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       # taz.de -- Neues Album von US-Jazzsaxofonist: Die Ersatzfamilien des Gary Bartz
       
       > Er hat mit Jazzlegenden gespielt, nun ist US-Saxofonist Gary Bartz selbst
       > eine. Seine Karriere krönt er mit einem Album zusammen mit der Band
       > Maisha.
       
   IMG Bild: Black Power am Saxofon: Gary Bartz bei der Arbeit
       
       „Jazz?“ Das sei wie das [1][N-Wort], meint Gary Bartz. Eine abwertende
       Bezeichnung, entstanden vor rund 100 Jahren in den Bordellen von New
       Orleans. Berühmte Musiker wie Charles Mingus, [2][Art Blakey] und Miles
       Davis hätten den Begriff nie in den Mund genommen. Bartz muss es nun
       wirklich wissen: Er hat mit allen dreien gespielt, und mit Davis hat er
       sogar große Stadien während dessen elektrischer Phase beschallt.
       
       Im August 1970 spielte der US-Saxofonist mit dem Trompeter vor
       Hunderttausenden beim britischen Isle-of-Wight-Festival, auch bei den
       Aufnahmen von Davis’ brachialem Doppelalbum „Live Evil“ war Bartz dabei.
       „Ich habe mit vielen guten Bandleadern gearbeitet“, erinnert sich der
       79-Jährige. „Aber Miles war der größte. Er musste gar nichts sagen, er
       lehrte mich ohne Worte. Miles war imstande, seine Musik so oft zu ändern,
       weil er zuhörte.
       
       Viele MusikerInnen haben ihre Stimme nicht gefunden, weil sie nicht wissen,
       was sie hören. Miles wusste: Zuhören ist wichtiger als Spielen. Außerdem
       war toll, wie er seine Band leitete. Ich wurde Teil seiner Familie. Ich
       konnte gar nichts falsch machen.“
       
       ## Jazz ist spirituell
       
       Gary Bartz, der im Herbst seinen 80. Geburtstag feiern wird, ist in vielen
       Familien zu Hause: Seit 2019 ist der in Baltimore Gebürtige nun Teil einer
       Sippe, in der kein Mitglied älter als 30 Jahre ist: Maisha. Vor Kurzem ist
       ihr famoses neues Album erschienen, unter dem prosaischen Titel „Night
       Dreamer – Direct-to-Disc Sessions“. Die Londoner Combo war Bartz schon
       länger auf den Spuren; dem Trend der Hinwendung an vergangene Epochen
       folgend, ist das Sextett dem Spiritual Jazz verhaftet.
       
       Künstler wie Pharoah Sanders haben wissbegierige SchülerInnen seit 50
       Jahren inspiriert, doch nun wenden sich Briten wie Maisha mit neuer Hingabe
       dem Jazz zu. KünstlerInnen und Bands wie Shabaka Hutchings, Kokoroko, auch
       Nubya Garcia, gehören in diesen losen Verbund des Maisha-Kollektivs. Die
       Beschäftigung mit Politik und Religiosität, mit afroamerikanischer
       Geschichte und Kolonialismus prägte Ende der 1960er schon einmal Spiritual
       Jazz. Das ist auch heute, in Zeiten von Black Lives Matter, wieder ein
       Thema.
       
       Gary Bartz interpretiert Spiritual Jazz vor allem als Widerstand. Nach dem
       Mord an Malcolm X 1965 in Harlem, wo seinerzeit auch Bartz gewohnt hatte,
       spielte er mit dem Gedanken, sich den marxistisch-revolutionären „Black
       Nationals“ anzuschließen. „Die Sechziger Jahre waren unberechenbar!“,
       erinnert sich Bartz. „Ich dachte ernsthaft darüber nach, mit der Musik
       aufzuhören und mich den [3][Black Panthers] anzuschließen. Durch Gespräche
       mit Kollegen wie Charles Mingus wurde mir klar, dass man Musik auch als
       Werkzeug nutzen kann, um strukturelle Ungleichheit zu beseitigen.“
       
       ## Gepägt von der Aufbruchstimmung
       
       Für Bartz folgte eine produktive Zeit. Anfang der Siebziger entstanden
       Alben wie „Harlem Bush Music“, längst von Crate Diggern aufgrund seiner
       lässigen Jazz-Funk-Sounds und Hymnen wie „Celestial Blues“ geliebt. Die
       Aufbruchstimmung der späten 1960er prägte auch den Ton des Alt- und
       Sopransaxofonisten, der abwechselnd avantgardistisch und smooth klingen
       konnte, Blues und Soul verinnerlicht hatte, aber nie ehrfürchtig
       nachspielte.
       
       Nicht umsonst gilt Bartz als Mittelsmann zwischen der Bop-Generation der
       Fünfziger und den Fusion-Kohorten der Siebziger. Seine stetig rotierende
       Band hieß NTU Troop, der Name war ihm während des Studiums afrikanischer
       Bantu-Sprachen gekommen.
       
       Trotz seiner Begeisterung für frei fließende Klänge hält Bartz nicht viel
       vom Mythos des Jazzers, der Musik „on the spot“ erschafft. „Improvisation?
       Das bedeutet doch nur, dass man etwas nicht geprobt hat. Ich denke beim
       Solieren immer an die Komposition. Und ich improvisiere nur, wenn ich einen
       Fehler gemacht habe. Know what I’m sayin’?“
       
       ## Multiplikator Gilles Peterson
       
       2019 machte der Londoner DJ Gilles Peterson Gary Bartz mit dem Drummer Jake
       Long und dessen Band Maisha während eines Festivals miteinander bekannt.
       Man mochte sich, ging bald zusammen auf Tour und bannte an zwei Tagen im
       holländischen Haarlem Aufnahmen direkt auf Band. Die „Night Dreamer –
       Direct-to-Disc Sessions“ spenden Wärme und klingen beruhigend, es sind
       ergreifend intensive Jamsessions, die nach gründlicher Studioarbeit
       klingen, aber auch Spaß.
       
       Mit „Uhuru Sasa“ und „Dr. Follows Dance“ widmen sich die MusikerInnen auch
       zwei Originalen aus Bartz’ tiefsten Seventies-Zeiten. Federnde
       Kontrabässe, sanfte Percussion, ein perlendes Rhodes-Piano, dazu famose
       Duelle zwischen Bartz und Trompeter Axel Kaner-Lidstrom. Bartz schätzt die
       Hingabe der sechs: „Die sind eine echte Band!“
       
       Nur kategorisieren mag der trotzige Saxofonist das Ergebnis nicht. „Was ich
       höre: MUSIK. Mann, wenn du ‚Stil‘ sagst, weiß ich überhaupt nicht, was du
       meinst. Das Wort erdrückt mich! Music is music, water is water. Es gibt
       salziges Wasser, sauberes und dreckiges. Aber es ist immer noch Wasser!“
       
       29 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Paersch
       
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