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       # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Gericht gegen Gericht
       
       > Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof streiten
       > über die EZB-Anleihenkäufe. Das legt das fragile Fundament der EU bloß.
       
   IMG Bild: Die Karlsruher Richter haben die EZB ultimativ aufgefordert, sich zu den Anleihekäufen zu erklären
       
       Auf die Weisen zu hören ist in der Regel weise. Außer sie sind sich uneins.
       Der Streit zwischen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem deutschen
       Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über das Programm für den Rückkauf von
       Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) hat alle Welt
       verwirrt. Dabei war nicht unbedingt absehbar, dass das Public Sector
       Purchase Program (Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen
       Sektors, PSPP), mit dem die EZB seit 2015 öffentliche Anleihen der Eurozone
       zurückkauft, zu einem Streit zwischen den Robenträgern in Karlsruhe und
       Luxemburg führen würde.
       
       Doch dieser Fall, bei dem es um schwer durchschaubare Maßnahmen der
       Geld(markt)politik in einem Europa unter deutscher Hegemonie geht, macht
       die geballte Wirkung zunächst unbedeutender Details deutlich, welche Mängel
       das Gesamtsystem in Zeiten einer großen Krise offenbart.
       
       Das beginnt mit dem grotesken Schauspiel jener „Weisen“, die sich der
       Neoliberalismus als seine dienstbaren Geister der Entpolitisierung und der
       Entdemokratisierung zugelegt hat. Diese „Weisen“ verkörpern gewissermaßen
       das moderne Mysterium der unbefleckten Empfängnis im Vollzug der
       staatlichen Funktionsteilung: Institutionen wie Zentralbank,
       Finanzmarktaufsicht oder auch Verfassungsgericht wird eine engelsgleiche,
       politische und ideologische Unschuld unterstellt, die angeblich die
       Unparteilichkeit all ihrer Urteile verbürgt. Nach dem Motto: Durch
       Konformität zur Weisheit.
       
       Aber dieser idyllische Traum zerplatzt, wenn die Weisen selbst sich in die
       Haare geraten. Im Normalfall erscheint die Weisheit unteilbar. Aber sobald
       es zum Streit kommt, gibt es mindestens zwei Weisheiten. Und auch die
       Politik, der man die Tür gewiesen zu haben glaubte, kehrt durch den
       Hintereingang zurück.
       
       Worum geht es also wirklich? Es geht um die Art und Weise, wie die EZB auf
       den Finanzmärkten die von den europäischen Einzelstaaten ausgegebenen
       Schuldentitel zurückkauft. Diese Intervention ist besonders in Krisen
       überlebenswichtig, wenn die Finanzinvestoren panisch alles Hals über Kopf
       verkaufen und die Zinsen immer weiter in die Höhe treiben. Dem wirkt die
       EZB entgegen; ihre Aufkäufe tragen maßgeblich dazu bei, die Zinsen auf
       einem angemessenen Niveau zu halten – andernfalls würden in vielen Ländern
       die Kosten des staatlichen Schuldendienstes explodieren.
       
       ## Verfassungsrichter als Währungshüter
       
       Ohne dieses Eingreifen mit astronomischen Summen hätte der Euro 2012 sein
       Leben ausgehaucht, und er würde auch heute wieder in den letzten Zügen
       liegen. Wer könnte also nur auf die Idee kommen, sich den geldpolitischen
       Maßnahmen der EZB zu widersetzen, die quasi im Alleingang das
       Friedensprojekt zwischen den europäischen Völkern retten? Richtig: das
       deutsche Bundesverfassungsgericht.
       
       Beim Geld hört in Deutschland bekanntlich der Spaß auf. Und das deutsche
       Verfassungsgericht ist vermutlich die Instanz, mit der am wenigstens zu
       spaßen ist. Übrigens hatte es schon bei der Ratifizierung der
       Maastricht-Verträge angekündigt, genau zu beobachten, was die EBZ tut, jene
       neu entstandene Institution also, der Deutschland zitternd und zagend seine
       heißgeliebte D-Mark anvertraut hatte. Darauf kam das BVerfG in den 2010er
       Jahren zurück, als die dramatischen wirtschaftlichen Verwerfungen im
       Euroraum die EZB zu „außergewöhnlichen Maßnahmen“ veranlasst hatten.
       
