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       # taz.de -- Die „Großfamilie“ in den Medien: Stigmatisierende Reflexe
       
       > Eine „Großfamilie“ ist für viele hierzulande eine dubiose Angelegenheit.
       > Das zeigte sich auch in den Berichten über den Corona-Ausbruch in
       > Göttingen.
       
   IMG Bild: Wer in der dpa-Datenbank nach dem Begriff „Großfamilie“ sucht, findet viele Polizeibilder wie dieses
       
       Die Großfamilie soll es gewesen sein, oder die Großfamilien, hieß es dann
       später, die für den Corona-Ausbruch in Göttingen verantwortlich seien.
       Bebildert waren die Berichte stets mit einem Hochhaus, in dem die
       Großfamilie oder die Großfamilien, wer weiß das schon genau, ob das dann
       alles als eine Familie gilt, ob die jetzt alle verwandt miteinander sind,
       irgendwie, oder die Großfamilien, in der Mehrzahl, gewesen sein sollen. Und
       ob sie alle miteinander, diese Großfamilie oder -familien, in diesem
       Hochhaus wohnen, als eine einzige Familie?
       
       So mysteriös wie diese Formulierungen blühte meine Fantasie. Meine Freundin
       nickte weise. Sie hatte selbst schon mit einer Großfamilie zu tun, im
       ländlicheren Niedersachsen, sie kann Geschichten erzählen.
       
       Sie hat Geschichten erzählt, es gibt sie also, die Großfamilien. Und es
       soll ja eben gerade eine Razzia bei einer Großfamilie gegeben haben, in
       Berlin, da hieß es dann aber Clan und nicht Großfamilie. Und dann gab es im
       Februar ja einen „Schlag gegen die Callcenter-Mafia“, deren Mitglieder,
       jedenfalls zum Teil, und die Rede war von Brüdern, auch einer Großfamilie
       angehörten, so konnte ich es der „Tagesschau“ entnehmen. 22 Wohnungen
       wurden dazu durchsucht, organisierte Kriminalität war das Schlagwort.
       
       Es scheint also etwas nicht so Gutes zu sein, jedenfalls in der
       öffentlichen Wahrnehmung einer solchen „Großfamilie“ anzugehören. Es
       scheint geradezu ein Hinweis, ein Indiz für organisierte Kriminalität zu
       sein. Und da komme ich dann wieder auf das Hochhaus in Göttingen zurück, wo
       diese Großfamilie(n) eine große Party zum Zuckerfest gefeiert haben sollen
       und Corona über die Stadt verbreitet. Muslime und Großfamilie und Party,
       das reicht aus, um die Fantasie anzufachen. Auch in mir, das gebe ich zu.
       Hochhaus vielleicht noch, denn Hochhaus bedeutet häufig, oft, sozialer
       Brennpunkt.
       
       Und plötzlich aber ändert sich die Berichterstattung dazu. Möglicherweise
       sei es doch nicht so gewesen, habe es diese große, private Party nicht
       gegeben, sei Patient Null ein Nichtmuslim, wohnend im Hochhaus, gewesen.
       
       Und jetzt und hier zeigt es sich, dass es besser ist, nicht so schnell mit
       solchen stigmatisierenden Begriffen um sich zu werfen und besser
       Ermittlungen abzuwarten und überhaupt von solchen Dingen nicht allzu viel
       abzuleiten. Die Welt ist immer ein bisschen komplizierter, als es ein, zwei
       Begriffe vermuten lassen. Die Welt ist ziemlich kompliziert, und manchmal
       können Begriffe zwar die Welt vereinfachen, aber sie auch rassistischer
       machen und ungerechter.
       
       Mir kommt bei dem Wort „Großfamilie“ immer das DDR-Wort „kinderreich“ in
       den Sinn. Das ist an sich ja ein recht hübsches Wort, wurde aber doch
       anders verstanden. Eine kinderreiche Familie wurde zwar offiziell in der
       DDR gewürdigt, aber selten inoffiziell. Ich habe eine Cousine, die hat
       sieben Kinder. Sieben Kinder, das galt auch in der DDR unter der Hand als
       „asozial“. Wie ich letztens über eine Familie las, wird es ähnlich auch
       heute und in der BRD konnotiert.
       
       Trotz aller Modernität und Offenheit lebt diese Welt immer noch
       Vater-Mutter-zwei Kinder. Das ist das System, das seriös ist, dem getraut
       wird. Die Großfamilie verstößt dagegen in vielerlei Hinsicht. Und sie ist
       stark, denn aufgrund ihrer vielen Teile verfügt sie über vielfältigen
       Einfluss, sie kann sich gegenseitig schützen und unterstützen, sie macht
       der Familie „VMzK“ Angst. Und dann sieht sich die bundesdeutsche
       Kleinstfamilie in ihrer Minizelle so einem großen Gewächs natürlich
       unterlegen.
       
       Da ist es das Einfachste, die Großfamilie abzuwerten, zu kriminalisieren,
       asozialisieren, klischieren. Ich will die Großfamilie, die es ebenso wenig
       gibt wie die Kleinstfamilie, nicht in Schutz nehmen. Ich präferiere weder
       das eine noch das andere Prinzip. Das eine wie das andere ist einengend und
       bedarf eines neuen gesellschaftlichen solidarischeren Konzeptes. Aber über
       unsere ersten stigmatisierenden Reflexe angesichts mancher vorschneller
       Aussagen dürfen wir schon nachdenklich werden.
       
       12 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Seddig
       
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