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       # taz.de -- Verschickungskinder in Westdeutschland: Ohrfeigen, bis alle still sind
       
       > Bis in die 1980er Jahre wurden Kinder über Wochen auf Kur geschickt und
       > dort misshandelt – für viele eine traumatische Erfahrung. Eine
       > Erinnerung.
       
   IMG Bild: Viele ehemalige Verschickungskinder wollen nicht mehr an die Nordsee, weil sie dort gequält wurden
       
       Die Geschichte meiner Verschickung beginnt mit dem Gips-Bett. Ich bin noch
       sehr klein. Etwas ist schief gewachsen bei mir, die Wirbelsäule ist nicht
       in der Form, in der sie sein soll, mein rechtes Bein ist länger als das
       linke. Aber so ein kleiner Körper ist noch dehnbar, kann angepasst werden.
       
       Mir wird das Gips-Bett verordnet. Das ist ein weißes, hartes Brett, in
       leicht gebogener Form, ungefähr so lang, wie ich groß bin, mit mehreren
       blauen Riemen an den Seiten. Das Gips-Bett bekommen wir mit nach Hause, und
       ich muss mich mit dem Rücken darauflegen. Dann werde ich mit den Riemen
       festgeschnallt, an Füßen, Händen und Hüfte, sodass ich mich nicht bewegen
       kann.
       
       So muss ich liegen, eine Stunde, einen Tag, irgendwann kommt es mir vor,
       als liege ich immerzu im Gips-Bett. Ich zerre an den Fesseln, weil ich mich
       bewegen will, es ist schrecklich, sich nicht bewegen zu dürfen, ich will
       aufstehen, rennen, immerzu will ich rennen, und das tue ich auch immer,
       wenn ich losgeschnallt werde, angezogen bin, hinaus, und rennen, den
       Fußball suchen, ihn mitnehmen, auf die Wiese hinter dem Haus, und rennen.
       Bis ich wieder angeschnallt werde. Dann hilft nur träumen.
       
       Als ich älter werde, brauche ich nicht mehr ins Gips-Bett. Es wird
       Gymnastik verordnet und das Tragen einer Einlage im linken Schuh wegen den
       unterschiedlichen Beinlängen. Ein Zentimeter ungefähr, wovon ich nichts
       merke. Für die Gymnastik muss ich nach Marburg in die Orthopädie. In den
       Fluren und im Wartesaal riecht es vermodert. Ich schäme mich beim
       Ausziehen. Aber die kühlen Hände der Frau im weißen Kittel tun wohl, wenn
       wir die Übungen machen.
       
       ## Nach Karlshafen
       
       Später, als ich älter bin, kann ich schon allein mit dem Bus nach Marburg
       fahren. Die Gymnastik ist jetzt im Schwimmbad der Orthopädie. Im warmen
       Wasser werde ich an den Hüften gehalten und mache Bewegungen, lerne
       allmählich schwimmen.
       
       Eines Tages werde ich von der Orthopädie in die Hautklinik geschickt.
       Seltsame Flecken haben sich auf meiner Haut herausgebildet. Vor allem auf
       der rechten Seite, an Armen, Hüfte, Beinen, und es sieht aus, als wäre ich
       da stark sonnengebräunt, während die restliche Haut ganz hell ist. Der Arzt
       in der Hautklinik ist sehr interessiert. Er macht sich Notizen, murmelt
       etwas vor sich hin, es hört sich an wie: Besondere Ausprägung. So noch nie
       gesehen. Er spricht lange mit Mama, aber es scheint nichts Schlimmes zu
       sein, weder der Arzt noch Mama schauen ernst. Der Arzt mustert mich
       nochmal, schüttelt leicht den Kopf und lächelt mich an. Dann spricht er mit
       Mama einen Termin ab.
       
       Ich stehe in einem Saal in der Uniklinik. Neben mir der Arzt, vor mir, um
       mich herum Männer und Frauen in weißen Kitteln, ich erkenne sie nicht
       genau, ich werde angeleuchtet und trage nur eine Unterhose. Der Arzt sagt:
       „Schauen Sie. Schauen Sie genau. Diese ungewöhnlichen Flecken auf der Haut
       des Jungen. Die Flecken in dieser Form sind ein seltenes Phänomen.“ Ich
       muss mich gerade hinstellen, ich zittere. Er fährt mit seiner Hand meine
       Wirbelsäule ab. Seine Finger sind kalt. „Typischer Haltungsschaden … schief
       gewachsen … natürlich zwei unterschiedliche Baustellen, kein Zusammenhang
       …“ Er fasst mich an den Schultern, dreht mich. Ich zittere stärker. „Du
       brauchst keine Angst zu haben, mein Junge“, sagt er.
       
       Dann wendet er sich wieder an die Männer und Frauen in weißen Kitteln. „Und
       hier: die Flecken ziehen sich über die ganze rechte Seite nach unten,
       während die linke Seite unauffällig ist. Hier, bis zu den Beinen.“ Dabei
       streift er meine Unterhose nach unten. „Ein interessanter Fall. Aber
       unabhängig davon. Der Junge ist für sein Alter zu zart gebaut, schwächlich.
       Eine Kur täte ihm gut, ich werde mit seinen Eltern sprechen.“
       
       ## Die Nonnen
       
       Ich werde nach Karlshafen geschickt. Ich will da nicht hin, aber ich muss.
       In Karlshafen ist ein großes Haus voller Nonnen. Jedenfalls sehen sie für
       mich wie Nonnen aus, als würden sie immer Trauer tragen. Die sprechen nur
       in Befehlen. Am Anfang muss ich alles abgeben, was ich besitze. Nicht
       einmal die Fußballerbilder von den Spielern des FC Bayern, die ich bei mir
       trage, darf ich behalten. Ich will das Bild von Franz Beckenbauer nicht
       abgeben, ich sage, dass ich das von meinem Papa habe, mit einem Autogramm
       drauf. Und einen Wimpel. Der hängt bei mir zu Hause über dem Bett. Aber die
       Nonne ist unerbittlich, ich muss mich fügen und ihr das Bild geben. Ich
       sehe, wie sie es in den Papierkorb wirft.
       
