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       # taz.de -- Die höchst wichtige Glaubensfrage: „Nee, Mama, was GLAUBST du?“
       
       > Sind Tiger stärker als Löwen? Fallen Steine schneller als Wassertropfen?
       > In der Welt des 5-Jährigen geht es um den eigenen Kopf.
       
   IMG Bild: Was, glauben Sie, wächst schneller: Birken oder Ahorn?
       
       Für den Fünfjährigen ist gerade alles – die Welt und sämtliche Existenzen
       darin, vermutlich eingeschlossen seiner eigenen – eine einzige große
       Glaubensfrage. Manche Fragen sind einfach, die kann ich beantworten. „Was
       glaubst du, ist ein Löwe schneller oder ein Mensch?“ – „Ein Löwe.“ Meistens
       bekommt der Unterlegene aus der ersten Frage dann vom Kind noch eine neue
       Chance: „Und was glaubst du, ist eine Schnecke schneller oder ein Mensch?“
       Die Schnecke wiederum gewinnt dann die „Wer-frisst-mehr-Frage“ gegen den
       Marienkäfer. Der Marienkäfer … und so weiter.
       
       Manche Fragen sind schon ein bisschen schwieriger, aber noch nicht
       unmöglich. „Was glaubst du, wächst eine Birke schneller oder ein Ahorn?“
       „Hm, frag mal Papa, der hat so ein Baum-Buch.“ „Was glaubst du, fällt ein
       Regentropfen schneller oder ein Stein?“ Ich glaube an den Stein.Das Kind
       fragt weiter. „Was glaubst du, ist ein voll besetzter Bus schneller oder
       ein voll besetztes Postauto?“ „Das kommt drauf an, auf den Motor und so …“
       Aber „kommt drauf an“ will das Kind nicht hören. „Nee, Mama, was GLAUBST
       du?“
       
       Und manche Fragen sind richtig knifflig. „Was glaubst du, sind zwei Löwen
       stärker oder zwei Tiger?“ „Kommt auf den einzelnen Tiger an. Oder den
       Löwen.“ „Mama, nein, was GLAUBST du?“ Ich soll mich schon entscheiden,
       Tiger oder Löwe, es kann nur einen geben.
       
       ## Das Leben als Quizduell
       
       Kennt jemand noch die App Quizduell? Ich glaube, die hat es sogar als
       Ratesendung ins Fernsehen geschafft. Jedenfalls ist mein Leben gerade eine
       Art Quizduell mit meinem Kind, bloß dass es nur zwei Antwortmöglichkeiten
       gibt statt vier. Und dass ich die App nicht deaktivieren kann. Und keine
       Belohnung bekomme, sondern bloß immer die nächste Frage.
       
       Wenn der Kleine seinen großen Bruder zu Löwen, Tigern und Postautos
       befragt, kommt er meist genau eine Frage weit. Dann knallt der Zehnjährige
       ihm genervt die Zimmertür vor der Nase zu, „MANN, frag Mama!“ Der Kleine
       fragt unverdrossen durch die geschlossene Tür weiter: „Nee, sag mal, was
       glaubst du denn …“
       
       Das Kind sortiert sich die Welt zurecht und interessiert sich nicht
       sonderlich dafür, was man sicher weiß oder nicht weiß. Auch wenn ich nicht
       weiß, ob die Birke schneller wächst als der Ahorn, kann ich ja wohl eine
       Meinung dazu haben! Hat er ja schließlich auch: Er glaubt an die Birke, die
       ist nämlich sein „liebster, liebster Lieblingsbaum“.
       
       Es gibt ja diesen etwas blöden, neunmalklugen Spruch „Glauben heißt nicht
       wissen!“, mit dem man schon in der Schule zurechtgestutzt wurde: „Dann
       fragen wir doch mal den Nachbarn zur Linken, ob er vielleicht WEIß, was das
       Entscheidende an der Glorious Revolution von 1688 war / warum die
       Bluter-Krankheit rezessiv vererbt wird / warum die Banane krumm ist?“
       
       Okay, bei manchen Dingen gibt’s nichts groß zu glauben, eins und eins
       werden wohl immer zwei sein, und vermutlich ist es gut, wenn man das weiß
       (wobei, der Kleine fragte den großen Bruder neulich durch die Zimmertür,
       was er denn GLAUBE, ob zehn Trilliarden plus dreißig Billionen mehr seien
       oder zehn Milliarden plus …). Ich finde, es ist eine ziemlich sympathische
       Haltung, die der Fünfjährige da an den Tag legt. Glauben heißt nicht
       wissen? Ihm doch egal. Kann doch trotzdem jeder seine Meinung haben. Und ob
       es jetzt stimmt oder nicht, dass die Birke schneller wächst als der Ahorn –
       da kann dann der Experte aus dem Baum-Buch immer noch seinen Senf
       dazugeben. Aber erst mal hat er eine Meinung und ich hoffentlich auch, und
       die ist es wert, gehört zu werden.
       
       Bei Erwachsenen ist es mitunter ja eher so, dass sie auch ganz schön viel
       glauben und gar nicht so viel wissen. Nur geben sie das nicht mehr so gerne
       zu. Sie sagen dann lieber „Ich glaube, zu wissen …“ oder behaupten etwas,
       ganz ohne zu wissen. Mach ich übrigens auch. Und jetzt behaupte ich mal,
       der Fünfjährige hat da etwas viel besser begriffen. Geht ja oft gar nicht
       darum, etwas zu wissen. Sondern einfach darum, dass man sich seinen eigenen
       Kopf macht.
       
       14 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
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