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       # taz.de -- Jugendgewalt in Stuttgart: Mit Krawall ins Paradies
       
       > Wie in jedem x-beliebigen Dorf macht auch in Stuttgart die Jugend Rabatz.
       > Das ist nicht schön, aber auch kein neues Phänomen.
       
   IMG Bild: „Die Halbstarken“ sind eine alte Geschichte: Horst Buchholz (Mitte) in seiner Paraderolle 1956
       
       Dieser Vorfall war dann, gemessen an den Aufregungen, die das ja eigentlich
       ehrpusselige und biedere Stuttgart neulich wieder zu verkraften hatte, nur
       noch kurios. Da sprach der abtrünnige AfD-Abgeordnete Heinrich Fiechtner im
       baden-württembergischen Landtag davon, alle, abgesehen von der AfD, fänden
       in der Königsstraße der Landeshauptstadt die Scherben ihrer Politik vor.
       Deutschland werde von Ausländern überrannt. Am Ende, nach all seinen
       Belfereien und seinem Gekläffe, wurde Fichtner von der Polizei aus dem Saal
       getragen, man hatte die Beleidigungen einfach satt.
       
       Und das war sowieso richtig so, denn das politische Establishment musste ja
       grübeln: Was, zum Teufel, sollte das neulich in der wichtigsten
       Einkaufsachse Stuttgarts? Jugendliche und Jungerwachsene, die meisten
       Männer, einige Frauen waren auch dabei, hatten, nachdem einer der ihren von
       Polizisten drogenkontrolliert werden sollte, sich gewehrt. [1][Daraus
       erwuchs schließlich ein übler Krawall, viele Scheiben der Geschäften waren
       zertrümmert worden], einige Polizisten verletzt, etliche der
       Krawalleur:innen festgenommen. Wäre es nur eine kleine Rangelei gewesen,
       hätte sich kein überregionales Medium interessiert, aber das Ding lief
       sogar über die „Tagesschau“, Horst Seehofer zeigte sich empört,
       Bundespräsident Frank Walter Steinmeier fand auch gewogene Worte für die
       Polizeien, die doch Respekt verdient hätten.
       
       Das Zauberwort des Ereignisses war indes: „Partyszene“. Manche sagten:
       „Eventszene“. Hilfsvokabeln ohne Sinn und Verstand, denn tatsächlich passte
       der Krawall von Stuttgart in gar keines der üblichen Wahrnehmungsraster.
       Die Protagonist:innen: ein europäisches Gemisch aus neudeutschen
       Bürger:innen, die meisten mit deutschem Pass, alle mit gültigem
       Aufenthaltsstatus, man registrierte Teilnehmende mit lettischer Herkunft,
       solche aus Portugal oder Belgien. Was sie in aller Öffentlichkeit einte,
       war kein politischer Sinn, nix FFF, Schwabida oder sonst wie gelabelt,
       sondern die schiere Lust an jugendlicher und jungerwachsener Präsenz in der
       Mitte der Stadt: Hey, hier sind wir, ihr könnt uns mal!
       
       Und genau dieses Phänomen, einfach zu sein, nicht nur Sein oder
       Absichtsvolles zu behaupten, Kontext zu stiften oder gar Alliierte zu
       ermitteln: Das ist historisch nicht neu, im Gegenteil, es ist das älteste
       Motiv öffentlicher Versammlung überhaupt. Partyszene? Das, was in Stuttgart
       vom Establishment beklagt wurde, sind Jugendkrawalle, Aufrühreien von
       Menschen, die keine Kinder mehr sind und an den Partys der Erwachsenen mit
       all ihren gesitteten Riten (noch) nicht teilnehmen dürfen. Schmuddelkinder
       zumeist, nicht gesellschaftsfähig, roh und gewalttätig, weil, nun ja, für
       Linke darf dies keinen Schreck auslösen, denn sie kennen dies ja, weil
       Gewalt (und ihre Androhung) auch Spaß bereit. Man darf das Wunsch nach
       Entgrenzung, nach Kampf und Risiko (um den Preis der Festnahme und
       Einsperrung, weiß doch jedes Kind) nennen – aber das gibt es überall auf
       der Welt, und das schon immer.
       
       ## Jugendrebellion im Film
       
       Richtig prominent wurde das, was als „Jugendkrawall“ auch ertragreich
       gegoogelt werden kann, nach dem Zweiten Weltkrieg. Ökonomische Prosperität,
       vor allem in den kapitalistischen Ländern, machte es Jugendlichen möglich,
       sich selbst zu inszenieren: Als die noch nicht fertigen Erwachsenen, mit
       schönen Körpern, vollen Kräften und Säften, gleich ob Männer oder Frauen,
       wer wem imponieren wollte, ist nie ganz ausgemacht. Deutsche Filme wie „Die
       Halbstarken“ oder der Hollywoodklassiker „Denn sie wissen nicht, was sie
       tun“ aus den Fünfzigern künden davon. Marlon Brando, James Dean, Horst
       Buchholz, Karin Baal – Jungerwachsene, die keinen Bock auf
       sozialpädagogische Einreden und verständnistriefende Zwangsgesten („Denk
       doch an dein Leben, mein Kind“) haben, sondern, nun ja, das ganze Paradies
       haben wollen, hier und jetzt, notfalls mit Krawall.
       
