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       # taz.de -- Anschlag auf die heile Welt 
       
       > Mitreißende Musik, spannungsgeladene Dramaturgie, klare Rollen: Im
       > aktuellen Beitrag der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ geht es
       > um einen Anschlag im Vorfeld des G20-Gipfels in Hamburg. Also um schlimme
       > Ausschreitungen, gefährliche Linksextremisten, eine unangenehm
       > affektierte Journalistin mit blöden Fragen – und eine
       > freundlich-bodenständige Polizeidirektorenfamilie
       
   IMG Bild: Welchem Menschenschlag die dunklen Gestalten enstammten, die seine zwei Autos angezündet haben, konnte sich der sympathische Polizeidirektor in „Aktenzeichen XY“ natürlich schon gleich denken Szenenbild: ZDF
       
       Von Katrin Seddig
       
       Als Verfasserin eines demnächst erscheinenden fiktiven Werkes über die
       G20-Tage in Hamburg bin ich stets an anderen solchen Werken interessiert,
       so auch am aktuellen Beitrag der nützlichen Sendung „Aktenzeichen XY ...
       ungelöst“. Nun könnte man meinen, dass die für diese Sendung produzierten
       Beiträge eine nüchterne Darstellung der behandelten Kriminalfälle seien,
       aber nein, so ist es nicht, vielmehr werden uns hier kleine Stücke
       deutscher Filmkunst präsentiert, denen es an nichts fehlt: gute Darsteller,
       spannungsgeladene Dramaturgie, mitreißende Musik. Denn der Zuschauer muss
       erst einmal mitfühlen können, bevor er sich zur uneigennützigen
       Detektivarbeit bereit erklärt. Rechtmäßige Empörung in ihm zu erzeugen,
       auch das ist Aufgabe der Filmproduktionen der Sendung „Aktenzeichen XY...
       ungelöst“.
       
       Ein gelungenes Beispiel stellt für mich ein Beitrag in der Sendung vom 3.
       Juni dieses Jahres dar, wo es um eine Straftat im Zusammenhang mit dem
       G20-Gipfel geht.
       
       „In Erinnerung geblieben sind vor allem die erbitterten Proteste, die
       gewalttätigen Ausschreitungen im Schanzenviertel.“ Nun, da hat der Rudi
       Cerne es schon gut zusammengefasst, was die Proteste zum G20-Gipfel, die
       erbitterten, eigentlich ausmachte: „die gewalttätigen Ausschreitungen im
       Schanzenviertel“. Falls jemand gedacht hat, es wäre, zum Beispiel, eine
       70.000 Menschen starke friedliche Demonstration gewesen, nein, also das war
       es nicht.
       
       Nun aber zum Film: Es beginnt damit, dass eine recht unangenehme
       Journalistin einen geduldigen, freundlichen Polizeidirektor (das spätere
       Opfer) blöd befragt. Man sieht sofort, sie steht nicht auf seiner Seite.
       „Nicht alle finden diese massiven Kontrollen gut“, sagt sie affektiert, und
       man möchte dieser eleganten Blonden mit den Perlenohrringen gleich eine
       reinhauen. Der freundliche Polizeidirektor aber bleibt auf bewundernswerte
       Weise sachlich und freundlich.
       
       In der nächsten Einstellung fährt er in sein Carport ein, wo er seine
       bodenständige Tochter (in Jeans und Chucks, ohne Perlenohrringe) begrüßt:
       „Hallo Süße!“ Sie fährt zu Astrid, wegen der Prüfungsvorbereitungen
       (löblich). Die Ehefrau wartet schon hinter der Gardine, der Tisch ist
       gedeckt, im Radio läuft just eine Meldung über die erfolgreiche
       Polizeiarbeit ihres Gatten. Beim Essen äußert er sich sorgenvoll wegen der
       Angriffe im Internet.
       
       Wir Zuschauer sind bereits auf vielfältige Weise gewarnt, aber noch mehr
       gewarnt sind wir, als Dunkelheit über uns kommt, bedrohliche Musik. Zwei
       dunkle Kapuzengestalten nähern sich dem Carport und legen Brandsätze unter
       die Autos. Der Polizeidirektor springt aus seinem Bett auf: „Da brennt
       was!“ „Wer macht denn sowas?“, fragt später die Ehefrau. „Das ist
       politisch“, sagt er (verbittert). „Aber wieso denn?“ (Sie begreift es
       nicht.) „Ich kann es mir schon denken.“ (Er weiß Bescheid.)
       
       Im Polizeirevier zeigt es sich, dass er es sich doch nicht denken kann,
       denn er fragt seinen Kollegen, der ihm ein Bekennerschreiben vorliest: „Was
       sind ’n das für Leute?“– „Anonyme natürlich.“
       
       Das Bekennerschreiben wird von verzerrter Stimme vorgelesen, während es von
       anonymen Händen in eine Tastatur getippt wird: Heute Nacht hat es Buuum
       gemacht. Nämlich in Polizeidirektor Ennos Carport. Die Autos wurden durch
       Feuer vernichtet und die Nachtruhe des Menschenjägers gestört.
       
