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       # taz.de -- Umverteilung statt Wachstumscredo: Das neue klimagerechte Wir
       
       > Das jahrzehntelange Credo, dass das Wirtschaftswachstum für Wohlstand und
       > Arbeitsplätze sorgt, überzeugt nicht mehr. Es wird Zeit für Umverteilung.
       
   IMG Bild: Techniker ziehen ein Rotorblatt im Windpark Feldheim
       
       Fritz Reusswig vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sagt: „Wir
       werden niemals klimaneutral unter den gegebenen Rahmenbedingungen.“ Er hat
       2018 mit dem [1][Reallabor „Klimaneutral leben in Berlin“] untersucht, wie
       wir den aktuellen Bedingungen unseren CO2-Fußabdruck verringern können. Im
       Schnitt produziert jeder Mensch in Deutschland mit seinem Lebensstil 11,6
       Tonnen CO2, wenn man die Importprodukte einrechnet, deren Emissionen in
       anderen Ländern entstanden sind. Klimaverträglich wären 2,3 Tonnen. Ein
       Mensch in Kenia ist für nur 330 Kilogramm CO2 verantwortlich. In Reusswigs
       Labor gelang es den 100 beteiligten Haushalten nach einem Jahr CO2-Tracking
       und Beratung, [2][11 Prozent Emissionen einzusparen].
       
       Würden wir alle jedes Jahr nur 10 Prozent CO2-Emissionen einsparen, wäre
       Deutschland bis 2050 klimaneutral, so Reusswig. Dazu bräuchte es nicht
       einmal einen so harten Einschnitt wie durch Corona. Dieser sei ohnehin
       nicht nachhaltig, weil die Rahmenbedingungen bestehen blieben. Solche
       kurzzeitigen Rückgänge treten in allen Krisen auf, etwa auch in der
       Finanzkrise 2008. Bald danach ist alles wieder beim Alten. Aber sie zeigen,
       wie sich Mobilität, Konsum oder Arbeiten verändern lassen.
       
       ## Arbeit verändern
       
       Wer in der Kohle- oder Automobilindustrie arbeitet, wird sich ohnehin
       fragen, was aus seinem Job wird. Ihre CO2-Bilanz ist desaströs. Dort wird
       zwangsläufig Personal abgebaut werden. Die Gewerkschaften wollen den
       Strukturwandel mitgestalten. Die IG Metall schlägt ein
       Transformations-Kurzarbeitergeld vor, um die Menschen sozial abzufedern.
       Der DGB-Kreisverbandsvorsitzende Düren-Jülich, Ludger Bendlage, unterstützt
       das auch für die Arbeitnehmenden in der Kohleindustrie, genauso wie
       Qualifizierungsmaßnahmen für neue Jobs.
       
       Auch über gute Arbeit, die weniger CO2 bedeutet und so hilft, die
       Klimaziele zu erreichen, muss nachgedacht werden. Sie ist möglich – wenn
       wir pro Woche nur noch neun Stunden arbeiten. So lautet verkürzt das
       Ergebnis der Studie [3][„The Ecological Limits of Work“] von Philipp Frey.
       Er ist Doktorand für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am
       Karlsruher Institut für Technologie. Wirtschaftlich betrachtet wäre eine
       sofortige allgemeine Reduzierung in diesem Maße allerdings „desaströs“,
       sagt er. Machbar wäre jedoch eine Arbeitszeit von 30 Stunden pro Woche bei
       vollem Lohnausgleich. Das wäre dann eine Lohnquote wie in den 1980er Jahre
       und hätte die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben der letzten
       Jahrzehnte umgedreht.
       
       ## Boden gerecht besteuern
       
       Doch Umverteilung setzt nicht nur bei den Einkommen an. Laut einer Studie
       des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung besitzen 45 der reichsten
       Deutschen so viel wie die Hälfte der Bevölkerung. Deshalb muss bei einer
       gerechten Verteilung von Reichtum auch das Vermögen aus Grund und Boden
       einbezogen werden.
       
       Dass das funktioniert, zeigen Länder wie Singapur oder Hongkong, wo die
       Bodenwertsteuer einen Großteil des Steueraufkommens ausmacht. Gewinne, die
       aus Bodenbesitz gewonnen werden, sind leistungslos. Sie entspringen rein
       den Steigerungen der Bodenpreise, die durch den Ausbau von Straßen und
       Infrastruktur erzielt werden. Die Kosten dafür trägt die Gesellschaft.
       Werden die Gewinne nicht gerecht besteuert und verteilt, bietet es einen
       Anreiz zur Bodenspekulation, in deren Folge die Mieten steigen.
       
       Die Steuer in Hongkong etwa trägt die Kosten für die gesamte Infrastruktur
       und finanziert somit den öffentlichen Nahverkehr. Die deutsche Grundsteuer
       ist dagegen ein wahres Debakel. 2018 wurde sie vom Bundesverfassungsgericht
       für verfassungswidrig erklärt, weil ihre Grundlage aus dem Jahr 1964 völlig
       überholt und ungerecht ist. Sie besteuert Boden und die darauf stehenden
       Gebäude, lässt die Gewinne aus Bodenwertsteigerungen allerdings außer Acht.
       Die von der Großen Koalition angestrebte Reform ändert daran nichts.
       
       ## Subventionen umbauen
       
       In der Coronakrise hat die Politik Entscheidungen gegen wirtschaftliche
       Interessen durchgesetzt. Diesen Machtgewinn könnte sie für einen Neustart
       nutzen und jetzt umweltschädliche Subventionen abbauen, das Geld für
       zukunftsgerichtete, klimafreundliche Technologien einsetzen und dadurch für
       neue Jobs sorgen. Oder eine echte CO2-Bepreisung einführen und damit
       Anreize in der Wirtschaft und beim Konsum für CO2-ärmere Produkte schaffen.
       Die staatlichen Einnahmen aus der Steuer [4][könnten an die Bürger*innen
       zurückfließen], die bereits wenig emittieren, an Rentner*innen,
       Alleinerziehende, Hartz-IV-Empfänger*innen oder Studierende etwa.
       
       Ungleichheit ist keine Gesetzmäßigkeit, sondern eine bewusste politische
       Entscheidung. Soll eine sozial gerechte Klimawende gelingen, muss sie an
       der Wurzel des Problems, der Ungleichheit, ansetzen.
       
       Kathy Ziegler ist seit 15 Jahren bei ver.di und überzeugt, dass die
       sozial-ökologische Transformation nur mit den Gewerkschaften gelingen kann. 
       
       Tilman von Samson studiert Landwirtschaft und ist in der Kampagnen AG von
       Fridays for Future aktiv
       
       26 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://klimaneutral.berlin/
   DIR [2] https://www.pik-potsdam.de/aktuelles/pressemitteilungen/reallabor-klimaneutral-leben-in-berlin-zieht-bilanz-jeder-einzelne-kann-etwas-zur-klimastabilisierung-beitragen-aber-ohne-die-politik-geht-es-nicht
   DIR [3] https://www.itas.kit.edu/2019_024.php
   DIR [4] https://www.energiezukunft.eu/wirtschaft/wie-eine-co2-steuer-sozial-gerecht-sein-koennte/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kathy Ziegler
   DIR Tilman von Samson
       
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