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       # taz.de -- Debatte um Pflegekammer: Datenpanne stoppt Umfrage
       
       > In Niedersachsen muss das Sozialministerium seine Umfrage zur
       > Pflegekammer stoppen, weil sie manipulierbar ist. Die Kammer-Gegner
       > triumphieren.
       
   IMG Bild: Die Pflegekammer war von Anfang an umstritten
       
       Hannover taz | Es ist die jüngste Panne in einer langen Reihe: Die
       Mitgliederbefragung [1][zur umstrittenen Pflegekammer] in Niedersachsen
       musste am Montag vom Netz genommen werden. Eigentlich sollte mit der
       Onlineumfrage vom 3. Juni bis 5. Juli über die Zukunft der Einrichtung
       abgestimmt werden. Rund 80.000 Pflegekräfte waren zur Teilnahme aufgerufen
       worden, 7.000 hatten den 14-seitigen Fragebogen bis Montagnachmittag schon
       ausgefüllt, sagt das Sozialministerium. Doch am Wochenende stolperte mit
       Sandra Arndt vom Pflegebündnis Niedersachsen ausgerechnet eine
       Kammergegnerin über einen schweren technischen Fehler.
       
       Rein zufällig, wie sie bei einer eilig anberaumten Pressekonferenz am
       Dienstagmittag in Hannover betont. Sie habe lediglich teilnehmen wollen –
       dazu war sie als Pflegekraft und damit Kammermitglied ja per Brief vom
       Sozialministerium aufgefordert worden.
       
       Statt mühselig den im Brief angegebenen Link abzutippen, klickte Arndt
       jedoch auf einen Link, den jemand in einer Facebookgruppe gepostet hatte.
       Und landete in einem Fragebogen, der schon zur Hälfte ausgefüllt war – ohne
       nach ihrem persönlichen Zugangscode gefragt worden zu sein. Arndt
       alarmierte ihren Mitstreiter Kai Boeddinghaus, Geschäftsführer des
       „Bündnisses für freie Kammern e.V.“ aus Kassel, das gegen Kammern aller Art
       kämpft.
       
       ## Umfragedaten unbrauchbar
       
       Boeddinghaus – so stellt er selbst es dar – probierte erst einmal selbst
       herum und veränderte dabei verschiedene Fragebögen, ohne überhaupt
       stimmberechtigt zu sein. Gleichzeitig suchte er nach IT-Experten zur
       Unterstützung – und fand diese schließlich beim Chaos Computer Club, der
       Linken-Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg und ihrem Ehemann Daniel
       Domscheit-Berg, dem ehemaligen Sprecher der Enthüllungsplattform Wikileaks.
       
       Die Informatiker bestätigten Boeddinghaus, dass es sich hier um eine
       gravierende Sicherheitslücke handelt – zum einen, weil die Umfragedaten
       durch Unbefugte manipuliert werden können und damit unbrauchbar sind. Zum
       anderen aber auch, weil die sehr detaillierte Abfrage von Alter, Wohnort
       und Beschäftigungsverhältnis am Anfang des Fragebogens unter Umständen
       Rückschlüsse auf die antwortende Person zulässt.
       
       Die ITler mahnten Boeddinghaus aber auch zu einer Maßnahme, die dem
       politischen Überzeugungstäter erst einmal gegen den Strich ging, wie er
       selbst berichtet. „Ich habe widerstrebend den zuständigen Dienstleister
       Kienbaum über das Datenleck informiert“, sagte Boeddinghaus. Man habe ihm
       klargemacht, dass sich dieser sogenannte „responsible disclosure“ so
       gehöre. Kienbaum habe die Umfrage daraufhin am Montagnachmittag umgehend
       offline gestellt.
       
       Sozialministerin Carole Reimann ließ in einer ersten Pressemitteilung noch
       durchblicken, dass sie wohl hofft, der Fehler sei reparabel: „Ich erwarte,
       dass die technischen Probleme, die zur Unterbrechung der Befragung geführt
       haben, jetzt so schnell wie möglich abgestellt werden. Gleichzeitig
       verurteile ich die Versuche der Manipulation an dieser so wichtigen
       Befragung scharf“, sagte sie.
       
       [2][Die Gewerkschaft Ver.di] forderte allerdings umgehend einen Neustart
       der Befragung, der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion, Stefan Birkner,
       rief gar Ministerpräsident Stephan Weil auf, endlich einzugreifen und das
       Chaos rund um die Pflegekammer zu beenden.
       
       Die Pflegekammer leidet seit ihrer Gründung im Jahr 2017 unter erheblichen
       Widerständen, auch aus den Reihen der Pflegenden. Die demonstrierten immer
       wieder in verschiedenen Städten gegen die Zwangsmitgliedschaft in einer
       berufsständischen Vertretung, deren Nutzen ihnen nicht einleuchten wollte.
       
       ## Beitragsbescheide aus der hohlen Hand
       
       Dazu kam das ungeschickte Agieren der Kammer selbst: So wurden anfangs hohe
       Beitragsbescheide verschickt und Zahlungen eingefordert, ohne das
       tatsächliche Einkommen der Betroffenen zu berücksichtigen. Es folgten
       endlose Personalquerelen, Rücktritte von Vorstandsmitgliedern und ein
       Misstrauensvotum gegen die Kammerpräsidentin.
       
       [3][Mittlerweile ist die Kammer beitragsfrei.] Die Umfrage war auch ein
       Versuch, die Fronten zu beruhigen und zu eruieren, ob die Idee eine Chance
       hätte, wenn sie eben kein Geld kostet. Die Befürworter versprechen sich
       davon ein stärkeres Gewicht der Pflege in all den gesundheitspolitischen
       Entscheidungszirkeln, in denen sonst die Stimmen der Ärzteschaft und der
       Krankenkassen dominieren.
       
       Doch selbst um die Umfrage gab es weiteren Zoff: Das Pflegebündnis
       Niedersachsen und andere Branchenvertreter monierten, dass die
       entscheidende Frage „Wünschen Sie sich für die Zukunft eine beitragsfreie
       Pflegekammer in Niedersachsen?“ missverständlich gestellt sei. Schließlich
       sei dabei nicht klar, wogegen man hier denn nun sei, wenn man mit „Nein“
       stimmt: Gegen die Kammer oder gegen die Beitragsfreiheit? Mit der
       Datenpanne wird nun auch dieses Fass noch einmal aufgemacht.
       
       10 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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