       Ich sinne irritiert über die Ausdrucksweise des anonymen Schreibers nach.
       Währenddessen diskutieren die Polizisten: „Habt ihr ’ne Ahnung, wer
       dahinter steckt? – Es kommen mehrere Gruppen in Frage. – Ich nehme an, der
       Absender ist nicht zu ermitteln, oder? – (Müdes Lächeln) Keine Chance. –
       Der Verweis auf den G20-Gipfel nächstes Jahr ... – Ja, das macht mir auch
       Sorgen. – ’Die Häuser und die Autos der Polizeiführer sind für uns legitime
       Ziele‘. – Man beachte die Häuser ... (Ja, man beachte die Häuser.) – Aber
       wenn Häuser brennen, können Menschen auch sterben (Für die
       Fernsehzuschauer, die es immer noch nicht verstanden haben).“
       
       Wieder bedrohliche Musik, diesmal anonyme weibliche Hände, vor einer Wand
       voller großer Blumenscherenschnitte (weibliche Umgebung), sie tippen ein
       Bekennerschreiben zu einem Anschlag auf die Messehallen. Schnitt, die
       blonde Journalistenschlampe mit den Perlenohrringen erzählt vor den
       Messehallen was vom Anschlag, man weiß nicht genau, welche Rolle sie
       spielt, aber verdächtig kommt sie einem schon vor.
       
       Da tritt auch schon die zweite Journalistin auf, eiskalt ist die, zeigt
       keine Emotionen, sie interviewt in einem Büroraum „Herrn Müller“, den
       „Aktivisten“. „Herr Müller“ ist erst unter einem Balken unkenntlich
       gemacht, dann sieht man aber doch irgendwie verschwommen sein Gesicht, das
       ist wichtig, weil er später nämlich geschnappt wird und wir dieses Gesicht
       dann wiedererkennen können. 
       
       Er erzählt was von legitimem Widerstand etc. Sie stellt irgendwann die
       entscheidende Frage: „Wo sind die Grenzen?“ Im veröffentlichten Interview
       lautet die Antwort: „Wenn man sich gegen die Bevölkerung richtet.“ Das
       schien den Filmproduzenten vielleicht nicht so der Burner zu sein, darum
       nutzten sie einfach die nächste Antwort für den Film, ein bisschen
       Kreativität kommt einem Kunstwerk immer zugute.
       
       Im Polizeirevier sieht man sich derweil Bilder von abgebrannten Teilen der
       Messehallen an. Wieder sinnt man über die Täter nach, diesmal ist man schon
       ziemlich weit gekommen. „Habt ihr einen konkreten Tatverdacht?“ – „Konkret
       nicht, aber es handelt sich mit Sicherheit um eine oder mehrere linke
       Gruppierungen.“
       
       Chapeau! Das ist doch was. Eine oder mehrere linke Gruppierungen! Und dann
       kommt auch noch just der wichtige Beschluss, der ihnen erlaubt, die Wohnung
       von „Herrn Müller“ zu durchsuchen. „Wenn ihr da reingeht, rechnet mit
       allem“, sagt der Chef zu den Polizisten. Schnitt, sehr bedrohliche Musik,
       Polizisten schleichen mit gezückten Waffen durch ein nachtdunkles
       Treppenhaus, rammen eine Wohnungstür ein, reißen einen schlafenden Mann vom
       Sofa, legen ihm Handschellen an, man erkennt sofort den unkenntlich
       gemachten Mann vom Interview wieder – „Herrn Müller“. 
       
       Jetzt steht er blöd da und guckt verschlafen aus der Wäsche. Die Wände sind
       voller Gemälde. Gemälde hier, Blumenscherenschnitte da, so sind sie, die
       linken Terroristen. Die netten Polizisten nehmen dem Verdächtigen die
       Handschellen auf Wunsch gleich wieder ab, aber er, anstatt das zu würdigen,
       witzelt die armen Polizisten an: „... Mach dir mal nicht ins Hemd, ey!“
       (Man könnte sehr gut verstehen, wenn die netten Polizisten jetzt etwas
       strenger mit ihm umgingen).
       
       Ich kürze mal ab: Sie finden einen Zettel in seiner Wohnung, mit Daten vom
       Polizeidirektor, düstere Musik, ein Filmzusammenschnitt, ein bisschen
       G20-Schanzenrandale, und dann sehen wir, wie die Frau vom Polizisten sich
       dies auf ihrem Laptop ansieht. Sie ist fassungslos: „Ist ja Wahnsinn, und
       so was bei uns in Hamburg!“ Wo, frage ich mich kurz, hat diese
       Filmpolizistenehefrau bis dahin gelebt, dass sie sich so wundert? Ihr Mann
       kommt mit neuem Auto in den Carport gefahren, ein neuer Zweitwagen steht
       auch schon daneben. Die Frau erwartet ihn, sorgenvoll seufzend an der Tür,
       mit den bedeutungsschweren Worten: „Das war ja schlimm.“
       
       Also, wenn das nicht großes Kino ist, dann weiß ich nicht, die Sendung hat
       einen neuen Fan – mich. Gesucht wird übrigens jemand, der etwas über den
       Zettel weiß.
       
       16 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Seddig
       
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