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       # taz.de -- Neue deutschsprachige Lyrik: Die Zeit, die abläuft
       
       > Die aktuelle deutschsprachige Lyrik möchte den literarischen Fundus auf
       > keinen Fall verstauben lassen. Vier neue Gedichtbände zeigen das sehr
       > eigen.
       
   IMG Bild: Was Petersilie über die Seele weiß, weiß der Dichter Alexandru Bulucz
       
       Auf den ersten Blick scheint der Befund paradox zu sein: Je ambitionierter
       die Formen, desto selbstbewusster der Blick zurück. In deutschsprachiger
       Lyrik wird derzeit die literarische Tradition gewürdigt, werden poetische
       Verfahren aus vergangenen Jahrhunderten aufgegriffen und weiterentwickelt.
       Die Dichtung präsentiert sich, anders als die Prosa, zunehmend als eine Art
       Schatzkammer der Sprache, ohne dabei altbacken oder reaktionär zu wirken.
       
       Das wird etwa beim 1987 im rumänischen Alba Iulia geborenen Dichter und
       Übersetzer Alexandru Bulucz deutlich. „was Petersilie über die Seele weiß“
       heißt sein neuer Gedichtband, der mit einer poetologischen Erklärung
       beginnt. „Schreiben sei Verdauungsstunde“, heißt es da, und diese Zeilen
       sind zwar halb im Scherz formuliert, aber auch ernst gemeint. Dieser
       Dichter hält nichts von sprachlicher Diät. Er möchte aufs Ganze gehen, aus
       dem Vollen schöpfen und am liebsten die ganze Kulturtradition, die ihm nah
       ist, auf sprachliche Weise verdauen.
       
       Auf die Innenseiten des Schutzumschlages hat Bulucz viele berühmte Namen in
       alphabetischer Reihenfolge drucken lassen, von Theodor W. Adorno über
       Christian Kracht bis hin zum griechischen Gott Zeus. Ilse Aichinger, Martin
       Buber, Hubert Fichte, Hölderlin und Höch, Rilke und zwei Walsers werden
       erwähnt.
       
       All die Säulenheiligen, die Dichter und Denker, die Götterfiguren und
       Geschichtshelden tauchen in dieser Lyrik auf, die sich vielleicht gerade
       deshalb auch befreien kann von allzu schwerer Gedankenkost, um einfache
       Fragen zu rhythmisieren: „Wo u. warum nur zur Hölle verbergen die Kirchen
       u. Klöster die Klos? / Kann es sein, dass auch Gott, ihm, dem Menschen, die
       Stuhlgangverhaltung befiehlt? / Kann es sein, dass du einen auf Gott machen
       wollt’st? Bist ein Beelzebub, / Herr aller Fliegen auf Dung!“
       
       Das Verdauungsthema ist zentral in dem Band, aber es geht Bulucz keineswegs
       darum, sich mit unterhaltsamen Alliterationen im sprachlichen Dreck zu
       suhlen, sondern vielmehr um das Vergehen von Leben und Liebe. Er sei
       „bemüht“, schreibt Bulucz, „vom Ende her zu schreiben“. In seinen
       Gedichten ist der junge Autor tatsächlich sehr nah bei den Toten, die bei
       ihm allerdings erstaunlich lebendig sind.
       
       ## Ästhetische Maßgabe und mahnendes Gedächtnis
       
       Am liebsten würde er seinen Band „Helligkeitshunger“ nennen, [1][in
       Gedenken an Paul Celan]. Der Name des großen Vorbilds wird in den Gedichten
       nicht erwähnt, der ebenfalls in Rumänien geborene Dichter der „Todesfuge“
       ist aber immer präsent: als ästhetische Maßgabe und mahnendes Gedächtnis,
       das eben nicht verarbeitet und verdaut werden kann.
       
       Der 1962 in Neuss geborene Dichter Norbert Hummelt, ein mit vielen Preisen
       bedachter Altmeister seiner Zunft, beschäftigt sich mit ähnlichen
       Grundsatzfragen, auch wenn der Ausgangspunkt seiner Lyrik weniger Lektüre
       als vielmehr Naturerfahrungen sind. Hier verkündet schon der Titel des
       neuen Gedichtbandes ein poetisch-theologisches Programm: „Sonnengesang“
       nennt Hummelt seine sechs Zyklen und erinnert damit an Franziskus von
       Assisi, der an seinem Lebensende, nämlich im Winter 1224/25, ein
       gleichnamiges Gebet geschrieben hat, das die Schönheit der Schöpfung
       preist.
       
