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       # taz.de -- Algen auf dem Teller: Eine Portion Unterwasserwelt
       
       > Ein Start-up bereitet vegane Salate aus Algen zu. Die Gewächse haben
       > hierzulande als Nahrungsmittel bislang keinen leichten Stand.
       
   IMG Bild: Für Fischer kann Algenzucht eine Alternative sein
       
       Von außen sehen die Gläschen aus wie ein x-beliebiger Reformhausaufstrich,
       doch drinnen warten zwei Unbekannte. Zwischen süßer Bete und scharfem
       Rettich oder Senf-Dill-Soße und Weißkohl sind Wassergewächse in Bioqualität
       gemischt. Alaria Esculenta, Flügeltang, heißt das eine: Die aus einem
       großen flächigen Blatt bestehende bräunliche Alge kann bis zu vier Meter
       lang werden und wächst im gesamten Nordatlantik und -pazifik. Nummer zwei,
       die Himanthalia Elongata, Riementang, wuchert exklusiv im Nordostatlantik,
       manchmal auch in den Gewässern um Helgoland. Ihren meterlangen Auswüchsen
       verdankt sie den Namen „Meeres-Spaghetti“.
       
       Mit Algen hat sich Jacob von Manteuffel erstmals 2018 beschäftigt, als er
       noch Geografie und Ressourcenmanagement studierte. In dieser Zeit drehte er
       einen Dokumentarfilm über Algenfarmen, reiste dafür nach China, Südkorea,
       auf die Faröer-Inseln und auch nach Norwegen. Dort kam er auf die Idee,
       „heimische“, also Nordostatlantik-Algen, in Deutschland als Essen zu
       vermarkten. Der heute 28-Jährige tat sich mit der Foodbloggerin und
       Kochbuchautorin Deniz Fıçıcıoğlu,, 36, zusammen, gemeinsam gründeten die
       beiden vergangenes Jahr das Berliner Food-Start-up „Nordic Oceanfruit“. Das
       setzt die Wasserpflanzen dabei erst in den norwegischen Atlantik und dann
       in kleinen Gläsern in Szene – in Form von veganen Meeressalaten.
       
       Nun haben Meeresalgen in Deutschland bislang keinen guten Stand. „Wir waren
       begeistert von den Algen, haben aber gemerkt: Keiner will sie essen“, sagt
       von Manteuffel. Die beiden machten sich also Gedanken, wie sie die
       Unterwasserriesen auf den Teller bekommen. „Wir hatten eine Vorstellung
       von maritimen Geschmäckern“, sagt Jacob von Manteuffel. „Senf-Dill kennt
       man vom Lachs, Tomate und Zitrone von Frutti di Mare und so weiter. Ein
       Dessert oder Müsliriegel mit fischigem Geschmack – das wäre hingegen
       schwierig.“ Im Ausschlussverfahren seien sie dann beim Meeressalat mit vier
       unterschiedlichen Geschmacksrichtungen gelandet.
       
       Dabei spielt auch die Darreichungsform ein Rolle: „Haltbar und
       verzehrfertig sollte es sein“, erklärt Deniz Fıçıcıoğlu, die vorher unter
       anderem für ein Food Innovation Hub gearbeitet hat. „Ein Produkt wie
       unseres würdest du theoretisch auch getrocknet im Supermarkt bekommen –
       allerdings wissen die Leute nichts damit anzufangen. Wir sagen: Deckel auf,
       Löffel rein, du kannst es sofort essen.“
       
       Wer sich darauf einlässt, wird erkennen, dass Nahrungsmittel nicht nur mit
       Geschmack und Aussehen überzeugen können, sondern dass auch die Konsistenz
       eine Rolle spielen kann. Die der Algen wirkt im ersten Moment etwas
       glibbrig, hat aber einen angenehmen Biss. Nach zwei Gläsern pro Tag sollte
       aber Schluss sein. Vom Meerwasser nehmen die Pflanzen nämlich auch Jod auf.
       Und auch wenn das Spurenelement für den Menschen, genau wie die enthaltenen
       Omega-Fettsäuren, wichtig ist und nur in sehr wenigen Pflanzen vorkommt –
       zu viel ist dann auch wieder nicht gesund.
       
