URI: 
       # taz.de -- Comedian Mae Martin über Netflix-Serie: „Ich bin nicht so verpeilt“
       
       > Mae Martin ist Comedian aus Kanada und gender-fluid. In der Netflix-Serie
       > „Feel Good“ spielt Martin sich selbst – und auch wieder nicht.
       
   IMG Bild: „Entscheidend bei ‚Feel Good‘ ist die emotionale Wahrheit“, sagt Mae Martin
       
       taz: Mae Martin, in Ihrer Serie „Feel Good“ [1][spielen Sie eine Version
       Ihrer selbst]: Stand-up-Komiker*in Mae, aus Kanada, in Sachen
       Gender-Identität nicht festgelegt, mit einer Drogenvergangenheit ringend,
       in England lebend. Wo ziehen Sie die Grenze, wenn es darum geht, Ihr
       eigenes Leben komödiantisch zu verwursten? 
       
       Mae Martin: Es gibt nicht diese eine Grenze. Aber selbstverständlich gibt
       es Themen, Konflikte und Personen in meinem Leben, die ich außen vor lasse,
       weil sie in meiner Comedy nichts verloren haben. Entscheidend bei „Feel
       Good“ ist allerdings die emotionale Wahrheit und dass meine Figur Mae
       absolut authentisch wirkt. Und dafür kann oder muss ich auf ganz
       spezifische Ereignissen und auch Menschen aus meinem Leben zurückgreifen,
       natürlich verfremdet und ausgeschmückt. Dadurch wird die Geschichte
       spezifisch statt austauschbar und atmet Wahrhaftigkeit. Aber gleichzeitig
       bekommt sie eine linearere Struktur, eine weniger freudlose Atmosphäre und
       mehr Pointen als das echte Leben.
       
       Sie haben schon in Ihrer Jugend mit Comedy begonnen, standen in
       Comedy-Clubs auf der Bühne und schrieben für Sketch-Shows. Wann fassten Sie
       den Entschluss, sich an einer eigenen Serie wie „Feel Good“ zu versuchen? 
       
       Den Traum von einer eigenen Fernsehserie hatte ich schon eine ganze Weile.
       Nicht zuletzt, weil es mir fehlte, mit anderen Leuten zusammenzuarbeiten,
       zu spielen und zu improvisieren. Denn das kannte ich durchaus, schließlich
       habe ich meine Karriere mit Sketch-Comedy begonnen. Aber in den vergangenen
       Jahren lag der Fokus eben auf Stand-up – und das ist eine ziemlich einsame
       Angelegenheit. Wann immer ich also in den letzten zehn Jahren zwischen
       meinen Stand-up-Auftritten Zeit hatte, habe ich Ideen für Fernsehserien
       gepitcht. Gefühlt hatte ich sicherlich eine Million Ideen, aber nichts
       fruchtete.
       
       Warum nicht? 
       
       Die meisten meiner Ideen waren einfach nicht gut, denke ich. Und viel zu
       seltsam. Das reichte von Mordgeschichten bis hin zu Science-Fiction. Aber
       vor allem würde ich im Rückblick sagen: Ich war der Herausforderung einfach
       noch nicht gewachsen.
       
       Wie haben Sie den richtigen Ansatz dann doch noch gefunden? 
       
       Die Idee für „Feel Good“ entwickelte sich aus einem meiner
       Stand-up-Programme. In „Dope“ ging es um Sucht und um Liebe und wie beides
       über Kreuz laufen kann. Jemand von dem britischen Sender Channel 4 sah
       meine Show und sprach mich danach an, ob ich nicht Lust hätte, daraus eine
       fiktionale Serie zu entwickeln. Und so haben mein Koautor Joe Hampson und
       ich angefangen, die Figuren, ihre Welt und einen Handlungsbogen zu
       entwickeln.
       
       Was hat Sie dazu inspiriert, diesen Weg einzuschlagen? [2][Vorbilder in
       Gestalt weiblicher oder LGBT-Komiker*innen] waren in der männlich
       dominierten Comedy-Welt seit jeher rar. 
       