       Damals nutzten die deutschen Währungshüter, die bereits das Attribut
       „außergewöhnlich“ in höchste Unruhe versetzt, die Chance, gemeinsam mit dem
       BVerfG die Vereinbarkeit des PSPP mit den Maastricht-Verträgen und mit dem
       Status der EZB zu prüfen. Schon 2014 hatte das deutsche Gericht die
       schroffe Ansicht geäußert, die Interventionen der EZB seien mit dem
       EU-Recht unvereinbar, und gleichzeitig den EuGH ersucht, diese
       Rechtsauffassung durch die Begrenzung des EZB-Mandats für die
       Währungspolitik zu bestätigen.
       
       Der EuGH antwortete erst 2018 – nach erneuter Mahnung – und wies die
       Unvereinbarkeitsvermutung des BVerfG zurück. Zwei Jahre später bringt das
       höchst ungehaltene Karlsruher Gericht seine Weisheit erneut gegen die der
       Luxemburger Richter in Stellung. Die beiden Weisen verurteilen sich also
       wechselseitig, und derzeit sind es die deutschen Verfassungsrichter, die
       ihre europäischen Kollegen der Missachtung des Rechts beschuldigen.
       
       ## Kreditgeber letzter Instanz
       
       Mit welcher Begründung? Die Maastricht-Verträge und die EU-Statuten, so das
       BVerfG, unterwerfen die Interventionen der EZB dem Gebot der
       „Verhältnismäßigkeit“ – das im vorliegenden Fall verletzt worden sei. Aber
       was bedeutet Verhältnismäßigkeit? Dafür gibt es mindestens drei Kriterien.
       
       Erstens darf der Rückkauf der öffentlichen Schuldentitel durch die EZB 33
       Prozent eines Anleiheprodukts nicht überschreiten – tatsächlich hat die EZB
       dieses Gebot bislang eher lax interpretiert. Zweitens soll sich die
       Aufteilung der Rückkäufe aus den Mitgliedstaaten nach deren Anteil am
       Grundkapital der EZB richten – diese Regel wurde sogar beim jüngsten,
       pandemiebedingten Notankaufsprogramm eingehalten.
       
       Es war vor allem der Umgang mit dem dritten Kriterium, das den deutschen
       Zorn erregt hat: Die Interventionen der EZB dürfen keine
       „unverhältnismäßigen“ Nebenwirkungen für die Wirtschaft haben. Aber was
       sind die Kriterien für „Unverhältnismäßigkeit“? Das BVerfG verweist hier
       auf die Verluste, die den Sparern durch die von der Zentralbank bewusst
       niedrig gehaltenen Zinssätze entstünden.
       
       Hätte man die Zinsen auf ihrem Höhenflug belassen und damit das Wachstum
       erstickt, hätte allerdings das in Aktien investierte Kapital der Sparer
       gelitten. Und was, wenn das gesamte Europrojekt platzen und die
       Finanzindustrie zu Boden gehen würde? Würden sich die gesamten Ersparnisse
       der Leute dann nicht erst recht in Luft auflösen?
       
       ## Beruhigungsmittel für die Finanzmärkte
       
       Hier zeigt sich, was passiert, wenn Geld zum Gegenstand von
       Verfassungsrecht wird. Die Verfassungsrichter köcheln sich eine halbgare
       ökonomische Theorie zusammen, die in dem absurden Anspruch gipfelt, die
       Geldpolitik „verrechtlicht“ zu haben. Darin äußert sich eine sehr deutsche,
       dem Trauma der Hyperinflation (von 1923) entspringende Vorstellung: Regeln
       als Beruhigungsmittel.
       
       Es ist aber gerade in Krisenzeiten nicht möglich, die Geldpolitik
       vorgefassten Regeln zu unterwerfen. Um auf von Panik erfassten
       Finanzmärkten erfolgreich intervenieren zu können, muss der Staat als
       „Kreditgeber letzter Instanz“ auftreten: als souveränes Organ, das von
       allen Beschränkungen, denen die anderen ökonomische Akteure unterliegen,
       befreit ist.
       
