Plan, dass die
       Menschen ausgebeutet und an der Nase herumgeführt werden sollen und dass
       ihnen etwas eingeimpft werden soll, von der Bild-Zeitung mit Springer bis
       hin zur Industrie im Hintergrund. Wir haben die Professoren kritisiert und
       sie dann auch enttarnt als Knechte des Kapitalismus und des Imperialismus.
       
       Die sie als ehemalige Nazis ja aber eben oft auch waren. 
       
       Ja, aber das kann dann überschießen.
       
       Was bringt uns persönlich dieses Aufdecken? 
       
       Es ist erst mal ein super Gefühl, zu den Durchblickern zu gehören. Und
       damit ist man dann auch Teil einer Jagdgemeinschaft. Das ist aufregend, die
       Gegner zu verängstigen und abzuservieren.
       
       Nun ist Angela Merkel kein Altnazi. Hat man Post-68 versäumt, eine
       kritische Aufarbeitung der eigenen monokausalen Welterklärung zu liefern? 
       
       Ja. Es geht um die Depotenzierung von Autoritäten und elterlichen Figuren.
       Angela Merkel steht da für die schlechte Mutter, die nicht richtig für uns
       sorgt, die mit anderen Mächten in Kontakt ist und uns verrät. Das ist das
       Märchen von Hänsel und Gretel. Da steckt ja auch der Verschwörungsgedanke
       drin. Da belauschen die Kinder die Eltern, und die Stiefmutter sagt, die
       müssen wir loswerden. Die Kinder sind dann aber schlauer als die Eltern.
       Und setzen sich selbst als neue Autorität ein. Auch Bill und Melinda Gates
       werden wie Eltern konstruiert, die in ihrer Stiftung nur scheinbar etwas
       für Kinder tun und sie in Wirklichkeit versklaven wollen.
       
       Merkel ist aber auch eine Symbolfigur des Neoliberalismus mit seinem Motto:
       „Es gibt keine Alternative.“ Wenn gesagt wird, auf einer rationalen Basis
       sind bestimmte Entscheidungen alternativlos: Ist dann der Wechsel in den
       Irrationalismus nicht zwingend? 
       
       Das ist eben typisch Eltern: „Ihr müsst in die Schule gehen, ihr müsst euch
       die Hände waschen, da gibt es keine Alternative.“ Eltern stecken gern unter
       einer Decke in ihrem Schlafzimmer und hecken Pläne aus. Von der Affektlage
       her ist das eine pubertäre Reaktion, ein rebellischer Zorn, der
       verselbständigt abläuft, sobald uns jemand sagt, es gibt keine Alternative.
       Den Verschwörungsinszenierungen geht es dabei nicht um die Bewältigung von
       „Realangst“ (Freud), die immer mit Realitätsprüfung verbunden ist.
       
       Sondern sie setzen auf eine „neurotische Angst“ in Bezug auf eine innere
       Erfahrung, dass wir wie ein verwirrtes Kind von etwas Großem unterworfen
       und gedemütigt und dass andere bevorzugt wurden. Das ist weitgehend
       unbewusst und hat mit den aktuellen äußeren Gefahren wenig zu tun. Drittens
       wird in der Empörung und mit dem Ruf nach Freiheit die lästige
       „Gewissensangst“ abgewehrt, die derzeit besonders mit der Rücksichtnahme
       auf andere und mit dem Zurückstellen unseres Egoismus verknüpft ist. Wir
       bewegen uns nach Freud immer zwischen Realangst, neurotischer Angst und
       Gewissensangst.
       
       Wie kann man denn mit dieser Angstmischung umgehen? 
       
       Indem man sich nicht von der schon länger beliebten Figur des „besorgten
       Bürgers“ ins Bockshorn jagen lässt, in der alle diese Ängste miteinander
       vermengt sind. Die Ängste benennen und auseinanderklauben. Auch die
       eigenen. In Bezug auf Regeln und Gesetze ruhig und standhaft bleiben.
       
       Und welchen Lustgewinn haben wir uns rational Vorkommende von der
       Beschäftigung mit der letztlich kleinen Minderheit der
       Verschwörungstheoretiker? Dürfen wir uns da schön überlegen fühlen? 
       
       Ja, narzisstisch sind wir alle. Aber wichtiger ist die Verantwortung, dazu
       beizutragen, dass die Proteste nicht von rechts gekapert werden. Sonst wird
       die Welt furchtbar.
       
       21 May 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.boell.de/sites/default/files/leipziger_autoritarismus-studie_2018_-_flucht_ins_autoritaere_.pdf
   DIR [2] /Hygiene-Demonstrationen-in-Berlin/!5683822
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ambros Waibel
       
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