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       # taz.de -- Proteste gegen Polizeigewalt in Paris: The Revolution has come
       
       > Die französische Sängerin Camélia Jordana spricht im Fernsehen über
       > Polizeigewalt – und trifft einen Nerv.
       
   IMG Bild: Camélia Jordana benennt den Rassismus und erwischte einen günstigen Moment, ohne es zu ahnen
       
       Vor etwas mehr als zwei Wochen, in jenen Tagen, kurz nach der ersten
       [1][Lockerung der Ausgangssperre], in denen Paris wie eine unverhofft
       entspannte, fast sanfte Stadt wirkte, weil die Menschen auf einmal nicht
       mehr schick herausgeputzt in überteuerten Cafés herumsaßen, sondern wurstig
       gekleidet, mit einem Bier in der Hand am Straßenrand hockten und
       ausnahmsweise wirkten, als hätten sie Zeit, in diesen ersten Tagen des
       „Danach“ also sorgte die französische Sängerin [2][Camélia Jordana] für die
       erste corona-externe Debatte.
       
       Sie erklärte da in der sehr populären Fernsehsendung „On est pas couché“,
       dass, Quote, „in den Banlieues täglich Tausende Männer und Frauen auf dem
       Weg zur Arbeit massakriert werden, aus keinem anderen Grund als ihrer
       Hautfarbe“, und meinte weiter, sie selbst habe, so wie Tausende andere
       auch, Angst, wenn sie einem Polizisten begegne.
       
       Die Wortwahl war, das stimmt schon, sagen wir, ungeschickt. Sie war etwas
       zu grob, nicht differenziert genug, in Frankreich werden Menschen nicht
       systematisch und nicht zu Tausenden täglich „massakriert“, die Polizei ist
       auch nicht durch die Bank rassistisch und die Situation in manchen
       Banlieues (daran hat der Film [3][„Les Misérables“] vor ein paar Monaten
       sehr eindrücklich erinnert) für beide Seiten, die Bewohner wie auch die
       Polizisten, ein offenbar unlösbarer Albtraum aus Hass, Erniedrigung und
       Gewalt.
       
       Nur ist das, was Camélia Jordana an dem Abend benannte, ja deshalb kein
       bisschen weniger wahr. Es gibt in der französischen Polizei wie auch in der
       französischen Gesellschaft Rassismus, und leider nicht wenig (wie unter
       anderem eine vor ein paar Tagen entdeckte Facebook-Seite beweist).
       
       ## Kinder der schicken Viertel
       
       Manche, nicht nur Jungs aus der Banlieue, nicht nur sogenannte „racailles“,
       sondern auch Kinder aus den schicken Vierteln, die aus dem 16. oder 6.
       Arrondissement von Paris, werden häufiger und aggressiver kontrolliert als
       ihre Freunde, einfach nur, weil ihre Haut ein bisschen dunkler ist. Viele
       fühlen sich dem entsprechend nicht sicher, wenn sie einem „Ordnungswächter“
       begegnen.
       
       Die Sängerin wies also auf eine Tatsachen hin, wurde aber trotzdem für ihre
       übertriebene Emphase und nicht ganz adäquate Wortwahl getadelt. Sie würde
       eine ohnehin schon angespannte Situation befeuern, hieß es, sie würde den
       Hass und die Gewalt nur noch weiter antreiben, sie sei unverantwortlich,
       sie solle sich schämen, die Polizei hätte es zwischen Attentaten,
       Gelbwesten und sonstigen Krisensituationen doch ohnehin schon schwer genug
       (was sicher stimmt), Polizeigewalt sei in Frankreich nicht existent und so
       weiter.
       
       Auch ohne eine übermäßige Sympathie für diese Sängerin zu hegen, fragte man
       sich, wer hier eigentlich nicht ganz richtig tickt: Da sagt eine,
       meinetwegen auch etwas ungeschickt, pardon, aber ich fühle mich nicht
       sicher, so wie übrigens viele andere auch, und man antwortet ihr ganz
       unverfroren: „Halt’s Maul und schäm dich, so was zu sagen.“ Es war ein
       bisschen wie mit den Frauen: Statt den Täter „blamed“ man lieber erst
       einmal reflexartig das Opfer, das sich für einige immer irgendwie zu spät,
       zu unklar, ja vielleicht auch nicht ganz unschuldig zu Wort meldet.
       Zumindest solange es allein dasteht.
       
       Jordana traf, ohne es zu ahnen, einen Moment. Zwei Tage nach ihrem Auftritt
       starb George Floyd in den USA unter dem Knie eines Polizisten. Ein paar
       Tage später standen trotz Versammlungsverbot 20.000 Menschen vor dem
       Justiztribunal in Paris und demonstrierten. In Solidarität mit Floyd und
       der amerikanischen Bewegung, aber auch für einen nationalen Fall: Adama
       Traoré, der 2016 kurz nach einem Polizeieinsatz mit nur vierundzwanzig
       Jahren starb.
       
       ## Die Todesursache
       
       Die Ursache seines Todes ist bis heute umstritten, seine Familie, allen
       voran seine Schwester, die mittlerweile zur Ikone aufgestiegene Assa Traoré
       ([4][Virginie Despentes] nennt sie eine moderne „Antigone“), fordern seit
       Jahren „Gerechtigkeit für Adama“, die nun vielleicht sogar kommt: Ende Juli
       sollen nun neue Zeugen verhört werden.
       
       Unsere Sängerin hat auf der Demo gesungen: „Revolution has come, time to
       pick up the gun.“ Und wurde dafür natürlich, raten sie mal, wieder
       getadelt.
       
       10 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR [3] /Franzoesischer-Filmpreis-Cesar/!5667982
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       ## AUTOREN
       
   DIR Annabelle Hirsch
       
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