       Hummelt fühlt sich dem berühmten „Cantico delle creature“, dem Loblied auf
       die göttlichen Geschöpfe, sprachlich und inhaltlich verbunden. So treten in
       den ersten Gedichten die Tiere des Himmels auf, mal im Schatten, mal in
       praller Sonne, große wie kleine, Libellen, Mauersegler, Adler. Den Auftakt
       aber macht die Ringeltaube: „die ringeltaube war es die mich weckte in der
       stille / vor der ersten bahn rief sie nach mir mit ihrer hohlen / stimme
       wie ich sie vor der weißen wand vernahm …“
       
       ## Nahezu klassische Formensprache
       
       Hier lässt sich ein Dichter von der Natur rufen, um eine nahezu klassische
       Formensprache zu pflegen. Mit den Vögeln fliegen wir bei Hummelt durch die
       Jahreszeiten und zum Schönsten der menschlichen Natur, also der Liebe.
       Flüchtige und vogelleichte Momente fangen seine Gedichte ein.
       
       Berührungen sind nur kurz, der emotionale Nachklang umso eindrücklicher.
       „rausch weiter, bleib, verlaß mich nicht! jetzt / bin ich voll von dir u.
       von dem rauschen schwer / u. weiß mein leben ohne rausch nicht mehr.“
       Selbst wenn Hummelt sich bei Reim und Rondo heimisch fühlt, macht er es
       sich keineswegs in der lyrischen Mottenkiste bequem.
       
       Hummelt und Bulucz verbindet aber nicht nur das Bewahren und Befragen der
       Tradition, sondern auch die eschatologische Perspektive, aus der keine
       religiöse Gewissheit mehr erwächst, sondern vor allem Zweifel. So
       unterscheidet sich Hummelt, der im „Totenamt“ den Glauben verliert, von
       seinem Seelenverwandten Franz von Assisi: „in dieser stunde glaubte ich an
       nichts, vor schierem / übermaß der helle, in der altenheimkapelle, in
       dieser / ungeplanten stille, die anhielt bis zum ersten orgelton.“
       
       ## Heller als ein Stern
       
       Ein Licht am Abendhimmel erweist sich im Schlussgedicht von „Sonnengesang“
       als Raumstation, die viel heller leuchtet als ein Stern. Dem Sonnensänger,
       der im Gegenlicht zeitweilig das Glück fand, bleibt nur noch Ratlosigkeit.
       
       Tradition und Tod scheinen in zeitgenössischer Dichtung zwei Themenräume zu
       sein, die unbedingt zusammengehören. Ein Grund könnte die alle Lyrik
       prägende Reduktion sein: Was Romanautor*innen auf vielen Seiten ausbreiten,
       umreißen Dichter*innen in wenigen Zeilen. Vielleicht führt diese
       Konzentration auf das Wesentliche schnell zu den großen Fragen des Lebens
       und Sterbens, aber eben auch zu einem Nachdenken über das literarische
       Erbe.
       
       Dabei ist dieses historische Formbewusstsein in der Lyrik meist mit dem
       Wunsch verbunden, einen eigenen Stil zu entwickeln. Zeitgenössische Prosa
       hingegen liest sich leider viel zu häufig, als wäre sie vor 50 Jahren
       geschrieben worden. Auch weil Lyrik nicht unter dem üblichen Verkaufsdruck
       steht, kann sie dagegen traditionsbewusst und experimentell zugleich sein.
       
       ## Der ungeheure Mensch
       
       Interessant wird es, wenn Autorinnen und Autoren sowohl Prosa als auch
       Lyrik veröffentlichen, wie etwa die 1969 geborene [2][Schriftstellerin
       Marion Poschmann], die dem ersten Zyklus im neuen Gedichtband „Nimbus“ ein
       Zitat von Sophokles voranstellt: „Vielgestaltig ist das Ungeheure, / und
       nichts ist ungeheurer als der Mensch“.
       
