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       # taz.de -- Gepflegter Elitismus: Ein Königreich für Cricket
       
       > Für Mitteleuropäer ist der Sport nur schwer zu verstehen. Eine
       > literarische Annäherung hilft zumindest dabei.
       
   IMG Bild: Englische Cricket-Größe: Nationalspieler Ben Stokes in Aktion bei der Partie gegen Südafrika
       
       Im Cricket ist es wie in allen anderen großen Profisportarten der Welt.
       Funktionäre brüten über Hygienekonzepten, um das bisschen, was von diesem
       Sportjahr in Coronazeiten noch übrig ist, mit ein wenig Cricket füllen zu
       können. Anfang Juli soll Englands Auswahl drei Test-Matches gegen die
       Westindischen Inseln bestreiten. Und schon jetzt ist klar – die
       Pandemievariante des Cricketspiels wird nichts zu tun haben mir der, an die
       man sich über Jahrzehnte gewöhnt hat. Die Werfer sind angehalten, den Ball
       nicht mehr mit ihrer Spucke zu bearbeiten. Den Speichel haben sie genutzt,
       um eine Seite des Balls vor dem Wurf glatt zu polieren und dadurch die
       Flugkurve für den Mann mit dem Schläger unberechenbar zu machen. Das soll
       nun verboten werden.
       
       In Sportdeutschland wird man wohl nicht verfolgen, wie die Bowler sich ohne
       Spucke behelfen werden. Cricket gehört nicht zum Kanon des deutschen
       Sports, und so wird es nur wenige geben, die überhaupt wissen, dass der
       Bowler im Cricket derjenige Spieler ist, der den Ball in Richtung des
       Mannes mit dem Schläger, des Batsman, wirft.
       
       Weil auch der Autor dieser Zeilen nicht allzu vertraut ist mit den Regeln
       dieser Sportart, [1][seien die werten Leser:innen auf die Wikipedia
       verwiesen], wo so schöne Sätze stehen wie: „Das Ausscheiden eines Batsman
       wird auch als Wicket bezeichnet, unabhängig davon, ob das eigentliche
       Wicket daran beteiligt war oder nicht.“ Jenes eigentliche Wicket ist das
       Konstrukt aus fünf Hölzstäbchen, das sich am Ende der Pitch befindet, wobei
       eine Pitch nichts anderes ist als … Oder nein, lassen wir das an dieser
       Stelle doch einfach.
       
       Die Weltsportart Cricket, die von den Briten über ihr gesamtes
       Kolonialreich verbreitet wurde und in vielen Ländern bis heute höchst
       professionell betrieben wird, hat es hierzulande nicht über den Ruf einer
       schnöseligen Freizeitbeschäftigung durchgeknallter Insulaner aus besserem
       Hause hinausgebracht. Eine Ausgeburt dieser Elite ist auch ein gewisser
       Fielding Gray. Der ist die Hauptfigur im ersten Band der Romanreihe
       „Almosen fürs Vergessen“, die der Schriftsteller und Sprössling einer
       Strumpffabrikantenfamilie, Simon Raven (1927–2001), der Welt hinterlassen
       hat.
       
       ## Rätselhafte Ergebnisse
       
       [2][Gerade ist der erste von zehn Romanen der Reihe im Elfenbein-Verlag auf
       Deutsch erschienen.] Das Cover zeigt einen weiß gekleideten, bestens
       gescheitelten jungen Mann auf grünem Rasen vor einem Schloss mit einem
       Cricketschläger in der Hand. Und es ist gewiss das Verdienst der
       Übersetzerin Sabine Franke, dass man auch während der Beschreibungen des
       für den jungen Mann so wichtigen Cricketspiels nicht den Spaß am Lesen
       verliert.
       
       Das ist umso erstaunlicher, als der [3][Sport für einen gestandenen
       Kontinentaleuropäer auch dann noch rätselhaft ist], wenn ein
       Zwischenergebnis genannt wird. „Somerset Lloyd-James wies mit dem Finger
       vom Wicket weg, und Peter war raus. 210 für 6. Wir waren zurück im Spiel.“
       Aha.
       
       Auch das Nachwort zum Roman hat die Übersetzerin geliefert und dabei
       schnell deutlich gemacht, dass einem die Lektüre des Buches durchaus helfen
       kann, will man die britische Nachkriegsgeschichte und die Rolle der Eliten
       im Königreich verstehen. Autor Simon Raven selbst war Schüler an einer
       Einrichtung, die derjenigen ähnelt, die der junge Fielding Gray im Roman
       besucht. Der treibt nach einem homoerotischen Abenteuer einen Mitschüler,
       für den er sich nicht wirklich interessiert, regelrecht in den Suizid und
       verliert auf der Suche nach seiner Sexualität auch noch den Rest des
       bisschen Charakters, mit dem ihn seine charakterlich gewiss nicht besser
       ausgestatteten Eltern auf die Lehranstalt geschickt haben.
       
       Grays Verhalten und die Reaktionen seiner vornehmen Mitschüler stehen für
       den Teil der britischen Gesellschaft, der bis heute einen Elitismus
       pflegen, der gewiss nicht geeignet ist eine Gesellschaft zusammenzuhalten.
       
       Sabine Franke zählt Mitschüler:innen von Raven in dessen Internat, der
       Charterhouse School in Godalming, auf. James Prior, ein Minister im
       Kabinett Thatcher, ist darunter und William Rees-Mogg, der spätere
       Herausgeber der Times. Die beiden laufen in Ravens Roman wie Karikaturen
       neben Gray daher. Sie gehen gemeinsam zum Pferderennen, und Cricket spielen
       sie natürlich auch.
       
       4 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Cricket
   DIR [2] http://www.elfenbein-verlag.de/9783961600137.htm
   DIR [3] /Gentlemens-Sport-Cricket/!5087432
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Rüttenauer
       
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