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       # taz.de -- Mit der Pandemie leben: Jugend in der Krise
       
       > Das Leben auf Abstand: hat die Coronakrise den Jugendlichen aufs Gemüt
       > geschlagen? Vier Protokolle von jungen Menschen.
       
   IMG Bild: Eine bewegte Jugend eben
       
       ## „Lernen, mit der Belastung umzugehen“
       
       Dank der Coronazeit fühle ich mich jetzt gut fürs Abi vorbereitet – weil
       wir lernen mussten, uns den Schulstoff selbstständig beizubringen. Aber das
       war nicht einfach. Dass es mir am Ende doch etwas nützen würde, hätte ich
       zu Beginn nicht gedacht. Als Mitte März die Schule plötzlich zumachte,
       waren ich und alle in meiner Klasse überfordert.
       
       Der Unterricht fand über Zoom, App oder per Mail statt. Für manche Fächer
       funktionierte das super, etwa Spanisch oder Kunst. Bei anderen Fächern
       lief es nicht so gut. Insgesamt mussten wir so viele Hausaufgaben machen
       wie nie zuvor. Gleichzeitig hatten wir Angst um unsere Noten – und was das
       für unser Abitur bedeuten könnte.
       
       Weil die Schulaufgaben kaum zu bewältigen waren, startete ich mit meinen
       Freundinnen zu Beginn der Quarantäne eine Onlinepetition. Unter dem Titel
       „Wir sind keine Roboter!“ sammelten wir 69 Unterschriften. Während dieser
       Zeit fand eine Lagebesprechung mit den Lehrern in der Schule statt, wo wir
       uns alle darüber austauschen konnten, wie es uns in der Coronazeit geht.
       Anschließend wurde die Belastung zwar nicht wirklich, wie angekündigt,
       weniger, aber wir lernten, besser damit umzugehen. Meine Freundinnen und
       ich starteten eine Lerngruppe: Ich half den anderen bei Mathe, dafür bekam
       ich Hilfe bei Deutsch und Geschichte. Mittlerweile lachen wir über unsere
       Petition.
       
       Nicht jeder in meiner Klasse hat zu Hause ein eigenes Zimmer, das erschwert
       das Homeschooling. Auch ich teile mir ein Zimmer mit meinen Geschwistern.
       Mein Tagesablauf war auf einmal auf den Kopf gestellt. Normalerweise ging
       ich früh aus dem Haus, weil ich einen langen Schulweg aus Marzahn nach
       Neukölln habe. Nach der Schule war ich meistens verplant: Schwimmkurs,
       Badminton, Freunde treffen oder verschiedene Workshops – ich hatte
       eigentlich immer etwas vor.
       
       Dass ich während der Coronazeit mehr Zeit mit meiner Familie verbringen
       konnte, war schön. Wir frühstückten immer gegen 8 oder 9 Uhr zusammen.
       Anschließend machte ich bis circa 15 Uhr meine Schulaufgaben auf meinem
       Bett. Nach dem gemeinsamen Mittagessen machte ich wieder bis 18 oder 19 Uhr
       Aufgaben für die Schule. Abends schauten wir öfter Filme oder spielten
       Karten. Außerdem half ich im Haushalt, beim Kochen und manchmal meinen
       Geschwistern bei ihren Onlineschulaufgaben.
       
       Seit ein paar Wochen können wir endlich wieder in die Schule gehen, das
       freut mich. Nicht nur wegen des Unterrichts, sondern auch, weil ich meine
       Freunde wiedersehen kann. Zurzeit habe ich nach der Schule mehr Zeit für
       mich als vor der Coronazeit. Denn Sportkurse und Workshops sind abgesagt.
       
       Ich würde gerne irgendwann mal als Kamerafrau und Künstlerin arbeiten. Denn
       während der Quarantäne habe ich manchmal den ein oder anderen kleinen Film
       geschnitten, das hat Spaß gemacht. Mein absoluter Traumberuf ist aber
       Astronautin. Das wollte ich früher schon werden, als ich noch in
       Afghanistan lebte. Wegen dem Gefühl: einfach weg von der Erde und allem zu
       sein! Die Welt von oben zu sehen – das muss toll sein.
       
