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       # taz.de -- Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke: Der Rechtsstaat übernimmt
       
       > In Frankfurt hat der Prozess zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten
       > Lübcke begonnen. Die Angeklagten schweigen, ihre Anwälte attackieren.
       
   IMG Bild: Setzen mit ihrer Teilnahme am Prozess ein Zeichen gegen Hass und Gewalt: Familie Lübcke
       
       Dann ist er da. Um kurz nach zehn Uhr am Dienstag wird Stephan Ernst in
       Handschellen in den Saal 165 des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main
       gebracht. Der 46-Jährige blickt starr in den Saal. Er trägt ein weißes Hemd
       und schwarzes Jackett, die Haare sind zum Seitenscheitel gegelt. Ein
       ungewohntes Bild. Auf den Fotos seiner Festnahme trug Ernst noch ein
       schlabbriges Shirt und Struwelfrisur, auf noch früheren Bildern ein Hemd
       mit NPD-Emblem. Nun aber müht sich Ernst um ein ganz anderes Auftreten, ein
       seriöses. Und versteckt sich nicht, blickt offen in den Kameras.
       
       Es ist der Beginn eines historischen Prozesses. Denn Stephan Ernst soll vor
       einem Jahr, in der Nacht zum 2. Juni 2019, den [1][Kasseler
       Regierungspräsidenten und CDU-Politiker Walter Lübcke] vor dessen Haus
       erschossen haben. Die Tat war ein Fanal: Erstmals im Nachkriegsdeutschland
       ermordete offenbar ein Rechtsextremist einen Politiker. Nun richtet die
       Justiz über die Tat.
       
       Schon in der Nacht versammeln sich Interessierte vor dem Gerichtsgebäude.
       Einige haben Campinghocker dabei, es nieselt, ein Demonstrant spaziert mit
       einem Schild vorbei: „Demokratische Werte sind unsterblich“. Schnell sind
       es weit mehr Leute, als aufgrund der Coronapandemie in den Saal dürfen. Nur
       18 BesucherInnen und 19 JournalistInnen wird dies erlaubt, die taz ist
       dabei.
       
       Drinnen gelten strikte Abstandsregeln, die Beteiligten werden mit
       Plexiglasscheiben voneinander abgeschirmt. Hinter einer sitzt nun Stephan
       Ernst, ein vielfach vorbestrafter Kasseler Rechtsextremist, Handwerker,
       zweifacher Vater. Hinter einer weiteren Scheibe sitzt Markus H., ein
       Zeitarbeiter, ebenfalls Rechtsextremist aus Kassel. Auch er ist angeklagt,
       als Mordhelfer. Der 44-Jährige soll Ernst psychische Beihilfe zu der Tat
       geleistet haben, indem er ihn im Mordplan bestärkte. Anders als Ernst aber
       versteckt der Mann mit der Halbglatze und dem von seiner Wampe spannenden
       Polohemd sein Gesicht unter einer Kapuze. Später gibt er sich bewusst
       unbeteiligt, mit verschränkten Armen oder plaudernd mit seinen Anwälten.
       
       Und auf der anderen Seite des Saals sitzen: Irmgard Braun-Lübcke,
       Jan-Hendrik und Christoph Lübcke, die Frau und Söhne von Walter Lübcke,
       allesamt mit erstarrten Mienen, dunkel gekleidet. Im Prozess treten sie als
       Nebenkläger auf. Genauso wie Ahmad E., ein junger irakischer Geflüchteter,
       den Ernst ebenso niedergestochen haben soll, im Januar 2016 schon.
       
       Um diese Tatvorwürfe geht aber vorerst gar nicht. Denn schon gleich nachdem
       Richter Thomas Sagebiel das Verfahren eröffnet hat, machen die Verteidiger
       der beiden Angeklagten mobil. In einer Kaskade von Anträgen fordern sie die
       Ablösung von Sagebiel, weil dieser befangen sei. Außerdem: Die Aussetzung
       des Verfahrens, wegen Ansteckungsgefahren durch die Coronapandemie, weil es
       mehr Zeit zum Lesen der 90.000 Aktenseiten brauche, weil es eine
       Vorverurteilung der Angeklagten gebe und kein faires Verfahren. Und weil
       die Öffentlichkeit im Prozess beschnitten sei, die Arbeitsbedingungen für
       Journalisten „unwürdig“. Björn Clemens, der Anwalt von Markus H., beklagt
       zudem einen Farbanschlag auf sein Anwaltsbüro am Morgen. Der Prozess dürfe
       nicht fortgesetzt werden, bis seine Sicherheitslage geklärt sei.
       