       Dann komme ich zu den anderen Kindern. [1][Alle Räume sind riesig, und in
       allen Räumen sind immer alle Kinder zugleich], nur Jungs allerdings, in dem
       Waschraum, dem Essraum, dem Schlafraum. Es riecht schrecklich nach Seife
       und Zahnpasta. Beim Waschen nimmt eine der Nonnen einen Waschlappen und
       zeigt mir, wie ich mich zu waschen habe, auch zwischen den Beinen. Sie
       reibt mit dem Waschlappen ganz fest auf mir, da wo der Pimmel ist, dass es
       sehr wehtut. Mir schießen Tränen ins Gesicht, da kriege ich eine Ohrfeige.
       Zum Essen gibt es immer Hagebuttentee. Den mag ich nicht, ich will lieber
       Kaffee trinken, wie daheim, aber das ist verboten, die Nonnen befehlen mir,
       den Hagebuttentee zu trinken, ich würge ihn hinunter, sonst bekäme ich gar
       nichts.
       
       Im Schlafsaal stehen Betten mit eisernem Gestell. Die Wände sind gelblich
       verblasst, über der Tür hängt ein großes Holzkreuz. Abends geht das Licht
       aus und wir liegen in dem riesigen Schlafsaal, ohne müde zu sein. Da reden
       noch einige Kinder, es wird nicht gleich still. Und dann kommen die Nonnen
       durch unsere Reihen zwischen den Betten gerast und geben uns Ohrfeigen,
       alle bekommen Ohrfeigen, egal, ob man ruhig gewesen ist oder nicht. Das
       geht so lange, bis alle still sind, bis alle ihr Weinen ins Kissen gedrückt
       haben, damit es verstummt.
       
       Zur Kur in Karlshafen gehört eine besondere Art des Badens. Dazu geht es im
       Schlafanzug, das große Badetuch in der Hand, hinter der Nonne her, die
       Treppe hinunter. Da ist ein großer, hellgrün gekachelter Raum, in dem
       stehen mehrere Badewannen, durch weiße Vorhänge getrennt. Auf Geheiß der
       Nonne ziehe ich meinen Schlafanzug aus und steige in die Wanne. Solbad
       nennen die das hier. Wasser mit Salz drin, so ein besonderes Salz, sagen
       die. Aber immerhin ist das Wasser so warm wie in der Orthopädie, wo ich
       Wassergymnastik machen muss. Und wenn ich erst mal in der Wanne sitze,
       werde ich in Ruhe gelassen und kann so für mich hin denken. Fast wie
       daheim, wenn ich in der Küche auf dem Holzkasten sitze, wo das Holz für den
       Herd drin ist, und aus dem Fenster schaue.
       
       Ich werde aus dem Träumen herausgerissen. Die Nonne fasst mir an die
       Schulter. Ihre Hand ist kalt. Ich muss raus aus dem warmen Wasser, steige
       aus der Wanne. Ich reibe mir die Augen. Dann erstarre ich. Ein Strahl
       eiskalten Wassers. Die Nonne duscht mich kalt ab. Ich friere. Ich zittere.
       Ich kriege eine Gänsehaut. Endlich darf ich mich abtrocknen.
       
       ## Heimweh
       
       Ich habe Heimweh. Hier lässt man mir keine Ruhe. Immer sind die Nonnen um
       mich herum und passen auf, hüten, kontrollieren. Malen dürfen wir nur in
       die vorgedruckten Formen im Malbuch. Ich will das Vorgedruckte nicht malen,
       ich will das malen, was in meinem Kopf ist, das darf ich nicht. Ich starre
       an die Wand. Wenn ich lange auf die Wand starre, entstehen Bilder auf der
       Wand, als würde ich sie malen in meinem Kopf. Ich darf mein eigenes Bild
       nicht malen, deswegen male ich es in meinem Kopf an die kahle Wand.
       
       Die Nonnen geben mir keine Zeit zum Nichtstun, zum Schauen. Nicht einmal
       vor dem Schlaf lassen sie mich in Ruhe. Sie wollen mich zerstören. Wenn ich
       mein Weinen ins Kissen drücke, sinne ich nach einem Ausweg. Über mir spüre
       ich den riesigen, bedrohlichen Schatten der Nonnen. Da kriege ich Fieber.
       Und als das Fieber nicht weggeht, kommt der Arzt. Es sind die Masern. Da
       sind überall die roten Flecken und das Fieber, die Erlösung.
       
       Jetzt darf ich im Krankenzimmer liegen. Da bin ich meistens allein, und das
       macht mich froh, ich habe meine Zeit wiedergewonnen. Einmal darf ich sogar
       Kaffee trinken, weil ich so krank bin und mir deshalb etwas wünschen darf.
       
       Die letzten Tage der Kur sitze ich im Krankenzimmer dann leicht ab, ich
       zähle sie jeden Abend. Und dann darf ich endlich heim.
       
       11 Jun 2020
       
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