       Protokoll: Sophie Schmalz 
       
       ## „Engagement bringt immer was“
       
       Ich habe gerade Abitur gemacht und wollte ein paar Monate auf Reisen gehen,
       meine Freunde in anderen Ländern besuchen, vor allem in Europa, aber auch
       in Südamerika und Asien. Daraus wird erst mal nichts wegen Corona. Ich kann
       mich aber noch nicht entscheiden, was ich studieren will, ich schwanke
       zwischen Neurowissenschaften und Jura. An Jura interessiert mich vor allem
       die Rote Hilfe, ich bin nämlich aktiv in einer linken Jugendgruppe.
       
       Jetzt suche ich mir erst mal einen Nebenjob. Ich habe mir auch überlegt, ob
       ich eine Ausbildung zum Rettungssanitäter mache, die dauert drei Monate –
       um praktische Erfahrungen zu sammeln vor dem Studium. Und man kann ja auch
       noch andere Sachen probieren, vielleicht ein Praktikum bei einer
       Non-Profit-Organisation. Man muss halt flexibel sein.
       
       Aber ich kenne auch viele Freunde, die einen Plan hatten für die nächste
       Zeit und sich jetzt sehr unsicher fühlen, weil das nicht mehr geht. Bei mir
       ist das nicht so, vielleicht weil ich erst 17 bin – ich habe noch genügend
       Zeit. Ich bin allerdings auch sehr privilegiert, kann mir Zeit nehmen mit
       allem, und ich weiß, dass ich von meiner Familie unterstützt werde.
       Überhaupt geht es uns ja weiterhin sehr gut in Deutschland, wir leben in
       einer sehr privilegierten Situation, wenn man das mit anderen Ländern
       vergleicht.
       
       Die Arbeit in der Jugendgruppe will ich auf jeden Fall weitermachen. Wir
       sind eine selbst organisierte linke Gruppe, machen Sachen gegen
       Gentrifizierung, gegen Klimawandel und Klassismus; wir organisieren Demos,
       Kundgebungen, machen Kiezradio, versuchen mehr SchülerInnen einzubeziehen.
       
       Ich finde, unsere Generation ist schon sehr politisch. Auch durch Social
       Media findet ständig ein Austausch statt, man kann viele Leute erreichen.
       Ich glaube, Jugendliche haben eigentlich so viel Macht, auch durch
       SchülerInnenrechte, Schülerparlamente, aber das wird teilweise nicht
       ausgenutzt.
       
       In unserer Jugendgruppe arbeiten wir teilweise auch mit Fridays for Future
       zusammen, Klimaschutz ist natürlich ein großes Thema unserer Generation.
       Gerade ist es leider durch Corona etwas untergegangen, obwohl die Bewegung
       ja weitermacht, es finden Aktionen statt, Kooperationen mit Ende Gelände,
       die Webinare. Wir sind ja die Generation, die in der Digitalisierung
       aufgewachsen ist. Dadurch kann der Austausch weiterhin stattfinden, nur
       eben online, es wird viel ausprobiert, unser soziales Netzwerk wird weiter
       ausgebaut. Aber das kann auch sehr anstrengend sein, weil einem ständig so
       viele Themen zufliegen, man lebt in einem ständigen Strom von
       Informationen.
       
       Vielen, die ich kenne, macht das große Sorgen. All diese Probleme auf der
       Welt: Klimawandel, das Flüchtlingsthema, die Aufstände gerade in Amerika,
       Hanau, der Rechtsextremismus, die Polizeigewalt. Hilflosigkeit und
       Weltschmerz sind darum sicher auch zwei Gefühle, die in unserer Generation
       weit oben stehen. Ich glaube aber, Engagement bringt immer was, auch wenn
       es immer ein längerer Prozess ist. Man muss Stellung beziehen. Aber es ist
       krass zeitaufwendig, sich mit vielen Dingen zu beschäftigen.
       