       Die Zentralbank spielt dabei eine zentrale Rolle, weil sie die einzige
       Quelle der Geldschöpfung „aus dem Nichts“ ermöglicht, die sich allein auf
       ihr symbolisches Kapital an Glaubwürdigkeit stützt. Dieses gesamte
       Vertrauenskapital ist im Krisenfall einzusetzen, um so viel Geld zu
       schöpfen, wie es nötig ist, um sich den auf die Anleihemärkte drängenden
       Finanzmassen entgegenzustemmen. Nichts anderes bedeutete im Juli 2012 Mario
       Draghis „Whatever it takes“. Allein diese Verkündung einer unbegrenzten
       Interventionsbereitschaft konnte damals die Märkte beruhigen und den Euro
       retten. Ebensolche Maßnahmen sind in der gegenwärtigen, noch weit größeren
       Krise unbedingt geboten.
       
       Genau dem widersetzt sich jedoch das deutsche „Gelddogma“ mit aller Kraft
       und droht damit das gesamte europäische Gebäude juristisch in die Luft zu
       sprengen. Doch ökonomisch gesehen gibt es für die Geldpolitik in der Krise
       nur eine Regel: dass es dafür keine Regel gibt. Die staatliche Geldpolitik
       bewegt sich in solchen Zeiten zwangsläufig im Bereich des „Unregelbaren“.
       Aber diese simple Einsicht ist für das deutsche „Geldethos“ unerträglich –
       jedenfalls für das der Verfassungsrichter.
       
       ## Schlag ins Gesicht der deutschen Europaseligkeit
       
       Eingedenk der Hyperinflation von 1923 lehnt die deutsche Geldpolitik strikt
       jeglichen Ermessensspielraum ab, den sie als fatalen Missbrauch begreift
       (was übrigens allgemein betrachtet nicht ganz falsch ist). Aber leider
       lässt die Rolle des Geldes in der kapitalistischen Wirtschaft keine andere
       Wahl: Wenn auf den Kapitalmärkten, die auch die EU großzügig dereguliert
       hat, die Krise einmal ausgebrochen ist, kann den Zerfall der Währung nur
       noch die souveräne Handlung des Staates als Gläubiger letzter Instanz
       aufhalten – ein Handeln nach völlig freiem Ermessen, dem geraden Gegenteil
       einer festen Regel.
       
       [1][Der deutsche Ordoliberalismus], der die gesamte EU-Struktur prägt,
       verfolgt im Grunde zwei konträre Ziele: Er fordert einerseits deregulierte
       Kapitalmärkte als Zuchtmeister der Wirtschaftspolitik und andererseits
       feste Regeln für die Geldpolitik. Doch die verliert damit jede Möglichkeit,
       auf plötzlich entstehende Krisen zu antworten, die auf den Geld- und
       Währungsmärkten immer wieder auftreten.
       
       Genau dieser Widerspruch bricht nun erneut auf – und wirkt wie ein Schlag
       ins Gesicht der deutschen Europaseligkeit. Denn plötzlich ist man hin- und
       hergerissen zwischen zwei unvereinbaren Leidenschaften, die bislang als
       identisch galten: die Liebe zur Europäischen Union und zu Deutschland.
       
       Dass man beide Gefühle nicht abwechselnd bedienen kann, liegt auf der Hand.
       Dabei ist das eigentliche, oft unterschlagene Problem ein anderes: die
       Gefahr eines nicht mehr beherrschbaren Chaos. Deutschland glaubte immer, es
       könne sich vor der Diskussion über die Verteilung der Kompetenzen und
       Zuständigkeiten in Europa drücken und alle Probleme in der
       „Verfassungstruhe“ der EU-Verträge deponieren.
       
       ## Eine Demokratie, die noch nicht existiert
       
       Aber den Schlüssel für diese Truhe besitzt definitionsgemäß der EuGH.
       Folgerichtig brach der jüngste Konflikt genau in diesem Grenzbereich aus –
       und legte damit das fragile Fundament des europäischen politischen Gebäudes
       bloß. Aus Sicht des EuGH kann er allein, als oberste
       Rechtsprechungsinstanz, die einheitliche Anwendung des europäischen Rechts
       sichern. Deshalb sei es nicht statthaft, dass ihm ein nationales
       Verfassungsgericht, das in der Hierarchie unter ihm angesiedelt ist, diesen
       Vorrang bestreitet. Schließlich würde das nur dazu führen, dass nationale
       Gerichte Einsprüche ohne Ende erheben.
       
