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       # taz.de -- Roman „Echos Kammern“ von Iris Hanika: Narzisstinnen, Gefühle suchend
       
       > Schön streitbar, witzig, immer neurotisch: Die Schriftstellerin Iris
       > Hanika produziert in ihrem Roman „Echos Kammern“ viele Reibungen in
       > Sachen Liebe.
       
   IMG Bild: Iris Hanika steht auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises mit „Echos Kammern“
       
       Mit der Jugendkultur hat sie es nicht so. 2013 fiel Iris Hanika mit einem
       Rant über Technomusik auf („Techno ist eine Weiterentwicklung der
       chinesischen Wasserfolter“), der anschließende Shitstorm gab ihr wohl zu
       denken, in Teilen hat sie ihr Verdikt im Anschluss zurückgenommen; dabei
       hatte sie dem Berliner Technotempel Berghain in ihrem bislang besten Roman
       [1][„Tanzen auf Beton“] (2012) sogar ein Denkmal errichtet. Als Kultstätte
       der Triebabfuhr. Obwohl es in dem schön zerfahrenen, splitterhaften Buch
       wenn um Musik, dann vornehmlich um Heavy Metal und Hard Rock ging.
       
       Jetzt legt die Berliner Autorin mit „Echos Kammern“ ihren nächsten Wurf
       vor, den insgesamt fünften Roman, und wieder kommen Millennials und ihre
       alltäglichen Verhaltensweisen nicht gut weg: Ständig schauen sie auf ihr
       Handy, hohe Aufmerksamkeitsspanne und tiefe Betrachtung sind hingegen nicht
       so ihr Ding.
       
       Von Literatur haben sie keine Ahnung, vom Leben insgesamt auch nicht. Am
       deutlichsten wird das in der Figur des Josh, der im Roman eine besondere
       Rolle einnimmt, dafür aber, in einer seltsamen Verdrehung, mit voller
       Absicht flach bleibt.
       
       Das ist, wie so oft bei Hanika, schön streitbar, oft witzig, immer
       neurotisch, immer auf der Kippe (Stichwort: Ambivalenz), und von vorn bis
       hinten unterhaltsam.
       
       ## Wahlkreuzbergerin
       
       Die 1962 in Würzburg geborene Autorin, seit Ende der siebziger Jahre
       Wahlkreuzbergerin, bekannt geworden durch ihre Arbeit für die legendären
       „Berliner Seiten“ der FAZ um die Jahrtausendwende und den anschließend in
       einigen Büchern ausgefeilten Kurzprosastil mit chronistischer wie
       kritischer Komponente, hat mit dem neuen Roman nach Ausflügen in die
       Psychoanalyse, in die Geschichtserkundung und dem neuen flotten
       Gesellschaftsroman zu einer Melange all dieser Felder und Stile gefunden.
       
       In „Echos Kammern“ schickt sie ihre erste Hauptfigur, die Lyrikerin
       Sophonisbe, eine Frau im besten Alter, nach New York, wo sie sich zwischen
       Hass und Liebe zu dieser Stadt aller Städte nicht so recht entscheiden
       kann. Auf einer Party zu Ehren von Beyoncé (die leider nicht wirklich im
       Text auftaucht) lernt sie Josh kennen, der ihr – großer Zufall – später im
       Café noch einmal über den Weg läuft.
       
       Von da an gibt es eine Verbindung, die über ein mit Sophonisbe befreundetes
       Pärchen mit ukrainischen Vorfahren weiblicherseits bis nach Berlin läuft,
       wo im hinteren Teil des Romans die zweite Hauptfigur, die erschöpfte
       Ratgeberbuchautorin Roxana, die Fäden übernimmt.
       
       ## Voller Sehnsucht
       
       Roxana verliebt sich gar in Josh, allen kulturellen Gegensätzen und vor
       allen Dingen dem doch recht großen Altersunterschied zum Trotz, und führt
       ihn durch die deutsche Hauptstadt, hält sich gleichzeitig zurück und
       vergeht voller Sehnsucht.
       
       Es ist zunächst einmal ganz witzig, diese Schräglage in Sachen Liebe und
       Begehren aus der umgekehrten Perspektive zu sehen. Oft genug werden
       weibliche Objekte als Projektionsflächen eingesetzt, in der Literatur wie
       im Leben, nicht nur, aber natürlich vornehmlich von Männern, hier ist es
       andersherum.
       
       Josh sehen wir nur durch die Brille erst von Sophonisbe, die von seiner
       Naivität und Jugend genervt ist, dann von Roxana; er wird beschrieben als
       „schön“, „strahlend“, „jung“, „jüdisch“ und „bourgeois“, später dann als
       „Spielzeug“ und „Kerlchen“, und es kommt nicht nur hier der Verdacht auf,
       dass sich die Autorin einfach zweigeteilt hat – in die skeptische, schnell
       beleidigte Lyrikerin Sophonisbe und eine altersgemäß leicht verzweifelte
       Ratgeberautorin, die dem „Liebeswahn“ erliegt, der reine Projektion ist –
       und freiwillig und mit Ansage – auch bleibt.
       
       ## Ist Liebe Wahn und Projektion?
       
       Stellt sich natürlich die Frage, ob das immer so sein muss mit der Liebe.
       Alles nur Wahn und Projektion? Ein ewiges Herbeiwünschen eines, einer
       Anderen, die uralten Wunden endlich zu schließen? Kein Entkommen aus dem,
       sagen wir es auf gut freudianisch, Ödipuskomplex?
       