       Man könnte aus der Krise jetzt viel machen, sie hat vieles zutage gebracht,
       was schiefläuft und man ändern könnte – und müsste. Es ist eine spannende
       Zeit, zu sehen, wie die Politik jetzt handelt. Ob beim Gesundheitssystem
       oder beim Klima. Ich denke, wir leben schon in einer „besonderen“ Zeit –
       aber nicht im positiven Sinne. Viele Probleme, die es schon lange gibt –
       wie Rassismus oder soziale Ungleichheit – spitzen sich gerade immer mehr
       zu.
       
       Protokoll: Susanne Memarnia 
       
       ## „Angst hatten wir nur manchmal“
       
       Anfangs haben wir die Krankheit nicht so ernst genommen. Ich, Iremnur, hab
       das zum ersten Mal in den türkischen Nachrichten gesehen, dass es Corona
       gibt, als es in China losging. Wir haben beide nachgeguckt, was die
       Symptome sind, und zwischendurch dachten wir auch kurz, dass wir das haben.
       Unsere Eltern haben teilweise voll die Panik geschoben: Melis’ Baba ist
       komplett ausgeflippt und hat alles Mögliche eingekauft. Küchenrollen,
       Klopapier und Konserven mit Rotkohl und einen Fünfkilosack Bulgur. Meine
       Mutter hatte voll Coronapanik und sich ständig die Hände gewaschen und ganz
       viel Desinfektionsmittel gekauft.
       
       Wir lesen beide keine Zeitungen, aber unsere Eltern gucken Nachrichten,
       auch türkische, und wir hören das ja dann mit. Und wir lesen viel über das
       Handy über Corona. So richtig ernst haben wir es erst genommen, als in der
       Märzwoche noch darüber gestritten wurde, ob jetzt die Schulen schließen
       sollen und Melis’ Mom gesagt hat, dass sie sie nicht hinschickt, wenn die
       Schulen nicht geschlossen werden.
       
       Angst hatten wir nur manchmal. Mein Vater arbeitet im Krankenhaus und
       könnte sich anstecken. Etwas Angst hatte Melis auch am Anfang, dass ihr
       Vater seine Stelle verliert oder weniger arbeitet und kein Geld verdient.
       Unsere Eltern wurden auf Corona getestet, da hatten wir auch Angst um sie,
       aber der Test war zum Glück negativ, niemand in unserem direkten Umfeld
       hatte bis jetzt Corona.
       
       In den letzten Wochen sind wir fast nie rausgegangen, Melis und ich haben
       jeden Tag stundenlang telefoniert. Wir haben uns über unsere Hausaufgaben
       unterhalten und uns gegenseitig aufgebaut. Ich habe mich in einem
       Unterrichtsfach sehr angestrengt, Melis ist meine Zeugin, ich musste so
       viel in dem Fach nachholen. Meine Schwester hat mir oft geholfen und mein
       Vater auch, in Mathe. Ich konnte zum Glück am Computer meiner Schwester
       arbeiten, den sie aber auch benutzen musste, weil sie ihre Masterarbeit
       schreibt. Melis hat ihre Aufgaben am Laptop ihrer Mutter gemacht und musste
       sich am Anfang noch einen Drucker mit Scanner kaufen, weil die
       Arbeitsblätter ausgedruckt werden mussten. Mein Lehrer hat zweimal in der
       Woche angerufen und hat immer alles erklärt und die Arbeitsblätter mit der
       Post nach Hause geschickt. Wir haben uns beide verbessert, weil wir die
       Aufgaben selber einplanen und in Ruhe machen können.
       
       Uns fehlen die Freundinnen aus unseren Klassen, aber einige haben sich gar
       nicht mehr gemeldet, das sind wohl keine wahren Freunde. Bei mir zu Hause
       war es zwischendurch anstrengend, weil ich mir mit meinen Geschwistern ein
       Zimmer teile. Meine Mutter hat mir erlaubt, in ihr Zimmer zu gehen, wenn
       ich mal Ruhe brauche. Melis hat ihr eigenes Zimmer. In diesem Jahr fahren
       wir beide nicht in den Urlaub. Für Melis ist das trauriger, weil ihre
       Großeltern in der Türkei leben und sie sie nicht anstecken will und auch
       nicht angesteckt werden will.
       