       Das deutsche Bundesverfassungsgericht beansprucht indes die gleiche Rolle
       und verweist auf den Rechtsstandpunkt, den es seit 1993 entwickelt hat:
       Solange die umfassenden demokratischen Institutionen fehlten, die Europa
       erst zu einer vollständigen, wirklich legitimierten politischen
       Gemeinschaft machen würden, sei die Union als „zwischenstaatliches Gebilde“
       zu betrachten. Und so beansprucht das deutsche Gericht, selbst zu
       bestimmen, was sie für die fundamentalen Interessen der Deutschen hält –
       wie etwa den Umgang mit deren Geld.
       
       Man mag diese Haltung lächerlich finden. Und im Rückblick muss man
       erkennen, wie unsinnig es war, sich mit diesen Deutschen auf eine
       gemeinsame Währungsunion einzulassen. Dennoch haben die Urteilsgründe des
       Karlsruher Gerichts durchaus ihr Gewicht. Denn tatsächlich hat das
       europäische Modell bis heute sein Zwitterdasein nicht überwunden. Es
       verharrt im Niemandsland der Souveränität, hat also die rein nationale
       Ebene zwar verlassen, ist aber noch nicht auf der europäischen Ebene
       angekommen. Folgerichtig hat das deutsche Gericht schon früh daran
       erinnert, dass die Entscheidungen der Union mangels wirklich souveräner
       Instanzen an einem Legitimitätsdefizit leiden.
       
       In seiner Rolle als Hüter der „deutschen Demokratie“ widersetzt sich das
       Karlsruher Gericht nicht grundsätzlich einer Übertragung von Hoheitsrechten
       an übernationale Instanzen. Es fordert jedoch schlicht und ziemlich
       schlüssig, dass „eine Etage höher“ erst einmal die legitimierte Instanz
       vorhanden sein müsse, auf die die Entscheidungsmacht übergehen kann. Die
       fehlt jedoch nach wie vor.
       
       ## Prinzip einer unabhängigen Zentralbank
       
       Angesichts eines noch nicht demokratischen Europas hält es das deutsche
       Gericht für gerechtfertigt, das demokratische Selbstbestimmungsrecht
       weiterhin dort zu verankern, wo es derzeit zwangsläufig angesiedelt ist:
       auf der nationalen Ebene. Der EuGH mag der Hüter der demokratischen Rechte
       in Europa sein, aber er ist es in einer europäischen Demokratie, die noch
       nicht existiert.
       
       Den deutschen Verfassungsrichtern mangelt es also nicht an argumentativer
       Schlagkraft; ebenso wenig jedoch an Widersprüchen. Sie kleiden sich zwar
       ins Gewand demokratischer Prinzipienwächter, aber nur, um eine
       Institution zu verteidigen, die am wenigsten demokratisch legitimiert ist,
       nämlich die unabhängige Zentralbank.
       
       Genauer: Sie verteidigen das Prinzip einer unabhängigen Zentralbank – und
       werfen der EZB damit vor, sich nicht an dieses im Grunde undemokratische
       Prinzip zu halten. Vielleicht sind sich die Karlsruher Richter dieses
       Widerspruchs nicht einmal bewusst. Wären sie es, würden sie zweifellos
       erwidern, dass Deutschland ja auf demokratischem Wege entschieden habe, mit
       der eigenen Zentralbank eine Institution zu schaffen, die sich der üblichen
       demokratischen Kontrolle entzieht. Der deutschen Auslegung widersprochen
       haben bislang einige der EU-Mitgliedstaaten, die sich von den
       geldpolitischen Obsessionen der Deutschen nicht haben anstecken lassen.
       Aber die Rede von der deutschen Hegemonie ist keine leere Drohung, und in
       der Vergangenheit hat die Berliner Regierung ihre Macht mit voller Härte
       eingesetzt, um die anderen zum Schweigen zu bringen.
       
       Hier beginnt nun ein völlig neues Spiel zwischen Deutschland und den
       europäischen Institutionen – und zwar auf höchster Ebene. Die EZB und
       neuerdings auch die Europäische Kommission drohen damit, gegen Deutschland
       ein Verfahren wegen Verstößen gegen das EU-Recht einzuleiten. Ein äußerst
       ehrgeiziges Vorhaben, für das es freilich allen Grund gibt: Das Karlsruher
       Gericht hat die EZB – deren eigene Statuten sie gerade von jeglicher
       Erklärungspflicht entbinden – ultimativ aufgefordert sich zu erklären und
       es davon zu überzeugen, dass sie die Kriterien der „Angemessenheit“ sehr
       wohl einhält. Andernfalls könnte der Bundesbank untersagt werden, sich an
       dem EU-Anleiheprogramm zu beteiligen.
       
