URI: 
       # taz.de -- Bachmannpreis coronabedingt virtuell: Neue Gesichter lesen im Stream
       
       > Der Bachmannpreis startet nach einigem Zögern am 17. Juni seine erste
       > rein virtuelle Ausgabe. Schwimmen im Wörthersee fällt dieses Jahr aus.
       
   IMG Bild: Hält die Eröffnungsrede für den Bachmannpreis: die Autorin Sharon Otoo, Preisträgerin von 2016
       
       Für Helga Schubert ist es der zweite Anlauf. Vor vierzig Jahren war sie
       schon einmal zum Wettlesen in Klagenfurt eingeladen, damals noch als
       Bürgerin der DDR. Dann aber verweigerte man ihr die Ausreise, auch weil
       „der Antikommunist Marcel Reich-Ranicki“ (steht so in der Stasi-Akte zum
       Vorgang) Juryvorsitzender war. Ab 1987 – da war Reich-Ranicki nicht mehr
       dabei – durfte sie drei Jahre lang immerhin als Jurorin nach Klagenfurt
       fahren.
       
       Als Vorlesende gibt sie jedoch in diesem Jahr, mit achtzig, ihr Debüt. Im
       kleinen Porträtfilm, den man im Netz sehen kann, staunt sie selbst darüber
       am meisten und feiert die Einladung als kleinen Sieg über die Diktatur,
       „zumal die, die es mir damals verboten haben, alle schon tot sind“.
       
       Mit dem kleinen Haken, dass Helga Schubert auch beim zweiten Anlauf nicht
       anreisen darf. Wegen Corona war der seit 1976 stattfindende Wettbewerb
       zunächst sogar ganz abgesagt worden.
       
       Für die Verantwortlichen schien eine Verlegung der Veranstaltung ins Netz
       zunächst nicht vorstellbar. Zu sehr sahen sie die [1][Bachmann-Tage] vom
       Ort und seinen Traditionen geprägt, vom Schwimmen im Wörthersee bis zum
       Public Viewing im Lendhafen. Das Ganze ist nicht zuletzt ein alljährlicher
       Literaturbetriebsausflug, es sind nicht nur die Vorlesenden und die Jury,
       sondern neben interessiertem Publikum stets auch zahlreiche Lektor*innen
       und Kritiker*innen vor Ort.
       
       ## Längst eine multimediale Veranstaltung
       
       Gegen den Absage-Entscheid protestierten aber Teile der Jury, und zwar
       vehement. Schließlich sind die Bachmann-Tage längst eine multimediale
       Veranstaltung. Der ORF sendet live, hat sich nach heftigen Protesten gegen
       die Ankündigung, die Sache aus Kostengründen zu streichen, vor ein paar
       Jahren noch einmal sehr ausdrücklich zu ihr bekannt.
       
       Und dann ist der primäre Ort der Erstrezeption schon lange das Netz:
       Nirgends werden die Lesungen wie die Jury-Diskussionen so genau beobachtet
       und instantan kommentiert wie in Blogs und vor allem auf Twitter (Hashtags:
       #tddl und #tddl20).
       
       So wurde nach den Jury-Protesten und ein wenig Hin und Her die Absage
       wieder gecancelt und ein Konzept für eine [2][virtuelle Bachmann-Version]
       ausgearbeitet. Das sieht nun so aus, dass die Lesungen vorab aufgezeichnet
       wurden; die Jury-Mitglieder beobachten und diskutieren dann live
       miteinander: jede und jeder von ihnen separat, das Bild aber nicht von
       einer Webcam, sondern von kleinen Profikameras übertragen.
       
       Im theaterbühnenhaft eingerichteten Studio in Klagenfurt sind neben dem
       Moderator Christian Ankowitsch nur die zusätzlichen Kommentator*innen Julya
       Rabinowich und Heinz Sichrowsky. Eröffnet wird die Veranstaltung am
       Mittwoch mit einer Rede der Bachmannpreis-Gewinnerin von 2016, der
       [3][Schwarzen Autorin Sharon Dodua Otoo].
       