       Was uns fehlt? Freunde treffen und shoppen. Manchmal hatten wir Tage, wo
       wir ziemlich unmotiviert waren. Melis’ Mutter zwingt sie dann, wenigstens
       spazieren zu gehen, mir fehlt der Sport und das Schwimmengehen. Das Gute
       ist, das wir jetzt beide gelernt haben, wie man sich in einer Pandemie
       verhält, und falls mal irgendwann noch eine Pandemie auftaucht, sind wir
       vorbereitet. Was wir noch sagen wollten: Ich fand es gut, dass man keine
       unnötigen Sachen kauft und nur das, was man braucht. Aber für viele alte
       und einsame Menschen war das bestimmt eine nicht so schöne Zeit, weil sie
       ihre Kinder oder Enkel nicht sehen konnten.
       
       ## „Mit Erspartem über Wasser halten“
       
       Mit dem Lockdown veränderte sich nichts an meinem Berufsalltag. Genau das
       war mein Problem. Als freier Journalist arbeite ich seit Jahren im
       Homeoffice. Wobei Office ein Euphemismus ist. Oft ist mein Arbeitsplatz
       bloß das Bett, nur für Interviews setze ich mich an meinen kleinen
       Schreibtisch.
       
       Schon vor Corona wusste ich: Ich will da raus. Ein Praktikum sollte endlich
       Veränderung bringen. Morgens das Haus verlassen, einen eigenen Platz in der
       Redaktion haben, mit Kolleg*innen über das Kantinenessen lästern. Doch noch
       bevor ich das Praktikum beginnen konnte, kamen die Ausgangsbeschränkungen.
       Und ich saß noch immer allein in meinem WG-Zimmer.
       
       Neu war, dass mein Terminkalender täglich leerer wurde. Freiberufliche
       Aufträge hatte ich vorausschauend abgelehnt. Ich wollte ja bereit sein für
       den neuen Arbeitsalltag in der Redaktion. Stattdessen drehte sich nun alles
       um die erzwungene Häuslichkeit. Was sollte ich nun tun mit dieser
       unfreiwillig gewonnen Zeit? Ich entschied mich für etwas, wozu ich im
       Homeoffice nie kam: rausgehen und lesen. Ein ambitioniert hoher
       Bücherstapel war schnell bestellt, eine sonnige Treppe am Landwehrkanal
       rasch gefunden.
       
       In den folgenden Lockdown-Wochen haben ich dann so viel gelesen wie wohl
       noch nie in meinem Leben. Sogar zu meinen älteren ungelesenen Büchern bin
       ich endlich gekommen: Ein halbes Jahr stand Deniz Yücels „Agentterrorist“
       in meinem Regal, gelesen habe ich es letztendlich an einem Tag. In den
       Werken des Kulturtheoretikers Mark Fisher bin ich wiederum jede Zeile so
       sorgfältig durchgegangen, dass ich oft nur wenige Seiten geschafft habe.
       
       Insgesamt habe ich zwei Textmarker und unzählige bunte Klebezettel während
       des Lockdowns verbraucht. Und wenn ich vom Lesen mal genug hatte, konnte
       ich meinen Blick über den Kanal schweifen lassen und die Reiher bei ihrer
       Jagd beobachten.
       
       Kein Frage, so idyllisch waren die Wochen vor allem auch deshalb, weil ich
       in einer entspannten Situation war. Ein befreundeter
       Veranstaltungstechniker erzählte mir am Telefon, er hätte alle Aufträge für
       die Festivalsaison verloren. Auch erreichte mich die Nachricht, dass der
       Opa einer Freundin an Corona gestorben war. Das waren alles
       Schicksalsschläge und Sorgen, die ich mir zum Glück nicht machen musste. In
       meiner Familie waren alle gesund, und mein Erspartes konnte mich im
       Lockdown über Wasser halten. Als ich nach zwei Monaten dann die E-Mail
       bekam, dass ich mein Praktikum endlich beginnen kann, war ich fast ein
       bisschen enttäuscht. Ausgerechnet Corona hatte mir einen Frühling beschert,
       in dem ich so viel draußen war wie nie.
       
       Jannis Hartmann
       
       23 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
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