       Zweieinhalb Stunden geht das so. Antrag um Antrag, Seite um Seite. „Schwer
       erträglich“ sei dieser Vormittag für die Familie Lübcke gewesen, sagt
       danach ihr Anwalt Holger Matt. „Alle Anträge sind unbegründet, und die
       Verteidiger wissen das auch.“
       
       Es dauert dann bis zum Nachmittag, bis Oberstaatsanwalt Dieter Killmer doch
       noch die Anklage verlesen kann. Also das, worum es hier im Saal 165
       eigentlich geht. Der [2][Vorwurf gegen Stephan Ernst] lautet Mord und
       versuchter Mord. Ausgangspunkt sei eine Bürgerversammlung im Oktober 2015
       in Kassel-Lohfelden gewesen, auf der Walter Lübcke über eine geplante
       Asylunterkunft informierte. Auch Ernst war vor Ort, die Aufnahmestelle lag
       in seiner Nachbarschaft, ebenso Markus H. Als Lübcke von Rechten gestört
       wurde, rief dieser, dass wer die hiesigen Werte nicht teile, Deutschland ja
       verlassen könne. Dieser Satz sei es gewesen, sagte Ernst den Ermittlern,
       der ihn nicht mehr losgelassen habe.
       
       ## Lübckes blicken den Angeklagten direkt ins Gesicht
       
       Laut Anklage spähte Ernst das Haus der Lübckes bereits seit 2016 aus. In
       der Nacht zum 2. Juni 2019 sei er dann zur Tat geschritten. Als Lübcke
       rauchend mit einem Tablett auf seiner Terrasse saß, habe er sich von einer
       benachbarten Pferdekoppel aus angeschlichen und den 65-Jährigen mit einem
       Kopfschuss getötet.
       
       Ernst verfolgt die Anklageverlesung ohne Rührung, blickt auf den Tisch vor
       sich. Die Lübckes blicken den Angeklagten dagegen fast ohne Unterbrechung
       ins Gesicht. Die Tat hatte Ernst den Ermittlern gestanden, nachdem diese
       ihn wegen zweier DNA-Spuren auf dem Hemd von Lübcke festgenommen hatten.
       Auch legte er das Versteck mit dem Tatrevolver und anderen Waffen offen:
       ein Erddepot bei seinem Arbeitgeber, einem Bahntechnikhersteller. Dann aber
       widerrief Ernst sein Geständnis. Und beschuldigte den Mitangeklagten Markus
       H., eigentlich ein langjähriger Freund. Gemeinsam sei man zu Lübcke
       gefahren, um diesen „einzuschüchtern“. Als der CDU-Mann sie habe
       verscheuchen wollen, habe H. ihm „versehentlich“ in den Kopf geschossen.
       
       Welche der Versionen stimmt? Es ist diese Frage, die das Gericht nun klären
       muss. Ernst ist dabei erst mal keine Hilfe mehr. Er werde vorerst keine
       Aussage machen, erklärt dessen Anwalt Mustafa Kaplan, der zuletzt auch als
       NSU-Nebenklageanwalt auftrat.
       
       Die Bundesanwaltschaft legt sich in ihrer Anklageschrift jedoch bereits
       fest: Die zweite Version von Ernst sei widersprüchlich und konstruiert. Das
       erste, vierstündige Geständnis aber decke sich mit den
       Ermittlungsergebnissen und sei weiterhin glaubwürdig. Auch für das Gericht
       ist dieses Geständnis weiter verwertbar. Richter Sagebiel hilft, dass sich
       Ernst dabei filmen ließ. Er wird sich die nächsten Monate nun mit
       DNA-Spuren, Chatnachrichten und Zeugenaussagen beschäftigen.
       