       ## Im Niemandsland der Souveränität
       
       Zu dem schon angerichteten juristischen Chaos käme damit das
       finanzpolitische hinzu. Denn selbstredend würde es das Ende des Euro
       bedeuten, wenn sich Europas stärkste Wirtschaftsmacht nicht mehr an den
       Operationen des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) beteiligen
       würde – und das in einer Situation, in der sein Funktionieren
       überlebenswichtig ist.
       
       In dem Anflug von Panik, der nun die Eurozone ergreift, sind alle hastig
       zusammengeschusterten „Lösungen“ gleichermaßen trübselig. Einige wollen die
       [2][Vergemeinschaftung der Staatsschulden (in Form von Eurobonds oder
       Coronabonds)] durchsetzen und übersehen dabei, dass eine Vergemeinschaftung
       der Schulden das Handeln des Gläubigers letzter Instanz niemals ersetzen
       kann. Denn es handelt sich um zwei völlig verschiedene Maßnahmen.
       
       Die eine, die Vergemeinschaftung der Staatsschulden durch Eurobonds, ist
       praktisch ein Arrangement zwischen Staaten mit dem Ziel, für einige
       (wenige) die Schuldenlast zu verringern – eine Übereinkunft, die freilich
       in Krisenzeiten das Misstrauen der Finanzinvestoren nicht eindämmen
       könnte. Das könnte nur eine Maßnahme, die in den alleinigen
       Verantwortungsbereich der Zentralbank fällt: der Rückkauf von
       Schuldentiteln in astronomischem Umfang.
       
       Andere interessieren sich nicht für solche technischen Details und
       argumentieren, gerade jetzt sei der ideale Zeitpunkt für den großen
       demokratischen Fortschritt gekommen – ein frommer Wunsch, der sich nur mit
       einer gehörigen Portion stimmungsaufhellender Substanzen aufrechterhalten
       lässt. So also steht es um die europäische Einigkeit in dramatischen
       Krisenzeiten.
       
       Eine wirklichkeitsnähere „Lösung“ ist weniger berauschend, aber vielleicht
       die einzig praktikable: Die staatlichen Hauptdarsteller selbst müssten
       sich, nachdem sie den zweiten Akt ihres Dramas großsprecherisch und vor
       aller Welt dargeboten haben, auf ein Hinterzimmergeschäft einlassen, um den
       Schaden einzudämmen, zum Beispiel auf einen Kompromiss zwischen den beiden
       Rechtspositionen.
       
       Er könnte darin bestehen, dass die EZB aufgefordert wird, die
       Verhältnismäßigkeit ihrer Anleihepolitik zu „erläutern“, woraufhin diese
       eine entsprechende „Erläuterung“ liefert. Sie würde also die brave Tochter
       spielen und sich der Denkweise der deutschen Richter anpassen. Doch
       zugleich könnte die EZB, unter Einsatz des üblichen ökonometrischen
       Blendwerks, ihren Karlsruher Kritikern klarmachen, dass es für den
       deutschen Sparkurs insgesamt weitaus günstiger wäre, das Anleiheprogramm
       durchzuziehen, als es zu kippen. Dass also die EZB mit ihrem Vorgehen dem
       „Gebot der Verhältnismäßigkeit“ voll und ganz gerecht wird.
       
       Auf einem ganz anderen Blatt steht, wie nachhaltig eine solche „Lösung“
       sein kann. Mit geflickten Reifen kann man nicht lange fahren. Probleme, die
       man unter den Teppich kehrt, bestehen fort, zumal wenn sie so grundlegend
       sind. Der Brexit betrifft zwar nicht direkt die Eurozone, aber er hat mit
       dem gegenwärtigen Rechtsstreit um die EZB-Politik eines gemeinsam: den
       Ursprung in jenem europäischen Bermudadreieck, in dem bislang jeder Entwurf
       einer gemeinsamen europäischen Souveränität verschwunden ist.
       
       Deshalb hätte es seine innere Logik, wenn die europäische Fehlkonstruktion
       an ihrer zentralen gedanklichen Leerstelle scheitern würde, und das ist die
       demokratischen Selbstbestimmung.
       
       Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke
       
       30 Jun 2020
       
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