       ## Viele unbeschriebene Blätter
       
       In der Auswahl sind neben der Veteranin Helga Schubert viele eher
       unbeschriebene Blätter. Viel Aufmerksamkeit bekommt schon vorab Hanna
       Herbst, Ex-Vize der österreichischen Ausgabe von Vice, ab Herbst in
       führender Funktion in Jan Böhmermanns neuer, im ZDF-Hauptprogramm laufender
       Sendung. Im Porträtfilm singt sie, ziemlich selbstreflexiv und ganz lustig.
       
       Meral Kureyshi, die als Kind aus Ex-Jugoslawien in die Schweiz kam, bringt
       die Sache mit dem Migrationshintergrund im Porträt prägnant auf den Punkt:
       „Deutsch ist meine Muttersprache. Meine Mutter spricht kein Deutsch.“ Egon
       Christian Leitner ist ein eigenwilliger Außenseiter, der seit Jahren an
       seinem mehrtausendseitigen, autobiografisch geprägten Projekt eines
       „Sozialstaatsromans“ sitzt, von Bourdieu inspiriert, und sich im Porträt zu
       seiner Liebe zum Schlafen bekennt.
       
       Mit Matthias Senkel ist ein weiterer Autor zum zweiten Mal eingeladen. Er
       fiel 2012 als „zu intelligent“ durch. Senkel scheint zu seinem Glück dümmer
       geworden.
       
       Neue Gesichter in der Jury sind die österreichische Literaturkritikerin
       Brigitte Schwens-Harrant und der Autor und Philosoph Philipp Tingler. Man
       wird sie kennenlernen und ihre wie der anderen Juror*innen Arbeitszimmer
       per Live-Kamera auch.
       
       17 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Bachmannpreis--Nachlese/!5603841
   DIR [2] https://bachmannpreis.orf.at/
   DIR [3] /Der-Erzaehlstil-der-Bachmannpreistraegerin/!5317121
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ekkehard Knörer
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Literatur
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
   DIR Virtuell
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
   DIR Literatur
   DIR Literatur
   DIR Ingeborg-Bachmann-Preis
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bachmann-Preis für Helga Schubert: Fremdscham und viel Liebe
       
       Helga Schubert ist die Gewinnerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020. In
       Klagenfurt stellt sich heraus: Selbst per Videokonferenz lässt sich
       streiten.
       
   DIR Zweiter Tag beim Bachmannpreis: Maskenspiele des Selberlebens
       
       Virtuell hin oder her: Die Autor*innen Helga Schubert, Hanna Herbst und
       Christian Leitner machten aus dem zweiten Vormittag etwas Besonderes.
       
   DIR Erster Tag beim Bachmannpreis: Anti-Klagenfurt in Klagenfurt
       
       Philipp Tingler gibt als Neuer in der Jury den Rabauken. Die Diskussionen
       am ersten Tag des Bachmannpreises waren meist besser als die Texte.
       
   DIR Eröffnung des Bachmannpreises: Einladung an alle
       
       Alles neu, alles virtuell beim diesjahrigen Ingeborg-Bachmann-Preis. Los
       ging es eher unambitioniert. Bis Sharon Dodua Otoo ihre Rede hielt.
       
   DIR Roman „Ich an meiner Seite“: Hauptfigur des eigenen Lebens
       
       Die Bachmannpreis-Trägerin Birgit Birnbacher erzählt von Menschen, die vor
       allem funktionieren sollen. Mit bitteren Pointen.
       
   DIR Bachmannpreis – Nachlese: Wer euch schreibt
       
       Der Bachmannpreis verlief in diesem Jahr eher durchschnittlich. Einen
       politischen Text mit Nachhall gab es nur außerhalb des Wettbewerbs.
       
   DIR 40. Verleihung des Bachmann-Preises: Die stromernden Ichs
       
       Drei Tage lang lasen AutorInnen am Wörthersee um die Wette. Fast alle Texte
       erzählten aus einer Innenansicht heraus.