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       # taz.de -- Denkmalstürze und Symbolik: Identitätspolitik als Rückschritt
       
       > Allerorten fallen die Denkmäler vermeintlich großer Männer. Ist das
       > Befreiung oder Totenbeschwörung? Und ist Identitätspolitik nicht schon
       > over?
       
   IMG Bild: Polizisten aus Philadelphia stehen in der Nähe einer Statue von Christopher Kolumbus
       
       Rekapitulieren wir noch einmal die bekannte Szene, die mittlerweile
       Vorreiterfunktion hat. Als im englischen Bristol kürzlich antirassistische
       [1][Demonstranten der Statue des Edward Colston eine Schlinge um den Hals
       legten], diese stürzten, etliche auf sie sprangen wie auf einen besiegten
       Feind, andere dann ihr Knie in den Nacken der Statue legten wie der
       Polizist seines in den Nacken von George Floyd. Als die Demonstranten dann
       die Statue durch die Stadt rollten und diese unter dem Jubel der Menge ins
       Wasser warfen. Da folgten sie dem Skript einer politischen Urszene: dem
       revolutionären Ikonoklasmus. Dem Denkmalsturm.
       
       Es war Karl Marx, der meinte, dass Epochen des Umbruchs eine Art von
       „Totenbeschwörung“ seien: mit alten, entlehnten „Namen, Schlachtparolen,
       Kostümen“ werde eine neue Szene aufgeführt. Aber es war auch Marx, der
       meinte, dass solche Re-Inszenierungen nicht immer an ihre Vorbilder
       heranreichen.
       
       Denkmäler stürzen hatte die Funktion, den Fall einer Herrschaft sinnfällig
       zu machen. Eine symbolische Befreiung vom Tyrannen. In Bristol hingegen
       ging es um etwas anderes. Ebenso wie bei den anderen nun grassierenden
       Denkmalstürzen. Da geht es nicht um das Aufschlagen eines neuen Kapitels,
       sondern um das Umschreiben eines alten. Und das ist durchaus ambivalent.
       
       „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der
       Barbarei zu sein“ – so Walter Benjamin. Das traf im Fall von Bristol wohl
       zu. Edward Colston war kein Unschuldiger. Der Geschäftsmann verdiente im
       17. Jahrhundert das Geld für seine breite Wohltätigkeit mit brutalem
       Sklavenhandel. Der Sturz der Statue hat das Barbarische, auf dem die
       Zivilisation der Stadt beruht, für alle Welt deutlich gemacht.
       
       ## Geschichte umschreiben
       
       Zugleich aber ging es den Denkmalstürmern um mehr. Sie wollten seinen
       „Namen ausradieren“. Ihm den Platz in der Stadt verwehren. Der schwarze
       Bürgermeister sah in der Statue „eine persönliche Beleidigung“. Der Sturz
       des Denkmals diente also nicht einer Befreiung. Er sollte vielmehr die
       Geschichte umschreiben. Säubern. Da ist sie wieder. Die Sprache der
       Identitätspolitik und Political Correctness. Unter all den entlehnten
       Verkleidungen. In all den geborgten Gesten.
       
       Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd ist aber in den USA etwas Neues
       aufgebrochen: eine neue politische Demarkationslinie. Die
       Auseinandersetzung hat das Feld der alten Identitätspolitik verlassen.
       
       Nun geht es nicht mehr darum, Minderheitenrechte einzufordern. Es geht um
       gleiche Rechte. Um eine rechtliche, soziale, ökonomische Gleichstellung.
       Basis dafür ist nicht der Minderheitenstatus wie ehemals bei Black Power.
       Die neue Schlachtparole „Black Lives Matter“ bedeutet: Die Anerkennung des
       Lebens der Schwarzen. Und die Forderung, diese Anerkennung in den
       gesellschaftlichen Institutionen – von Polizei über Gerichten bis zu
       Spitälern – zu verwirklichen. Also aufzeigen, dass es eben daran mangelt.
       
       ## Eine neue Perspektive
       
       Das ist keine Identitätspolitik, die Minderheiten stärken und damit auch in
       eine Nische stellen will. Es ist vielmehr eine neue Perspektive auf die
       Gesamtgesellschaft – aus einem spezifischen Blickwinkel. Aus jenem, wo
       offensichtlich wird: Die Gesellschaft genügt ihren eigenen Ansprüchen
       nicht.
       
       Sie verfehlt ihre eigenen Prinzipien: Gleichheit vor dem Gesetz,
       Gleichbehandlung der Bürger. Es ist ein Aufstand jener, denen ihr
       Bürgerstatus aufgrund ihrer speziellen Identität verweigert wird. Und die
       diesen nun aufgrund ihres Menschseins einfordern. Genau das macht auch ein
       breites Bündnis möglich. Genau das ermöglicht auch, dass sich Menschen
       aller Hautfarben an dieser Auseinandersetzung beteiligen.
       
       Nun mittels Denkmalstürzen wieder Identitätspolitik zu betreiben, ist ein
       Rückschritt. Noch dazu ein paradoxer: Denn Identitätspolitik ist, ebenso
       wie Political Correctness, aufgetaucht, als man sich von der Vorstellung
       der einen erlösenden Revolution und von der Vorstellung einer zentralen
       Macht verabschiedet hat. Political Correctness nun als revolutionäre Szene
       zu inszenieren, ist da nicht die geringste Paradoxie.
       
       24 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
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