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       # taz.de -- Mit Smartphones gegen Corona: Welche Folgen die App haben könnte
       
       > Der Erfolg der Corona-App wird weniger von ihrer Bedienbarkeit abhängen –
       > sondern davon, was nach einer Quarantänemeldung passiert.
       
   IMG Bild: Stolz wie Bolle – Markus Söder (CSU) zeigt Jens Spahn (CDU) die Corona-Warn-App auf seinem Handy
       
       Es gibt diese magische Zahl, die seit April in der Welt ist, sie lautet 60:
       Wenn rund 60 Prozent der Bevölkerung die App zur Nachverfolgung von
       Kontakten Sars-CoV-2-positiv getesteter Menschen nutzen und sich an die
       Quarantäne halten, dann könnte es möglich sein, die Pandemie zu stoppen.
       Das ist das Ergebnis einer [1][Modellrechnung der Universität Oxford], die
       seit ihrem Erscheinen gerne zitiert wird – und mittlerweile ebenso gerne
       kritisiert. Weil sie suggerieren könnte: 60 Prozent, das ist doch eh nicht
       schaffbar. Zwar nutzen 80 Prozent der über 14-Jährigen hierzulande ein
       Smartphone. Doch nicht jede:r wird sich die App installieren wollen [2][und
       ein nicht unerheblicher Teil der Geräte wird schlichtweg zu alt sein, um
       die App zu unterstützen].
       
       Nun sind in der Oxforder Modellrechnung noch ein paar Prämissen drin: Neben
       der App-Nutzung gibt es noch andere Schutzmaßnahmen, zum Beispiel
       umfangreiche Tests und den besonderen Schutz älterer Personen, die deutlich
       seltener Smartphones nutzen. Aber: Selbst wenn die 60 Prozent nicht
       erreicht werden – auch eine niedrigere Zahl an Teilnehmenden könnte laut
       den Autor:innen immerhin dazu beitragen, die Zahl der Infizierten und
       Todesfälle zu verringern. Und deshalb ist vielleicht eine andere Zahl aus
       der Modellrechnung viel interessanter: Pro ein bis zwei App-Nutzer:innen
       werde eine Infektion verhindert, so die Wissenschaftler:innen.
       
       Die auf der App ruhenden Hoffnungen sind also groß. Sie sind es auch
       deshalb, weil ihre Nutzung im Vergleich zu anderen Maßnahmen – Abstand
       halten, Beschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens –
       vergleichsweise einfach ist und sich bei weiten Teilen der Bevölkerung in
       die ohnehin vorhandene Routine integriert: beim Rausgehen Smartphone
       einstecken.
       
       Die Telekom, selbst an der Entwicklung beteiligt, nutzte die Vorstellung
       der App gleich zu PR-Zwecken – um dafür zu werben, dass sich Menschen ohne
       Smartphone in ihren Läden mit simplen Geräten eindecken könnten, inklusive
       Hilfe bei der Installation der App. Am Tag nach der Veröffentlichung
       jedenfalls ging die Zahl derer, die sie heruntergeladen hatten, bereits in
       den einstelligen Millionenbereich.
       
       ## Wichtige Langstrecke
       
       Doch ob die App ein Erfolg wird im Sinne der Pandemiebekämpfung, hängt
       nicht nur von dem ab, was war, sondern viel mehr noch von dem, was
       passieren wird.
       
       Heruntergeladen ist eine App schnell. Bedienbarkeit, optischer
       Hipness-Faktor oder Energieverbrauch, all das wird vielleicht eine Rolle
       spielen, wenn es darum geht, die App ein paar Tage laufen zu lassen. Für
       einen epidemiologischen Nutzen ist aber die Langstrecke viel wichtiger.
       Also die über Wochen und Monate. Und da ist ein anderer Punkt zentral: Was
       passiert, wenn die App meldet: „erhöhtes Risiko“, bitte zu Hause
       einquarantänen?
       
       Mehr als eine Empfehlung ist die Meldung nicht, das ginge auch gar nicht
       anders bei einer freiwillig genutzten App. Nutzer:innen können sich daran
       halten oder es bleiben lassen. Nehmen wir an, wir haben es mit eine:r
       verantwortungsbewusste:n Nutzer:in zu tun. Er:sie nimmt die
       Quarantäne-Meldung ernst und macht sich daran, die in der App gelisteten
       Hinweise – ans Gesundheitsamt wenden, Arzt kontaktieren – umzusetzen. Und
       dann?
       
       Bisher, ohne App, lief es so: Das Gesundheitsamt, das über einen
       möglicherweise risikoreichen Kontakt informiert wurde, zum Beispiel weil
       ein Tischnachbar des Restaurantbesuchs von letzter Woche erkrankt ist,
       meldet sich. Es fragt die Kontaktsituation ab und entscheidet, ob eine
       Quarantäne nötig ist oder nicht. Im Idealfall gibt es regelmäßige Anrufe,
       um nachzufragen, ob alles in Ordnung ist, ein Test-Team, das zu Hause
       vorbeikommt und einen Abstrich nimmt, eine Bescheinigung für den
       Arbeitgeber, dass man wegen Quarantäne zu Hause bleiben muss, und das
       Angebot, den Kontakt zu lokalen Gruppen herzustellen, die bei Einkäufen und
       der Versorgung helfen.
       