       Das stimmt, das Ungleichgewicht in der Branche war nie zu übersehen. Aber
       wer wollte, fand auch früher schon tolle Frauen und queere Menschen, die
       andere Perspektiven eröffneten als die weißer heterosexueller cis Männer.
       Schon als Kind liebte ich Joan Rivers, Ellen DeGeneres, Lucille Ball oder
       Bette Midler. In meiner Jugend fand ich viele weibliche Vorbilder auf den
       Comedy-Bühnen von Toronto. Oder auch im Fernsehen, dank „Saturday Night
       Live“, „Mad TV“ oder „French & Saunders“. Es mangelte mir nicht an starken,
       brüllend komischen Frauen, die ich bewundern konnte.
       
       Wird die Comedy-Szene tatsächlich diverser? 
       
       Ohne jeden Zweifel. Ich glaube, dass kaum noch jemand Zweifel daran hat,
       dass es in der Comedy-Welt Platz für jede*n gibt. Und es zeigt sich ja
       auch immer mehr, dass Geschichten, die unglaublich spezifisch und
       individuell sind, trotzdem eine große Zahl von Leuten ansprechen können,
       selbst wenn deren Lebenswelt eine ganz andere ist. Was eigentlich keine
       Überraschung sein dürfte, schließlich war das ja auch andersherum immer
       schon so. Ich habe schließlich auch mein Leben lang Komiker wie George
       Carlin, Jerry Seinfeld oder Gary Shandling geliebt und mich in sie
       hineinversetzt, obwohl ich kein Hetero-Mann bin. Warum also sollte es
       anderen Menschen bei mir nicht gelingen, nur weil sie nicht queer sind?
       
       Stichwort Veränderungen: Welchen Einfluss hatte die #MeToo-Bewegung auf die
       Comedy-Szene, sowohl auf als auch hinter den Bühnen? 
       
       Auch diesbezüglich tut sich etwas, würde ich sagen. Allerdings sehr
       langsam. Beim Just For Laughs Festival in Montreal zum Beispiel hingen
       hinter der Bühne und in den Garderoben zuletzt Flugblätter mit
       Verhaltensregeln, wo darauf hingewiesen wurde, dass sexuelle Belästigung,
       auch verbaler Art, nicht toleriert wird. Dass so etwas überhaupt
       schriftlich festgehalten werden muss, ist natürlich irrsinnig. Aber
       gleichzeitig ist es eben ein Fortschritt, dass solche Regeln klar und
       deutlich sichtbar gemacht werden und das Thema endlich ernst genommen wird.
       
       Wird es das denn? Auch vonseiten des Publikums? Sind sexistische und
       homophobe Gags bei Open-Mic-Nights nicht immer noch der größte Renner? 
       
       Die Frage ist natürlich berechtigt, und ich verstehe, warum Sie sie mir als
       queerer junger Frau stellen. Aber ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, wenn
       ich keine Lust habe, sie zu beantworten. Ich habe in den letzten Jahren oft
       das Gefühl gehabt, dass zu viele Geschichten über Homophobie und Sexismus
       zur Folge haben, dass über nichts anderes geredet wird. Und das ist dann
       oft kontraproduktiv. Mir wäre es lieber, sich auf das Positive zu
       konzentrieren.
       
       Einverstanden. Dann lassen Sie uns noch einmal auf Sie persönlich
       zurückkommen. Ist es nicht manchmal problematisch, wenn sicherlich ein
       Großteil des Publikums Ihre Bühnen- oder Serien-Figur mit der echten Mae
       Martin gleichsetzen? 
       
       Problematisch nicht, das würde ich nicht sagen. Meine Bühnen-Persona und
       ich sind ohnehin relativ deckungsgleich, deswegen darf man uns da gerne
       gleichsetzen. Was die Mae angeht, die in „Feel Good“ zu sehen ist, liegt
       der Fall ein wenig anders. Die Figur ist doch deutlich überhöht, weswegen
       ich manchmal klarstellen muss, dass ich im echten Leben nicht annähernd so
       chaotisch und verpeilt bin. Denn da machen sich einige Leute schon manchmal
       Sorgen.
       
