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       # taz.de -- Literaturfestival Prosanova: Was bleibt von der Party?
       
       > Das Prosanova-Festival für junge Literatur ist auch digital vielfältig.
       > Geselliges Daydrinking wird durch virtuelle Autor*innen-Führungen
       > ersetzt.
       
   IMG Bild: Die sechsköpfige Festivalleitung steht vor dem Kraftakt, ihr Publikum vier Tage am Rechner zu halten
       
       Wenn am 11. Juni Nachmittags das größte Festival für junge deutschsprachige
       Literatur in Hildesheim beginnt, fährt niemand hin. Wie so viele
       Kulturveranstaltungen in diesem Jahr, findet auch das Prosanova 2020 im
       Netz statt und wartet dafür mit einem aufwendigen transmedialen Konzept
       auf.
       
       Die sechsköpfige, rein weibliche Festivalleitung steht vor dem Kraftakt,
       ein Homeoffice-müdes Publikum für volle vier Tage am Rechner zu halten und
       zugleich den wachsenden Überdruss an improvisierten Online-Events und
       ruckelnden Livestream-Lesungen in ein digitales Literaturerlebnis zu
       verwandeln.
       
       Denn wenn das [1][Prosanova weiter Festival sein will,] muss zusätzlich
       eine im literarischen Feld längst kultivierte Eventkultur in den digitalen
       Raum verfrachtet werden. Dafür stehen die zahlreichen Literaturfestivals,
       die sich zu Publikumsmagneten entwickelt haben. Ihre Erlebnisdichte
       schöpfen sie vor allem aus den hybriden Veranstaltungsformaten, die ein
       unvorhergesehenes Literaturereignis schaffen, Begegnungen mit den
       Autor*innen ermöglichen und das Publikum zusammenschweißen.
       
       ## Die Aura der Autorin fehlt
       
       In Hildesheim könnte diese Übertragungsleistung tatsächlich klappen, denn
       Experimentierfreudigkeit am literarischen Event ist dem Prosanova in seine
       kulturelle DNA eingeschrieben. Seit 2005 erfindet sich das Festival im
       Wirkungsbereich des Hildesheimer Literaturinstituts und der
       Literaturzeitschrift Bella triste alle drei Jahre neu. Auch für 2020 galt
       in langfristiger Planung: neues junges Team, neues Thema, ungewöhnliche
       Festivallocations, überraschende Formate. Dann kam Corona, und Prosanova
       musste sich innerhalb kürzester Zeit gleich noch mal neu erfinden.
       
       Was aber wird aus dem sozialen Erlebnis, wenn die Begegnungsstätte Festival
       zur digitalen Plattform zusammengefaltet wird? Wie kann das Publikum an der
       heißgeliebten Aura der Autorin teilhaben, wenn die körperliche Präsenz im
       Browserfenster zu großen Teilen kassiert wird? Und vor allem, was bleibt
       von der feuchtfröhlichen Geselligkeit, dem Daydrinking, der Party?
       
       Gerade auch in Hinblick auf bevorstehende literaturbetriebliche Großevents
       im Schatten von Corona – man denke an die [2][Frankfurter Buchmesse] –
       lohnt ein Blick auf die digitalen Formate, die das Prosanova-Festival
       aufbietet, um ein ganzheitliches Literaturerlebnis auch im virtuellen Raum
       zu erzeugen. Mit einem jungen und diversen Line-up, das sich auf die
       literarischen Experimente eingelassen hat, setzt das Prosanova-Team auf
       transmediale und publikumsaktivierende Formate.
       
       ## Theater aus der Drama-Hotline
       
       Nicht zuletzt, um Ermüdungserscheinungen zu verhindern, lösen sich einzelne
       Programmpunkte gleich ganz vom Bildschirm. Das Publikum wird durch
       Höranleitungen und literarische Audiowalks aus dem Sessel gehoben oder über
       gamifizierende Literaturerkundungen zum Mitmachen aktiviert. Wer noch
       intensiver in das Programm eingebunden werden will, ruft die Drama-Hotline
       an und bekommt ein Eins-zu-eins-Theater auf die Ohren.
       
       Umgekehrt wird gerade der Bildschirm als Rechercheinstrument und
       Arbeitsfläche künstlerisch produktiv gemacht. [3][Isabelle Lehn kann man
       in der Simultan-Literarisierungsmaschine] über einen geteilten
       Bildschirm gleich zweimal über die Schulter schauen, links, wie sie sich
       durchs Netz gräbt, rechts, wie sie über ihr digitales Wühlen schreibt. Auch
       kann die Festivalgemeinschaft [4][Dana von Suffrin] und Karosh Taha via
       Google Streetview durch München oder Zaxo folgen, um Romanorte mit der
       Autorin als Fremdenführerin zu erkunden.
       
       In den sogenannten Confession Rooms trafen sich einen Monat vor Beginn des
       Prosanova je zwei Autor*innen, um unliterarische bis literarische
       Geständnisse zu teilen. Während des Festivals kann man dann zum Beispiel
       Zeugin der multimedialen Korrespondenzen zwischen [5][Karen Köhler] und
       Florian Kessler werden.
       
       ## Digitales Publikumsgeflüster
       
       Die neuen Lesungsplattformen im Netz erlauben dabei ganz neue Formen des
       Publikumsaustauschs, der über Chatfunktionen neben den Bühnenfenstern zum
       Teil der Lesungserfahrung wird. Das digitale Publikumsgeflüster wird so für
       die Zuschauer*innen und Autor*innen sichtbar, aber eben auch anonymer und
       damit potenziell verletzender. Hier weitet die Festivalleitung ihre
       diskriminierungssensible kuratorische Praxis aus, indem der Festivaltalk
       unter anderem in den semiöffentlichen Raum einer moderierten Telegramgruppe
       verlegt wird. Dieser digitale Safer Space wird nicht zuletzt eingerichtet,
       um die Gefahr von diskriminierenden Kommentaren zu verringern.
       
       Inhaltlich steht das Festival einerseits ganz im Zeichen aktueller
       politischer Debatten: Unter dem Programmpunkt „Was bleibt“ haben
       Autor*innen wie Özlem Özgül Dündar eine Audiocollage produziert, die Texten
       verstorbener BIPoC-Personen und deren Erfahrungen mit Rassismus Raum geben.
       In diskursiven Formaten wird zudem über Chancengleichheit und
       Sichtbarkeiten eines überwiegend weißen Kulturbetriebs diskutiert.
       Andererseits bringt das Prosanova auch eine gute Portion Eskapismus mit,
       der über atmosphärische Klanginstallationen „Lyrik live from the Rabbit
       hole“ verspricht und Morgenmeditationen für das literaturverkaterte
       Publikum anbietet.
       
       Wer zum Ticket noch das Festivalkit mitbestellt, erhält einen Karton voller
       Fan-Artikel, um so die Zugehörigkeit zur Festivalgemeinschaft zu
       zelebrieren. Wenn man den Alltag schon nicht für ein buntes
       Prosanova-Wochenende in Hildesheim hinter sich lassen kann, so kann man
       diesen dank Prosanova-T-Shirt, Prosanova-Notizblock,
       Prosanova-Streichhölzer und Prosanova-Klebetattoos wenigstens
       ästhetisieren.
       
       11 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sonja Lewandowski
       
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