       Doch wenn, App-basiert, die Zahl der in Quarantäne Geschickten stark
       steigt, könnte folgendes passieren: Der:die verantwortungsbewusste
       Nutzer:in versucht zwei Tage lang die Hotlines von Gesundheitsamt, Stadt
       und ärztlichem Bereitschaftsdienst anzurufen, erfolglos. Nicht
       unrealistisch, so lief es nämlich zu Beginn der Pandemie. Der:die
       verantwortungsbewusste Nutzer:in hat also keine Quarantänebescheinigung für
       den Arbeitgeber. Keine Bescheinigung, keine Symptome? Und trotzdem 14 Tage
       zu Hause bleiben?
       
       Spätestens wer zum dritten Mal in dieser Schleife landet, wird darüber
       nachdenken, ob der Löschen-Button nicht doch eine sinnvolle Option wäre.
       Und allen, die es wissen wollen, erzählen, dass das System Mist ist. Zwar
       hat die Bundesregierung mittlerweile festgelegt, dass, wer eine
       Quarantänemeldung per App bekommt, Anspruch auf einen Test hat. Das ist
       gut, aber zum einen machen das längst nicht alle Hausärzt:innen. Und zum
       anderen löst selbst ein Test den Rest der genannten Probleme nicht. Denn
       wie stellt das Robert-Koch-Institut so schön fest: Bei Kontakten der
       Risikoklasse 1 – was beispielsweise nach einem 15-minütigen Gespräch von
       Angesicht zu Angesicht der Fall ist, also genau die Situation, in der die
       App anschlägt – verkürzt auch ein negativer Test die 14-tägige Quarantäne
       nicht.
       
       Was also passieren muss: Schnell und zuverlässig erreichbare zuständige
       Stellen, wenn ein:e Nutzer:in einen Quarantänehinweis bekommt. Und das
       braucht Geld und Personal, denn das lässt sich schließlich nicht erst dann
       anheuern, wenn die nächste Welle da ist.
       
       Außerdem schnelle und unbürokratische Tests in einem Umfeld ohne
       Ansteckungsgefahr für alle, die sich sicher sind, dass sie eine
       falsch-positive Meldung der App bekommen haben. Und: Angesichts der
       aktuellen Forschungslage, die eine Inkubationszeit von einer guten Woche
       nahelegt, sollte die Quarantänezeit von 14 Tagen bei einem negativen Test
       gründlich überdacht werden. Eine gute Woche, das wäre schon deutlich
       überschaubarer.
       
       ## Gesetzliche Regelung
       
       Es gibt neben dieser Problematik noch einen weiteren Punkt, der die
       Bereitschaft zur freiwilligen App-Nutzung auf lange Sicht steigern könnte:
       ein Gesetz. Ob das notwendig ist, oder ob die Einwilligung ausreicht als
       Grundlage für die Datenverarbeitung, darüber streiten sich Jurist:innen
       seit einigen Wochen.
       
       Selbst Justizministerin Christine Lambrecht (SPD), die ein Gesetz derzeit
       ablehnt, tat sich bei der Vorstellung der App etwas schwer zu erklären,
       warum ein Arbeitgeber seine Arbeitnehmer:innen nicht dazu verpflichten
       können soll, die App auf ihren Diensttelefonen zu installieren. Und es ist
       auch kein vollkommen abwegiges Szenario, dass eine Restaurantbetreiberin
       oder ein Ladeninhaber entscheidet: Bei mir kommt nur rein, wer seine App
       mit dem Hinweis „niedriges Risiko“ vorzeigt. Um seine Mitarbeitenden zu
       schützen, andere Kund:innen, sich selbst.
       
       Es gäbe also einiges, was sich klarstellen ließe: Dazu wäre ein gutes,
       verbraucher- und privatsphärefreundliches Gesetz ein starkes Signal. Eines,
       das Ängste nimmt davor, dass die App mit der nächsten Infektionswelle doch
       zur impliziten Pflicht wird.
       
       Open Source, ernsthafte Beteiligung der interessierten Community, ein guter
       Schutz der Privatsphäre, Datensparsamkeit – es sind zuletzt ein paar Dinge
       überraschend gut gelaufen bei der Corona-Nachverfolgungs-App. Es wäre
       schade, das damit aufgebaute Vertrauen zu verspielen. Jetzt, wo es sich
       auszahlen könnte.
       
       17 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.research.ox.ac.uk/Article/2020-04-16-digital-contact-tracing-can-slow-or-even-stop-coronavirus-transmission-and-ease-us-out-of-lockdown
   DIR [2] /QA-zur-deutschen-Corona-App/!5689808/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Svenja Bergt
       
       ## TAGS
       
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