       In der Serie wirkt Mae nicht nur chaotisch, sondern bisweilen auch ein
       wenig unsicher oder schüchtern. Man staunt dann fast, wie Mae anders auf
       der Bühne herüberkommt … 
       
       Ich höre tatsächlich auch häufig, dass ich schüchtern oder gar verletzlich
       wirke, doch so empfinde ich mich selbst eigentlich gar nicht. Vermutlich
       bin ich nie die Lauteste im Raum und auch immer sehr selbstironisch. Aber
       an Selbstvertrauen hat es mir noch nie gemangelt, deswegen muss ich mich
       beim Gang auf die Bühne auch nie überwinden. Ich bin vielleicht heute nicht
       mehr ganz so extrovertiert wie als Teenager, aber Aufmerksamkeit liebe ich
       keinen Deut weniger als andere Comedians.
       
       Durch die Themen, die Sie in Ihrer Comedy verhandeln, gewinnen Ihre
       Programme auch eine echte Relevanz. Spüren Sie diesbezüglich eine gewisse
       Verantwortung? 
       
       Den Gedanken, dass man mich womöglich als Vorbild sehen könnte, finde ich
       echt unglaublich. Und toll, vor allem wenn es um Gender-Fluidität geht,
       denn da mangelt es ja noch enorm an Sichtbarkeit. Trotzdem empfinde ich es
       ausschließlich als meine Pflicht, lustig, unterhaltsam und ehrlich zu sein.
       Ich mache mir keinen Druck, mein Publikum weiterbilden oder inspirieren zu
       müssen, sondern will bloß jemanden zeigen, der Fehler hat und durchs Leben
       stolpert wie alle anderen auch.
       
       Dieses öffentliche Auseinandersetzen mit sich selbst und den eigenen
       Konflikten, ist das eigentlich auch therapeutisch? 
       
       Wie gesagt: Meine eigentliche Motivation ist es, lustige Geschichten zu
       erzählen und die Leute zum Lachen zu bringen. Aber natürlich ist es ein
       netter Nebeneffekt, dass es eine kathartische Wirkung haben kann, über
       Dinge zu sprechen, die man sonst vielleicht eher schamhaft verschweigt.
       Allerdings ist Comedy kein Ersatz für eine*n gute*n Therapeut*in, das
       kann ich Ihnen versichern!
       
       16 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.theguardian.com/stage/2019/nov/20/comics-real-life-characters-larry-david
   DIR [2] /Carolin-Kebekus-ueber-Pussy-Terror-TV/!5602088
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Patrick Heidmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Kanada
   DIR Gender
   DIR Schwerpunkt LGBTQIA
   DIR Netflix
   DIR Comedy
   DIR TV-Serien
   DIR Bundeszentrale für politische Bildung
   DIR Musik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Böses Internat: Gegenwart auf höchstem Niveau
       
       In der Netflix-Serie „Wayward“ geht es um Erziehungshorror in einem Milieu,
       das sich selbst für gut hält. Eigentliches Ereignis ist aber Mae Martin.
       
   DIR Neues Videoformat der bpb: Jung, politisch, unerreicht
       
       Die Videoreihe „Abdelkratie“ soll junge Menschen online abholen – für die
       Bundeszentrale für politische Bildung mit Printfokus eine Herausforderung.
       
   DIR Yves Tumor „Heaven to a Tortured Mind“: Gehörnter Klingonen-Satyr
       
       Verwandlungskünstler wiederaufgetaucht: US-Chamäleon Yves Tumor und sein
       neues Album „Heaven to a Tortured Mind“.
       
   DIR Comedykünstler Tedros Teclebrhan: Der verhakt sich im Hirn
       
       Tedros Teclebrhan mach sich über den Integrationstest lustig und erneuert
       den deutschen Humor. Am Freitag geht er auf Tournee. Zeit für einen Besuch.