       Unheimlich und befremdlich ist der Mensch bei Poschmann, weil er
       rücksichtslos handelt, weil er die Grenzen des industriellen Wachstums
       ignoriert und damit die Grundlagen des eigenen Lebens zerstört: „Noch
       gestern betete ich Berge an. / Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie / an
       mich, nach Hause, zur Erinnerung / an das Zerstörungswerk, das ich hier
       tat, / ich taute Grönland auf mit meinem Blick, / ich schmolz die
       Gletscher, während ich sie voll / der Andacht überflog. (…)“
       
       Poschmanns Lyrik sollte allerdings nicht als apokalyptische
       Fridays-for-Future-Dichtung missverstanden werden. Die Autorin betreibt
       vielmehr eine literaturhistorische Tiefenbohrung: Wie etwa würden die
       Klassiker der Naturlyrik gelesen werden, wenn die Natur sich grundlegend
       verändert hat? Tatsächlich verbindet Poschmann die Klimakrise mit
       Klopstock, um diesen Verweis auf den Dichter der Empfindsamkeit am Ende des
       Bandes dann doch wieder zu ironisieren. „Rettung des Weltklimas aus / dem
       Geist der deutschen Ode – / haben wir uns nicht etwas viel vorgenommen?“
       
       ## Literarische Kunst als literarisches Gedächtnis
       
       Wie bei Bulucz und Hummelt scheint die Zeit, die abläuft, auch ein
       Grundmotiv in Poschmanns Poesie zu sein, und es ist kein Zufall, dass die
       drei auch im Anspruch vereint sind, den lyrischen Fundus nicht verstauben
       zu lassen, dafür zu sorgen, dass literarische Kunst allen aktuellen
       Widrigkeiten zum Trotz auch literarisches Gedächtnis sein kann. Poschmanns
       Verse – diese Differenz ist allerdings auffällig – geben sich narrativer;
       sie vermag auch in ihrer Lyrik kleine „Geschichten“ zu erzählen.
       
       Die 1980 im mecklenburgischen Lübz geborene [3][Kerstin Preiwuß, die
       ebenfalls Lyrik und Prosa veröffentlicht], geht einen anderen Weg. In den
       Nachtgedanken ihres neuen Gedichtbandes entfernt sie sich von bekannten
       Erzählstrukturen und entscheidet sich für eine zauberschöne und
       enigmatische Abstraktion.
       
       Für Übergänge von Wachsein zum Schlaf und damit vom Leben zum Tod will
       diese oft rätselhafte Lyrik eine Sprache finden. Der Buchtitel gibt
       immerhin einen konkreten Hinweis, wie diese Dichtung zu lesen ist. Als
       „Taupunkt“ bezeichnet man in der Physik nämlich jene Temperatur eines
       feuchten Gasgemisches, bei dem sich Kondensieren und Verdunsten der
       feuchten Bestandteile genau die Waage halten. Auf die Welt der Lyrik und
       des Lebens bezogen, ist der Sterbemoment ein solcher Umschlagspunkt, der
       objektiv vorhanden, dennoch schwer zu bestimmen ist.
       
       ## Tod in weiblicher Gestalt
       
       Bei Preiwuß tritt der Sensenmann, wie schon in früheren Gedichtbänden der
       Autorin, übrigens grundsätzlich in weiblicher Gestalt auf: „Da kommt die
       Tödin. / Die Listenmacherin setzt ihren Strich.“ Im Schlaf, der auch der
       kleine Bruder des Todes genannt wird, geht der Kampf ums Leben weiter, mal
       ist Eros stärker, mal scheint Thanatos zu gewinnen, dann wieder sind die
       Fronten völlig unklar: „Aber die Tödin beschnuppert mich voller Liebe. /
       Aber die Liebe buckelt sich. / Die Liebe duckt sich. / Die alte Kupplerin
       kennt mich nicht.“
       
       Es gehört zu den Geheimnissen dieser dunklen Todeslyrik, dass einem die
       eigenwillige Diktion durchaus vertraut vorkommt. Preiwuß zitiert nicht
       direkt, ihre Verweise und kulturellen Anbindungen sind spärlich und
       getarnt. Substantivkomposita wie „„Bissköder“ oder „Stimmruhe“ erinnern
       aber durchaus an den Dichter der „Atemwende“, also wiederum Paul Celan.
       
       Womit sich der Kreis zu Alexandru Bulucz schließt, denn Kerstin Preiwuß
       taucht nicht nur im Register der Petersilienpoesie auf. Wenn bei Preiwuß
       die „Tödin“ umgeht, dann macht sich bei Bulucz die „Kältin“ wieder breit.
       Diese lyrische Verständigung auch in derselben Generation bestärkt den
       Eindruck, dass die Dichter*innen, die momentan auffällig oft über Verluste
       schreiben, etwas bewahren wollen, nämlich die Sprache als Reservoir für
       rettende Gedanken.
       
       9 Jun 2020
       
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