       Aufstände gegen die Erhöhung von Bierpreisen im 16. Jahrhundert, Randale
       gegen die Vertreibung von den Marktplätzen der Welt, besonders in den
       Jahren nach dem Nationalsozialismus hierzulande, als Jugendlichkeit im
       selbstbestimmten Sinne so recht erst erfunden wurde, als individuell
       möglicher Freiheitsrahmen: Eltern? Können mich mal!
       
       Aber das hat nie aufgehört und wird es nie. Riots in den französischen
       Vorstädten, in Hamburg bei Rock-’n’-Roll-Konzerten von Bill Haley, die
       Schwabinger Krawalle Anfang der Sixties, vor Paris oder anderswo, in
       Zürich, Tumulte im London der achtziger Jahre – Empörung nicht nach dem
       Schema Rassismus/Ausgrenzung/Diskriminierung, sondern mit der Lust am
       eigenen Irresein, an der Noch-nicht-Eingepasstheit der Erwachsenen mit der
       Ungewissheit an der eigenen Perspektive, die man aber, siehe aktuell
       Stuttgart, wenigstens für einen lauen Sommerabend vergisst.
       
       Jedes Volksfest, jeder Rummel, Jahrmarkt, Dom oder jede Kirmes, kennt das:
       Jungerwachsene, die sich bar jeden Ziels herumtreiben, ihresgleichen suchen
       und finden und über das verhandeln, um was es dann wirklich geht: Liebe
       (?), Sex (???), Männlichkeit (fraglich, selbstbestätigungsbedürftig),
       Weiblichkeit (unsicher, suchend), das Leben (das tollste überhaupt, wenn
       auch nur unbewusst, und das schlimmste zugleich, weil offen und damit
       ungewiss), die Eltern (meist: doof und einengend, verbietend).
       
       Jugendkrawalle – das gibt’s in jedem Dorf, in jeder Aushebelung des Legalen
       … Und das ist natürlich meist nicht harmlos, Jugendliche und Jungerwachsene
       sind ja nicht per se süß und knusprig, sondern auch böse und gemein. Treten
       die Schwächeren, machen sich über die lustig – und die Schwächeren
       versuchen, zu Stärkeren zu werden, und sei es körperlich.
       
       Aber vor allem dies haben sie gemeinsam: Das gute Leben, das muss möglich
       sein, das will man auch, das liegt in weiter Ferne und bis dahin ist Party.
       Kleine Chancen auf etwas, das passiert, das geschieht, das sich ereignet –
       jugendlich und jungerwachsen zu sein ist ja auch der dauernde Kampf gegen
       Langeweile, gegen das Noch-nicht-wissen-was-einem-Freude-bereitet.
       
       Insofern ist die Deutungsgier der etablierten Politiker:innen, ihr Fragen,
       was das denn heißt: „Partyszene“ – in Stuttgart wie anderswo: eher
       proletarischen Zuschnitts –, nur zu verständlich. Sie kennen junge
       Kader:innen, die gegen die Klimakrise kämpfen, voll Sinn sprechende junge
       Frauen, junge Männer mit Stipendium der Deutschen Studienstiftung, sie
       streiten für Gerechtigkeit im Sozialen oder, mehr als anrüchig natürlich,
       schließen sich neonaziartigen Gruppen an und fordern Bizarres, Deutschland
       den Deutschen etwa. Die aber waren ja in Stuttgart sehr präsent, als sie
       die Polizei nicht als letztes Wort nahmen, sondern ihre Worte anzufügen
       beanspruchten, Deutsche, die nicht wie Gretel und Hänsel aussehen, sondern
       wie Deutsche von heute eben. Sie sind also nicht erreichbar durch linke,
       ökologisch-inspirierte oder rechte Deutungsmuster, sie wollen nur einfach
       dies: ein Leben, das sich aus dem Jetzt heraus lohnt, als gäbe es kein
       Morgen. Sie wollen cool sein, trinken, quatschen, ein paar Drogen nehmen,
       den Moment für alle Ewigkeit (fest-)haltend.
       
       Dass das riskant sein kann, wissen die Inhaftierten, die doch alle so gern
       cool und unangreifbar wären, natürlich jetzt, das wusste alle „Rebellen
       ohne Grund“ (wie der Originaltitel von „Denn sie wissen nicht, was sie tun“
       lautet). Aber Abenteurertum ohne die Chance zum echten Absturz – das wäre
       keines. James Dean war so ein Rebell, der auf Altersvorsorge und der
       Hoffnung auf Weihnachtsgeld nichts gab. Im wahren Leben fuhr er mit seiner
       schnittigen Karre in den Tod – damit unsterblich werdend.
       
       Es ist, mit anderen Worten, faszinierend: Das Leben sei Party!
       
       25 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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