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       # taz.de -- Prozess zu Folterungen in Syrien: „Ich wurde gekidnappt“
       
       > Der syrische Anwalt Anwar al-Bunni sagt im Prozess gegen mutmaßliche
       > Assad-Schergen aus – und erzählt, wie er einen Beschuldigten in Berlin
       > wiedertraf.
       
   IMG Bild: Anwar al-Bunni: „Meine Familie hat insgesamt 73 Jahre im Gefängnis gesessen“
       
       Koblenz taz | Am Mittag, bevor seine Zeugenaussage im Koblenzer
       Oberlandesgericht beginnt, steht Anwar al-Bunni mit Tränen in den Augen vor
       dem Gerichtsgebäude. „Es ist gut, dass es diesen Prozess gibt, aber das
       reicht nicht“, sagt der Menschenrechtsanwalt und deutet auf die gerahmten
       Fotoporträts hinter ihm.
       
       Angehörige haben die Bilder von über 50 Männern, Frauen und Kindern, die in
       Syrien verschwunden sind, vor dem Gericht aufgebaut und mit weißen Rosen
       und Tulpen geschmückt. „Ich will auch ihre Stimme sein“, sagt al-Bunni.
       „Zehntausende werden vermisst. Und die Verbrechen in Syrien gehen weiter.“
       
       Im Gerichtssaal klagt der 61-Jährige, der 2014 als Flüchtling nach
       Deutschland kam und in Berlin ein Zentrum für Menschenrechte gegründet hat,
       das syrische Regime dann mit derlei Verve an, dass der Dolmetscher
       Schwierigkeiten hat, mit seiner Übersetzung hinterher zu kommen.
       
       Al-Bunni spricht davon, wie das Regime das eigene Volk terrorisiert,
       Menschen foltert, mitunter bis zum Tod, oder einfach verschwinden lässt. So
       ausführlich, dass die Vorsitzende Richterin irgendwann dazwischen geht:
       „Weniger Statements, bitte.“
       
       Entführt, als er zur Arbeit fahren wollte 
       
       Anderthalb Tage sind für al-Bunnis Zeugenaussage bis Freitag angesetzt. Er
       ist als Sachverständiger geladen und hat doch eine sehr persönliche
       Geschichte mit dem Hauptangeklagten, der in Koblenz vor Gericht steht.
       
       Im Mai 2006 traf er zum ersten Mal auf Anwar R. Als al-Bunni zur Arbeit
       fahren wollte, hielt ein Auto neben ihm, zwei Männer sprangen heraus,
       zerrten ihn hinein, quetschten ihn in den Fußraum, setzten sich auf ihn und
       verbanden ihm die Augen, so berichtet er es vor Gericht: „Ich wurde
       gekidnappt.“
       
       Vorn auf dem Beifahrersitz habe Anwar R. gesessen und ihn als „Verbrecher“
       beschimpft. Er habe R. später an seiner Stimme wiedererkannt, so al-Bunni.
       Er wurde in die Vernehmungsabteilung des Allgemeinen Geheimdienstes
       gebracht und landete später für fünf Jahre im Gefängnis.
       
       Anwar R. machte derweil im Geheimdienst Karriere. Er leitete die
       Ermittlungsabteilung und auch das dazugehörende, berüchtigte
       Al-Khatib-Foltergefängnis. Deshalb wirft ihm die Bundesanwaltschaft
       Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter in mindestens 4.000 Fällen,
       58-fachen Mord, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung vor.
       
       „Meine Familie saß insgesamt 73 Jahre im Gefängnis“ 
       
       Welche Gründe es für seine Verhaftung gab, will die Vorsitzende Richterin
       von al-Bunni wissen. Er habe eine Woche zuvor einen Artikel über den Tod
       eines Häftlings nach Folter verfasst, sagt der Anwalt.
       
       Auch sei er Leiter eines Zentrums geworden, mit dem unter anderem die EU
       Menschenrechtsaktivisten in Syrien unterstützen wollte. Man habe ihm
       Verbreitung falscher Nachrichten und die Zusammenarbeit mit ausländischen
       Kräften vorgeworfen. Nach seiner Verhaftung gab es internationale Proteste.
       
       Die Entführung war bereits al-Bunnis vierte Verhaftung. Mitglieder seiner
       Familie wurden, weil sie in der Opposition tätig waren, seit den 1970er
       Jahren verfolgt. Drei Geschwister, die sich in einer kommunistischen Gruppe
       engagierten, waren schon vor ihm verhaftet worden.
       
       Das habe dazu geführt, dass er Anwalt geworden sei. „Meine Familie hat
       insgesamt 73 Jahre im Gefängnis gesessen“, sagt al-Bunni. Sie seien
       gefoltert worden. Und meist hätte keiner gewusst, wo die Familienmitglieder
       waren.
       
       Die Folter begann schon vor dem Bürgerkrieg 2011 
       
       Jeder, der im syrischen Sicherheitsapparat gearbeitet hat, habe von der
       systematischen Folter gewusst, so al-Bunni. „Und er wusste nicht nur davon,
       er hat sie auch angewandt.“ Anwar R. hat das [1][vor zwei Wochen in seiner
       Einlassung im Prozess bestritten]. Auch alle übrigen Anklagepunkte wies er
       vehement zurück.
       
       Folter, sagt al-Bunni, habe es in Syrien schon vor dem 2011 ausgebrochenen
       Bürgerkrieg gegeben. „Davor wollten sie Informationen über die Opposition
       bekommen. Aber nach 2011 war der Zweck der Folterung einfach die Rache.“
       
       Die Anzahl der Inhaftierten sei in „beängstigender Weise“ angestiegen. Was
       geschehen sei, könne man „nicht einmal mehr als unmenschlich bezeichnen“.
       Als al-Bunni 2011 aus dem Gefängnis kam, arbeitete er weiter als
       Rechtsanwalt.
       
       Einer, den er vertrat, war der Filmemacher [2][Feras Fayyad, der am
       Mittwoch vor Gericht ausgesagt hatte]. Über die erlittene Folter in
       Al-Khatib, zu der Zeit von Anwar R. geleitet – und auch darüber, dass es
       Leute wie al-Bunni waren, die ihn schließlich aus dem Knast holten.
       
       Wiedersehen in Berliner Flüchtlingsunterkunft 
       
       2014 verließ al-Bunni mit seiner Frau Syrien und traf im
       Flüchtlingswohnheim in Berlin-Marienfelde einen Mann wieder, der ihm gleich
       bekannt vorkam. Doch es dauerte etwas, bis ihm klar wurde: Es handelt sich
       um Anwar R., den Mann, der ihn einst verhaftete. Und der wie er selbst als
       Flüchtling nach Deutschland gekommen war.
       
       Al-Bunni gründete das „Syrian Center for Legal Studies und Researches“ und
       begann gemeinsam mit anderen Menschenrechtsaktivisten, Zeugenaussagen und
       Belege über Folter und Verletzungen von Menschenrechten zu sammeln, um sie
       Polizei und Justiz zu übergeben.
       
       Das Ziel: Die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Mit Anwar R. muss sich nun
       weltweit zum ersten Mal ein mutmaßlicher Folterer des syrischen Regimes vor
       Gericht verantworten.
       
       5 Jun 2020
       
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