URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Wir sind große Wohner
       
       > Zu Hause ist es doch am schönsten. Sagen die professionellen und äußerst
       > aktiven Vertreter des allerneuesten Trends: Dweller.
       
   IMG Bild: Evelyn Alexander ist begeisterte Dwellerin. Hier winkt sie zum Abschied von ihrem Balkon
       
       Die Sommerferien sind angebrochen. Wohin? Wohin?, fragt sich manch einer,
       der wegen der coronabedingten Maßnahmen seine Reise stornieren musste und
       nun erschrocken feststellt, dass er doch verreisen darf. Horst Alexander
       hat da eine Antwort.
       
       Horst Alexander wohnt in der Küche. Vorige Woche wohnte er im Schlafzimmer.
       „Abwechslung muss sein“, sagt er. „Aber ich wohne nich nur“, berichtigt er
       uns, als er den Kaffee auf den zerkratzten Küchentisch stellt, „ich mach
       Urlaub. Zwei Wochen Schlafzimmer, zwei Wochen Küche. Nächste Woche ziehe
       ich nach Wohnzimmer.“
       
       Der 35-jährige, untersetzte Zerspanungsmechatroniker ist Indoor Traveller.
       Er urlaubt mit Vorliebe in den eigenen vier Wänden.
       
       „Na ja, Vorliebe würd ich nich sagen … Aber Vorteile hat’s. Erst mal hab
       ich kein Geld. Zweitens verwohnt man so nur einen Teil seiner Wohnung und
       schont den Rest. Denn is das natürlich auch ’ne Bewusstseinsmachung. Wenn
       ich verreise, sehe ich meine Wohnung hinterher ja auch mit andere Augen.
       Ich mach mir bewusst, wie schön das in den einzelnen Zimmern ist. Wenn man
       den ganzen Tag in der ganzen Wohnung wohnt, nimmt man vieles als
       selbstverständlich hin. Die Toilette zum Beispiel.“
       
       Die darf Horst Alexander heute ausnahmsweise nutzen, weil er Gäste hat und
       weil er in der Küche wohnt – ein ungeschriebenes Gesetz unter Indoor
       Travellern. Als er im vorigen Jahr erstmals im Schlafzimmer Urlaub machte,
       brauchte er kreativere Lösungen.
       
       „Ich sag nur Campingtoilette. Und ganz wenig essen.“
       
       Horst Alexander ist aber nicht immer im Urlaub. Im normalen Leben ist der
       ALG-3-Empfänger ein bekennender Dweller, jemand, der nicht nur einfach viel
       zu Hause ist, sondern der professionell und aktiv wohnt. In seiner Freizeit
       ist er Vorsitzender des Vereins „Einfach mal mit dem Arsch zu Hause bleiben
       e. V.“
       
       „Ja, die Leute sollen halt einfach mal mit dem Arsch zu Hause bleiben, dann
       is auch nich so viel Verkehr auf die Straßen“, sagt er mit Blick auf die
       derzeitige Mobilitätsdebatte. Die Straßen sind voll mit SUV und Lkw, auf
       den Fußwegen stehen E-Bikes, E-Scooter, Fahrräder und Mofas – alles zum
       Ausleihen. Pkw stellen die Fahrradwege zu. Fahrradfahrer fordern breitere
       Radwege und eigene Straßen. Verkehrsunfälle häufen sich.
       
       „Wenn die Leute alle so große Wohner wären wie wir, wär das alles gar kein
       Problem.“
       
       Aber ist das nicht zu kurz gedacht? Sicher lassen sich nicht alle Probleme
       durch reines zu Hause bleiben lösen.
       
       „Doch, doch, zu Hause bleiben is ’ne Antwort auf alle Fragen“, widerspricht
       Horsts Frau Evelyn, die derzeit im Schlafzimmer wohnt: „Is total
       ökologisch. Wir Dweller haben keine Autos, wir gehn nich auf Flugreisen
       oder fahren mit die Luxusdampfer. Oder Traumschiff. Wobei die Seychellen
       mal auch nich schlecht wären.“
       
       ## Zatterday für Zuhausebleim
       
       Der Zu-Hause-Arsch-Verein will sich jetzt auch der Klimaschutzbewegung
       anschließen, mit Indoordemos, wie Evelyn von dort herüberruft: „Da laufen
       wir dann den ganzen Tag durch die Wohnung, immer am Sonnabend. Das heißt
       denn Zatterday für Zuhausebleim.“
       
       Ein gewagter Vorschlag, aber ist er auch umsetzbar? Wir checken, wie
       praktikabel das alles ist. Und wie es scheint, hat der Verein tatsächlich
       auf jede Frage eine passende Antwort.
       
