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       # taz.de -- Erstes Berliner Behindertenparlament: Gespräche gegen Barrieren
       
       > Corona hat das erste Berliner Behindertenparlament vereitelt. Die
       > InitiatorInnen haben sich trotzdem getroffen und klargemacht, worum es
       > ihnen geht.
       
   IMG Bild: Engagiert für Menschen mit Behinderung: Dominik Peter, Christian Specht, Gerlinde Bendzuck (v. l. n. r.) und Gebärdensprachdolmetscherin
       
       Christian Specht sitzt auf einer Holzbank neben dem Martin-Gropius-Bau und
       nippt an einer hausgemachten Limonade mit Minze. Unter den BerlinerInnen
       mit Behinderung ist der 50-Jährige einer der leidenschaftlichsten
       Aktivisten, und an diesem heißen Junitag nimmt sein wichtigstes Projekt
       Fahrt auf: das Berliner Behindertenparlament. Ist er zufrieden? Specht
       überlegt. „Ja“, sagt er schließlich, „aber ich hatte mir schon etwas
       anderes gewünscht. Wenn wir uns drinnen getroffen hätten, wären viel mehr
       Menschen gekommen. Das wäre spannend gewesen.“
       
       Drinnen, das ist das Abgeordnetenhaus, das heute nur als Kulisse dient. Ein
       Jahr lang hatte Specht dafür getrommelt, ein Pendant zum Bremer
       Behindertenparlament zu schaffen, das sich seit 1994 einmal im Jahr trifft.
       Bei der Berliner Lebenshilfe, in deren Vorstand er sitzt, fand er ebenso
       Unterstützung wie bei anderen Organisationen, auch die
       behindertenpolitischen SprecherInnen fast aller Fraktionen bekannten sich
       zu dem Projekt. [1][Nach dem Kick-off im Januar] erarbeiteten
       Vorbereitungsgruppen Anträge, der Plenarsaal des Abgeordnetenhauses war für
       den 18. Juni gebucht. Dann kam Corona.
       
       Für Specht war das deprimierend. [2][Nicht nur fühlte er sich plötzlich
       isoliert] und konnte nicht mehr an seinem Schreibtisch im taz-Haus
       arbeiten, wie er später auf dem kleinen Podium erzählt. Das
       Behindertenparlament war und ist ihm ein Herzensanliegen. Dass es nun
       zumindest im Miniaturformat stattfindet, als Talk-Veranstaltung unter dem
       Motto „Corona, wir müssen reden“, ist zumindest ein kleiner Ersatz. Und der
       Aktivist gibt die Hoffnung nicht auf: „Ich wünsche mir, dass wir im Oktober
       doch noch tagen können. Oder zumindest einen festen Raum im
       Abgeordnetenhaus bekommen.“
       
       Solche Zusagen will Parlamentsvizepräsidentin Manuela Schmidt (Linke) nicht
       machen: „Ich möchte nicht auf eine Prognose festgenagelt werden“, sagt
       Schmidt im Gespräch mit den beiden Gastgebern, Gerlinde Bendzuck von der
       Landesvereinigung Selbsthilfe Berlin und Dominik Peter vom Berliner
       Behindertenverband. Aber aufgeschoben sei nicht aufgehoben. Für sie stehe
       fest: „Menschen mit Behinderungen gehören in dieses Haus.“ Die
       Zugangsbeschränkungen zum Parlament gälten bis Ende August.
       