       In „Tanzen auf Beton“ hat Hanika versucht, das Thema theoretisch und
       analytisch zu umkreisen, hier, in „Echos Kammern“, spielt sie das Schema
       noch einmal nahezu eins zu eins durch, dabei nie wirklich konsequent.
       
       Warum wird die sexuelle Vereinigung ausgespart? Warum würde das, wie im
       Text einmal steht, die Sache „nur noch schlimmer“ machen? (Eine klassisch
       stereotyp weibliche Position, nebenbei bemerkt, auch wenn der asexuelle
       Part Josh zugeschrieben wird.) Immerhin ist es nicht mehr ganz so wie in
       „Treffen sich zwei“, einem Groschenroman mit unglücklicher Wendung und,
       merkwürdig oder auch eben nicht, Hanikas bislang erfolgreichstem Buch.
       
       ## Echo, Narziss und Spiegelung
       
       Nun heißt der neue Roman „Echos Kammern“. Es geht also um Echo und Narziss,
       um Spiegelung und um allerlei Tricks; und der erste Gedanke wäre natürlich
       der, dass der Millennial Josh hier für den unglücklich selbstverliebten
       Narziss steht. Aber Schönheit ist nicht automatisch mit Narzissmus
       gleichzusetzen. Und Narzissmus nicht mit Schönheit.
       
       So ist das skeptisch Abwehrende der einen, und das umkreisend Distanzierte
       der anderen Hauptfigur viel narzisstischer als das Wesen des schönen Josh;
       und zu dieser Grundformation passen andere Aspekte dieses Romans: Die
       Abwehr des, sagen wir, Neumodernen, die auch etwas narzisstisch Gekränktes
       hat.
       
       Wobei man natürlich weit mitgehen mag in der Hanika’schen Klage über das
       „alles verwüstende“ Geld, über die stadtsäubernde Gentrifizierung, den
       Overtourismus. Andererseits sind diese Klagen nicht neu, sondern durchaus
       gängig und grenzen hier auch an etwas, das man früher einmal
       Kulturpessimismus genannt hat, Kulturpessimismus Altkreuzberger Art.
       
       ## Schöne Stadtbetrachtungen
       
       Ansonsten: Neben den gewohnt genauen und durchaus schönen
       Stadtbetrachtungen ist es wieder das Russophile, das Hanika beschäftigt und
       weitergibt. Wobei sie diese Liebe einerseits auf die Ukraine erweitert,
       andererseits mit der Geschichte, insbesondere der großdeutschen Geschichte,
       sagen wir, diskursiv verschaltet.
       
       Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin ist seit einigen Jahren durchaus
       international „in“, vor allem in New York, unter (nicht nur, aber auch)
       jüdischen jungen Leuten, was Hanika berechtigterweise seltsam findet.
       
       Was es im Roman noch gibt, sind kleine Einsprengsel (Ratgeber) und,
       besonders am Anfang, den Versuch, eine Art V-Effekt zu erschaffen, indem zu
       einer künstlichen Sprache, einer „Lengevitch“ gegriffen wird, was sich in
       etwa liest wie das radegebrochene Deutsch einer, sagen wir,
       Russlanddeutschen. Was es im Anhang gibt, sind allerlei Verweise, so auch
       zu Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte über einen Autor, der Cervantes’ „Don
       Quixote“ noch einmal neu schreiben will und dabei eine wortgetreue Kopie
       anfertigt.
       
       ## Karl Ove Knausgård
       
       An dieser Stelle könnte man noch tiefer in die Problematik von Original und
       Kopie respektive Echo einsteigen. Witzigerweise begegnete mir der Verweis
       auf Borges’ Kurzgeschichte nahezu zeitgleich in dem anderen Buch, das ich
       gerade lese, nämlich in Karl Ove Knausgårds Mammut-Projekt-Abschluss
       „Kämpfen“, in dem es auch um Hitler und dessen Kampfschrift geht.
       
       Und um Schönheit: „Charisma ist eine der beiden großen,
       grenzüberschreitenden Kräfte im sozialen Leben, die andere ist Schönheit.
       Es sind Kräfte, über die wir nur selten sprechen, denn beide strahlt das
       Individuum aus, man kann sie weder erlernen noch erringen, und in einer
       Demokratie, deren Grundvoraussetzung es ist, alle gleich zu betrachten, und
       in der alles möglichst gerecht zugehen soll, können sie nicht als Wert
       anerkannt werden“, und werden es eben doch, und zwar immer und
       unerschütterlich, so Knausgård.
       
       Interessant wäre es, die Schönheit, egal, ob Original oder Kopie, selbst
       sprechen zu lassen, doch das muss Iris Hanika aus offensichtlichen Gründen
       vermeiden. Nichtsdestotrotz liest sich auch „Echos Kammern“ gewinnbringend,
       denn immerhin ist es ein Roman, der Reibung produziert, ohne neurechts zu
       sein oder linksidentitär um sich zu schlagen.
       
       Es ist ein kluges Buch einer Autorin, die man stets aus einer Art Hassliebe
       liest, auch weil sie aller Psychoanalyse zum Trotz immer noch so voller
       blindspots, blinder Flecken, zu sein scheint. Da helfen auch keine Spiegel.
       
       28 May 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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