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       # taz.de -- Leben in Corona-Zeiten: Wir halten Disziplin, sie feiern
       
       > Seit Lindner-Gate gibt es giftige Gedanken: Wir vernünftig Braven
       > ermöglichen den Reichen ihr Halligalli-Dasein.
       
   IMG Bild: Maßvoll genießen!
       
       Heute in vier Wochen ist der erste Sommerferientag. Schnappatmung. Urlaub?
       Bungalow. Kinder zu den Großeltern? Geht nicht. Oder doch …? [1][Nach den
       letzten fünfzehn Wochen noch mal sechseinhalb Wochen obendrauf?] Wie? Wer?
       Und die 52 Wochen danach? Der Schulleiter schreibt: „Einige Wissenschaftler
       und Bildungspolitiker prognostizieren auch für das kommende Schuljahr noch
       keinen regulären Schulstart.“ Das Blut sackt in die Füße.
       
       Derweil kaufen Freunde panisch die letzten ruinösen Datschen in der
       Uckermark, auch ich jage auf Ebay Zweitkinderrädern und aufblasbaren Kajaks
       hinterher, während die Preise dafür durch die Decke gehen.
       
       Lauterbach, Meyer-Hermann und Sundermeier bei Lanz. Längst sind sie
       Hintergrundrauschen, das Hirn verarbeitet kaum noch Informationen, es will
       Gummibärchen. „Original Bärengarten zuckerfrei“ von Dr. C. Soldan aus der
       Apotheke verspricht Abhilfe. Schon während Lanz abmoderiert, rumort es im
       Bauch. In dieser Nacht habe ich ausgiebig Gelegenheit, nicht zu schlafen,
       sondern zu psychosomatisieren: Diesen Corona-Scheiß hält kein
       Gastrointestinaltrakt mehr aus, wie mag’s da erst ums zarte Seelchen
       bestellt sein.
       
       Am nächsten Morgen liegt die leere Bären-Tüte noch auf dem Tisch. Ein
       knallroter Warnhinweis klebt vorne drauf: „Maßvoll genießen! Zuckerfrei
       verträgt nicht jeder. Kann abführend wirken ab einer Menge von ca. 5
       Bärchen.“ Das war’s mit mir und Dr. C. Soldan. Erstens das fehlende
       Sternchen in „jede*r“, zweitens diese Fünf-Bären-Obergrenze. Es ist ein
       Hohn.
       
       Ich buche einen 30-Minuten-Besuch in St. Agnes für mich und die Kinder.
       Geraume Zeit dachte ich ja, ich brauche das alles nicht mehr, die Kunst,
       die Musik, die Konzerte, das Theater. Jetzt aber merke ich, wie absolut
       nötig er ist, dieser Möglichkeitsraum der Kultur, dieses beherzte
       Rauskippen aus dem So-Sein, diese spielerische, aber sture Behauptung von
       „Es könnte auch …“.
       
       ## Es ist ein unfaires Spiel
       
       Elmgreen & Dragset haben einen Tennisplatz in die Ex-Kirche gesetzt. Das
       Spiel scheint vorbei, ein kleiner Junge liegt geschlagen auf dem roten
       Tartan, ein deutlich größerer Junge auf der anderen Seite des Netzes wendet
       ihm den Rücken zu, den Pokal in den Händen. Es ist ein verdammt unfaires
       Spiel gewesen.
       
       Johann König, der Star-Galerist, kommt aufgekratzt mit einigen
       Besucher*innen in den Raum, begrüßt auch uns mit freundlichem Hallo. Weder
       er noch die Neuankömmlinge tragen Maske. Die Kinder beschweren sich gleich
       unten am Counter. Es sei genügend Platz, heißt es, die Maske sei in der
       Galerie nicht zwingend vorgeschrieben.
       
       In der Mail, die unser appointment als gebucht bestätigte, stand
       allerdings: „Access will only be granted to visitors wearing a face mask.“
       Draußen vor dem Eingang parkt jetzt ein nachtblauer Porsche aus Stuttgart,
       mit „vier Gaslöchern“, wie das Kind staunend feststellt.
       
       Ich spüre meine Kiefer mahlen, instinktiv verschalte ich die Maskenlosen
       mit den Porschebesitzern. Merke, dass sich spätestens seit Lindner-Gate
       giftige Gedanken einschleichen: Die mit dem Geld und der Macht setzen sich
       über die Regeln hinweg, wir vernünftig Braven ermöglichen ihnen mit unseren
       geblümten DIY-Masken ihr Halligalli-Dasein. Ich weiß, das ist die
       Petrischale der Verschwörungsfantasie.
       
       Gleich um die Ecke in der Ritterstraße steht ein brutal ausgebrannter
       weißer BMW. Schadenfreude flammt in mir auf. Schon wieder schäme ich mich.
       Ein Halbstarker sagt zu den Kindern: „Nisch nachmachen, was isch jetzt
       mach!“ Dann springt er auf die aufgerissene Kühlerhaube, wirft sich in
       Gangsterpose und lässt sich von seinem Buddy fotografieren, in der einen
       Hand einen Joint, in der anderen einen Aloe-Vera-Drink in Einwegplastik.
       Ach, wütete doch das Virus gegen den Fetisch Auto.
       
       28 May 2020
       
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