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       # taz.de -- Rausgehen in Corona-Zeiten: Plötzlich so schön franzosenhousig
       
       > Raus aus der Wohnung, aber wohin? Selbst die Kanäle der Stadt sind
       > plötzlich voll. Ärger staut sich an. Entspannung zu finden, wird schwer.
       
   IMG Bild: Der Landwehrkanal in Berlin am 21. Mai, die Wasserstraßen werden voll
       
       Was immer geht nach einem weiteren Tag, an dem außer ein paar Stündchen
       Kita für das eine und ein paar Minütchen Schule für das andere Kind, außer
       Spielplatz, LPG und Eisbude nichts gegangen ist und die Zukunftsängste das
       Maß des Erträglichen überschreiten (bitte, politische Entscheider*innen,
       öffnet die Schulen und die Kitas für den Ganztagsbetrieb, wir können nicht
       mehr!), ist der abendliche Gang. Die neuen Turnschuhe standen bei Karstadt
       im Sale herum, federn aber trotzdem ganz wunderbar. Mindestens die kleine
       Park-Runde. Dann mal sehen, ob noch Lust, am Kanal Slalom zu laufen um die
       mit Pizzakartons Flanierenden.
       
       Die Luft ist warm, das Gras schon wieder braun, die Leute sind draußen, wo
       auch sonst, die Krisenhelfer gondeln so herum. Einer, der eine Art Mentor
       der jüngsten Ankömmlinge aus Afrika zu sein scheint, führt unter viel Hallo
       seinen sonnengelb-schwarz gemusterten Boubou und die aus dem gleichen Stoff
       gefertigte Gesichtsmaske vor.
       
       Eine alleinerziehende Mutter sucht per Aushang eine bezahlbare Wohnung für
       sich und ihren Sohn. Aus ihrer jetzigen Wohnung muss sie raus und will im
       Kiez bleiben, wo Kita, Freund*innen und Nachbar*innen sind. Man kann
       Zettelchen mit ihrer Telefonnummer abreißen. Bislang sind alle noch dran.
       Einzelne Nachtigallen singen, wahrscheinlich die, die hoffnungslos einsam
       geblieben sind.
       
       Die Menschen verlegen sich aus Einsamkeit und Langeweile nun aufs
       Schlauchboot. Gebannt stehe ich auf der Kanalbrücke und bestaune die
       Myriaden entblößter Oberkörper, die da lazy durch die Brühe treiben, sich
       zuprosten und ihre Gummihäute berührungsunscheu aneinanderbumsen lassen.
       
       ## Partygeilheit als politischen Protest ausgegeben
       
       Am Sonntag „demonstrierten“ sie vor dem Urban-Krankenhaus (!), an einen der
       Kähne war ein Laken geknotet, „I can’t breath“ (sic) stand darauf.
       Widerwärtig, wie sie einen so überwältigend grauenvollen und folgenreichen
       Tod locker-flockig missbrauchten, um ihre akute Partygeilheit zu
       politischem Protest zu adeln.
       
       Gestern Nachmittag radelten wir zum Tempelhofer Feld. Mal wieder. Die
       Steuer mache ich erst dann, wenn mir keine Kinder mehr quer über die Belege
       trampeln, liebes Finanzamt. Als Erstes wollen die Kinder zum Eiswagen am
       Eingang Oderstraße und dann mit dem Eis auf den kleinen Ausguckturm. Da
       oben stehen aber schon drei Iren mit verspiegelten Sonnenbrillen und Bier
       und wollen nicht weichen, sie rülpsen gebietsmarkierend herum und
       konversieren ungerührt darüber, dass man auf Deutsch als Erstes die Wörter
       „dicke Titten“ und „fetter Arsch“ lernen müsse.
       
       In meinem Kopf braut sich ein Sermon zusammen, der sich gleich entladen
       wird. Berlin would be better off without you numb, prepotent, misogynic
       sweethearts!
       
       Das Kind wittert die nahende Ärgerventilation und fleht mich an, den Mund
       zu halten. Es schämt sich immer so schnell. Ich hoffe, es begreift bald,
       dass die Scham es zur Wasserträgerin des Systems macht, das es knebelt.
       
       ## Skateranlage Vogelfreiheit
       
       Aber da baut direkt vor uns Dorian Goetsch aka Gray Contrast sein mobiles
       Live-Rave-Instrumentarium auf, Synthie, Effektgerät, Sampler. Und es ist
       plötzlich so schön franzosenhousig und friedlich, dass der Ärger verpufft.
       
       Wir finden dann noch die Skateranlage Vogelfreiheit, einen Ort, den wir
       noch nie gefunden hatten. Auf der Infotafel steht, diese „Skateskulptur
       wurde aus eigens zu diesem Zweck sichergestellten Granitplatten vom
       ehemaligen Palast der Republik errichtet“. Der gute, alte Palast. Jetzt
       berollern junge Leute seinen Boden, während die Geschichtsklitterer ein
       paar Kilometer weiter Kreuze auf seinen hohnlachenden Nachfolger pfropfen.
       
       Manches ist also schlecht, das meiste aber immer noch gut an unserer Stadt.
       Lockere Wattewölkchen vor der Bahlsen-Fabrik und das Feldlerchen-Zwirbeln
       von oben gehören zu Letzterem.
       
       7 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kirsten Riesselmann
       
       ## TAGS
       
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