       Im Küchenalltag einsetzen lassen sich die Nährstoffbomben auf verschiedene
       Arten. Die „Graved Style“-Geschmacksrichtung passt gut zu Röstis, mit oder
       anstelle von Lachs. Der tomatige „Di Mare“-Salat empfiehlt sich in großer
       Eile auch als schnelle Nudelsoße.
       
       Doch egal, wofür die Salate verwendet werden – nie sind sie nur Beilage.
       Denn der Geschmack der Algen ist kein hintergründiges Meeresrauschen,
       sondern kräftiger Wellengang, der mit jedem Kauen wieder eine ordentliche
       Portion Unterwasserwelt über die Geschmacksknospen spült. Ergänzt werden
       die Algen mit Gewürzen, kräftigen Soßen und Zutaten wie scharfem Ingwer,
       Sesam, Meerrettich, Fenchel – auch weil Nordic Oceanfruit die pure Alge den
       deutschen Konsument:innen noch nicht zumuten kann. „Die Salate sind nur
       die Einstiegsdroge. Mehr Alge geht in Zukunft immer!“, sagt von Manteuffel.
       
       In seinem Studium lernte er auch Phosphorkreisläufe kennen: Der Rohstoff,
       den jede Pflanze braucht, wird in großen Mengen in der Landwirtschaft
       verwendet und landet dann größtenteils im Meer, weshalb das Wasser in
       Küstenregionen häufig übersättigt ist. Dass die Algen sich dann genau von
       diesen Nährstoffen sättigen, löst zwei Probleme gleichzeitig, denn im Meer
       lässt es sich schlecht düngen. So würden die Aquakulturen sogar die
       Wasserqualität verbessern und die Biodiversität erhöhen, erzählt Deniz
       Fıçıcıoğlu. Und sie bräuchten weder Land, Süßwasser noch Pestizide, um zu
       wachsen.
       
       Ein anderer Synergieeffekt der neuen Wasserwirtschaft: Die arbeitsintensive
       Algenzucht soll Fischer:innen eine Alternativbeschäftigung bieten – wenn es
       nach Fıçıcıoğlu geht, „am besten schon, bevor die Meere komplett
       leergefischt sind“. Tatsächlich wird die größte Algenfarm der Welt in China
       von ehemaligen Fischer:innen betrieben, und auch die norwegischen
       Anbaupartner:innen von Nordic Oceanfruit stammen ursprünglich aus der
       Lachsindustrie.
       
       Jetzt setzen sie an Land Algensporen auf Seile, die dann von Fischerbooten
       aus auf sogenannten Algenfarmen ins Meer gehängt werden. Vier Monate lang
       wachsen die Algen dort während des Frühjahres, bis sie vor Sommerbeginn von
       Hand geerntet werden. In Norwegen hört die Handarbeit aber nicht auf: Die
       Etiketten werden in einer Hamburger Niederlassung der Lebenshilfe
       aufgeklebt. Dass alles manuell gefertigt wird, könnte den hohen Preis
       erklären: 3,89 Euro für 100 Gramm sind auch für Biolebensmittel nicht
       wenig.
       
       Zu teuer scheint das nicht zu sein. Der Absatzmarkt wächst, die Salate gibt
       es online zu kaufen, außerdem bei Real, in norddeutschen Rewe-Filialen und
       seit Kurzem auch in Berliner LPG-Biomärkten. Bloß „wohin sie unser Produkt
       sortieren sollen, wissen die Verkäufer nicht immer“, sagt von Manteuffel.
       Und so steht der Meeressalat mal bei Rohkost, mal unter den Aufstrichen –
       oder sogar in der Fischtheke.
       
       Sie selbst sehen ihn bei den „Meeresfrüchten“, sagen Jacob von Manteuffel
       und Deniz Fıçıcıoğlu immer wieder. Denn warum sollte dieser Begriff tote
       Shrimps und Krakenarme bezeichnen, wenn es auch Algensalate gibt, die
       ohnehin viel fruchtiger schmecken?
       
       5 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anselm Denfeld
       
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