       ## Richter Sagebiel lehnt die Anträge der Verteidiger ab
       
       Denn auch Markus H. schweigt. Markus H., ein Zeitarbeiter und ebenso
       langjährige Rechtsextremist, sendet an diesem Dienstag auch eine Botschaft:
       Vertreten lässt er sich just von zwei Szeneanwälten, dem früheren
       Republikaner Björn Clemens und dem einstigen NPD-Mitglied Nicole
       Schneiders, die zuletzt auch den NSU-Terrorhelfer Ralf Wohlleben vertrat.
       Beide zielen auf einen Freispruch.
       
       Tatsächlich ist bei Markus H. der Prozessausgang offener. Direkte Beweise,
       dass der 44-Jährige von dem Mordplan wusste, haben die Ankläger nicht –
       womöglich auch, weil beide Angeklagte nach der Tat ihre Chatnachrichten
       untereinander löschten. Aufgrund verschiedener Andeutungen von Ernst habe
       er diesen aber für möglich gehalten, argumentiert die Bundesanwaltschaft.
       Und seinen Freund bestärkt, indem er ihn zu Schießtrainings in
       Schützenvereinen und Wäldern oder auf AfD-Demos nahm.
       
       Clemens hält das „für ganz dünnes Eis“. Er fordert am Dienstag, die
       Einstellung des Verfahrens gegen Markus H. und dessen Freilassung. Die
       Ermittler hätten „suggestiv“ gegen seinen Mandanten ermittelt, ihm Akten
       vorenthalten, ihn vorverurteilt. „Er wurde öffentlich hingerichtet.“
       
       Auch die Verteidiger von Ernst, neben Mustafa Kaplan der als pegidanah
       geltende Frank Hannig, überziehen das Gericht mit Kritik. Vor allem aber
       werfen sie Richter Sagebiel vor, dass er mit Nicole Schneiders eine
       Verteidigerin zuließ, die bereits den ersten Verteidiger von Ernst
       anwaltlich vertrat – den Ernst geschasst und beschuldigt hatte, ihn zu dem
       angeblich falschen ersten Geständnis gedrängt zu haben. Nun sei Schneiders
       die Anwältin von Markus H., „ein Interessenkonflikt“, moniert Kaplan.
       
       Richter Sagebiel indes lehnt die Anträge der Verteidiger ab oder stellt sie
       zurück. Auch die Bundesanwaltschaft hält alle Anträge für haltlos. Die
       Lübckes, die als Nebenkläger im Prozess sitzen, verfolgen all dies wie
       versteinert. Die Teilnahme am Prozess sei ihnen eine „Verpflichtung“,
       erklärte die Familie vor dem Prozess. Und: Im Sinne Walter Lübckes „wollen
       auch wir dafür eintreten, dass Hass und Gewalt keinen Platz in unserer
       Gesellschaft haben sollen“.
       
       ## Prozesstage sind bis Oktober angesetzt
       
       Auch Ahmad E. hofft auf eine Verurteilung von Ernst. Der Rechtsextremist
       soll den Iraker am 6. Januar 2016 von hinten mit einem Messer
       niedergestochen haben, just vor der Asylunterkunft in Lohfelden, über die
       Walter Lübcke ein Vierteljahr zuvor informierte. Die Tat bestreitet Ernst.
       Den Ermittlern aber gestand er, dass er sich an dem Tag über die Kölner
       Silvesternacht aufgeregt habe, Wahlplakate abriss, einen anderen Migranten
       bedrohte. Und die Polizisten fanden in seinem Keller ein Messer mit
       DNA-Spuren von Ahmad E.
       
       Bis zu einem Urteil wird es dauern, bisher sind die Prozesstage bis Oktober
       angesetzt. Schon am Donnerstag geht es weiter. Wird Ernst verurteilt, droht
       ihm eine lebenslange Haftstrafe. Die Bundesanwaltschaft hält auch eine
       Sicherungsverwahrung für möglich. Eine verminderte Schuldfähigkeit liegt
       laut einem Psychiater nicht vor.
       
       Richter Thomas Sagebiel motiviert Stephan Ernst und Markus H. ganz am Ende
       des Prozesstages deshalb zu einer Aussage, wenn es etwas zu gestehen gebe.
       „Nutzen Sie Ihre beste Chance, vielleicht Ihre einzige Chance“, sagt
       Sagebiel. „Hören Sie nicht auf Ihre Verteidiger, sondern auf mich.“
       
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       16 Jun 2020
       
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