       Was machen Berufstätige? „Da gib’s Homeoffice für.“
       
       Was ist mit Einkäufen? „Kann man sich alles liefern lassen.“
       
       Die Kinder müssen in die Schule. „E-Learning. Hat sich doch prima bewährt.
       Außerdem fehlen ja sowieso überall Lehrer, also wozu sollen die Gören in
       die Schule?“
       
       Die Kinder müssen an die frische Luft. „Frische Luft? Inne Großstädte? Da
       muss ick ma kurz auflachen. Ha. Schon vorbei. Nächste Frage …“
       
       Freunde treffen? „Skypen. Zoomen, you name it, I do it.“
       
       Was ist, wenn man zum Arzt muss? „Mein Arzt macht noch Hausbesuche.“
       
       Der Arzt kann also nicht zu Hause bleiben. „Na ja, die erste Diagnose macht
       er per Skype. Und ein paar Ausnahmen gibt’s ja immer.“
       
       Sport? „Kann ich auch zu Hause aufm Hometrainer oder Stepper oder Klimmzüge
       machen. Und Sport gucken kann ich im Fernsehen: Fußball, Olympische Spiele
       – ach nee, die fallen dies Jahr ja aus. Aber vielleicht gibt’s die
       Wiederholung von 1984.“
       
       Und der große Bereich der Freizeitgestaltung: Konzerte, Theater, Kino,
       Zoobesuche?„Kann alles gestreamt werden, außerdem gibt’s Katzenvideos,
       Netflix und so. Es gibt ja keinen Grund rauszugehn. Und bei den teuren
       Mieten heutzutage, da lohnt sich ja jede Minute, wo man nicht rausgeht.“
       
       Experten geben Evelyn und Horst recht. Laut einer Statistik des Deutschen
       Instituts für Wohnen wird eine normale Mietwohnung nur zu zwanzig Prozent
       der Tageszeit als Wohnraum genutzt. In der Zeit, in der die Mieter
       arbeiten, einkaufen, abends weggehen, verreisen oder schlafen, sind
       Wohnungen teure Lagerräume für Möbel, Dekokram und abgestandene Luft. Jeder
       Storage-Space ist weitaus günstiger.
       
       „Außerdem geht’s beim Wohnen ja auch um Konsum. Wenn wir alle nur noch
       rausgehen und nicht mehr zu Hause bleiben, kaufen wir weniger online – und
       da hängen ja Arbeitsplätze dran. Die ganze Wirtschaft geht kaputt. Also
       einfach mit dem Arsch zu Hause bleiben“, raten uns die beiden Glücklichen,
       als wir gehen. Wie das mit dem gemeinsamen Eheleben in einer solch streng
       geteilt bewohnten Wohnung ist, wollen wir uns da schon gar nicht mehr
       ausmalen.
       
       3 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael-André Werner
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Wohnen
   DIR Vereine
   DIR Lobbyismus
   DIR Eskalation
   DIR Schwerpunkt Überwachung
   DIR Schlachthof
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Lobbyisten haben keine Lobby
       
       Knut Müller ist Deutschlands Super-Lobbyist. Unermüdlich wirbt er um
       Anerkennung – wenn nötig auch an Berliner Imbissbuden.
       
   DIR Die Wahrheit: Wie du mir – eskalier!
       
       Was gibt es Schöneres als die massive Steigerung alles Bisherigen? Besuch
       bei einem erfolgreichen Bremer Eskalationstrainer.
       
   DIR Die Wahrheit: Das Auge in den Rauchmeldern
       
       Überwachung als Lebenshilfe: Was würde Jesus tun, wenn er wüsste, dass er
       beobachtet wird? Würde er eine Bank überfallen oder eine gründen?
       
   DIR Die Wahrheit: Sie sind ihnen nicht Wurst
       
       Schon wieder ein verheerender Corona-Ausbruch unter Fleischfabrikarbeitern.
       Was ist da bloß los? Ein Besuch im Schlachthaus.
       
   DIR Die Wahrheit: Lebenslänglich für Virus
       
       Die Ziellinie der Pandemie ist in Sicht, Corona endlich besiegt – auf
       juristischem Wege. Die Radikalen Liberalen klagen.
       
   DIR Die Wahrheit: Tod für alle, alle für den Tod
       
       Deutschland nimmt Vernunft an: Endlich dürfen die Alten sterben und die
       Jungen ein kosmetisch hübsches Leben führen.