       ## Nicht mitgedacht
       
       Bis die VertreterInnen der Menschen mit Behinderungen tatsächlich im
       Plenarsaal tagen, ist dieser vielleicht auch halbwegs barrierefrei. Im
       Sommer fänden erste Umbauarbeiten statt, so Schmidt, was in erster Linie
       mit dem Infektionsschutz zu tun habe. Gerlinde Bendzuck sagt, sie habe es
       kaum glauben können, aber bis auf eine einzelne mobile Holzrampe habe es
       bei der ersten Besichtigung des Saals keine Vorkehrungen für
       mobilitätseingeschränkte Menschen gegeben. „Für sie ist ein regulärer
       Zugang überhaupt nicht mitgedacht.“
       
       Der prominenteste Gast, der an dem aus Cafétischchen improvisierten Panel
       Platz nimmt, ist Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). Eine gute
       Nachricht habe sie, sagt sie gleich: „Menschen mit Behinderungen sind
       unterproportional von Arbeitslosigkeit wegen Corona betroffen.“ Allerdings
       sei diese Krise noch lange nicht beendet, und überhaupt stelle sich
       weiterhin die Frage: „Wie bekommen wir mehr Menschen mit Behinderung in den
       ersten Arbeitsmarkt?“ Der Senat könne Unternehmen nun mal nicht zwingen,
       sondern nur fördern und dafür werben.
       
       Angesprochen auf die Situation in Werkstätten für Menschen mit Behinderung
       erklärt die Senatorin, man habe die Einrichtungen geschlossen, aber über
       die gesamte Coronazeit weiterfinanziert, um Betreuung und Beratung
       sicherzustellen. Problematisch sei, dass die Bundesagentur für Arbeit kein
       Kurzarbeitergeld zahle, weil es sich nicht um reguläre Arbeitsplätze
       handele.
       
       „Formalrechtlich ist das nicht zu beanstanden“, räumt Breitenbach ein.
       „Aber es arbeiten ja Menschen dort, da wird ja nicht gespielt und
       gebastelt.“ Immerhin habe der Senat eine halbe Million Euro als
       „Schutzschirm“ für die Betroffenen in den Haushalt eingestellt. Jetzt
       würden die Werkstätten schrittweise wieder hochgefahren.
       
       ## Besser „einen Schritt langsamer“
       
       Deutlich wird, dass noch Unsicherheit beim Thema Corona herrscht. Sie habe
       viele Briefe von ArbeitnehmerInnen in Werkstätten bekommen, so Breitenbach:
       „Die einen fragen, wann es wieder losgeht; die anderen sagen: ‚Ich habe
       Angst, ich will da nicht hin.‘“ Weil auch die Politik wenig Erfahrung mit
       Pandemien habe, sei es aber besser, „einen Schritt langsamer“ voranzugehen.
       
       Noch ein Reizthema: Besuchsregelungen in Pflegeheimen. Hier positioniert
       sich die Sozialsenatorin gegen zu scharfe Restriktionen, auch wenn ihr das,
       wie sie berichtet, Kritik einbringt. Ihr Vater, der in einer solchen
       Einrichtung lebt, habe ihr gesagt: „Ich habe Angst vor Corona, aber ich
       will nicht an gebrochenem Herzen sterben.“ Man könne Menschen nicht
       dauerhaft einschließen. Darum sei es gut, dass der Senat in der jüngsten
       Verordnung die individuelle Abstimmung von Besuchsregeln mit den
       Einrichtungen festgeschrieben habe. Tatsächlich sind die Regeln in anderen
       Ländern schärfer.
       
       Im weiteren Verlauf interviewen Bendzuck und Peter Menschen aus
       Werkstätten, von Selbsthilfevereinen, aber auch die
       Landesbehindertenbeauftragte Christine Braunert-Rümenapf. Eins wird klar:
       Viele haben gerade in der Anfangszeit der Pandemie verständliche
       Informationen vermisst. „Ich war bei Aldi einkaufen und habe mich
       gewundert, warum alle ihre Wagen so vollgeladen haben“, erinnert sich
       Christian Specht. „Ich habe gefragt, und manche haben gesagt, wir haben
       Krieg.“ Dass das nicht stimmte, war ihm klar, aber dennoch: „Man sollte den
       Menschen immer auch in leichter Sprache erklären, was los ist.“
       
       18 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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