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       # taz.de -- Affäre um Staatliche Ballettschule: Wohin geht dieser Tanz?
       
       > Die Staatliche Ballettschule in Pankow muss sich nach Vorwürfen wegen
       > Kindeswohlgefährdung neu erfinden. Entscheidend wird das nächste
       > Schuljahr.
       
   IMG Bild: Harter Einblick: Die Staatliche Ballettschule Berlin steht derzeit im Fokus
       
       Berlin taz | Wenn sich in der Deutschen Oper der Vorhang hebt und die
       Lichter im Saal ausgehen, wenn das Spotlight auf der Bühne angeht und die
       Kinder der Staatlichen Ballettschule dann wie schwerelose, bunt kostümierte
       Fabelwesen zu den „Nussknacker“-Melodien über die Bühne springen – dann
       kann man sich als Zuschauerin ganz gut vorstellen, dass man als junge
       BalletttänzerIn sehr, sehr viel bereit ist zu geben, um auf ebendieser
       Bühne zu tanzen.
       
       Auch Svea Hohensees Sohn tanzt im vergangenen Dezember den „Nussknacker“,
       der Fünftklässler ist gerade ein halbes Jahr an der Staatlichen
       Ballettschule und Schule für Artistik in Prenzlauer Berg. Die landeseigene
       Eliteschule kooperiert regelmäßig mit der Deutschen Oper – eine
       Win-win-Situation, so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Denn die
       Oper braucht KindertänzerInnen und die Kinder wiederum bekommen
       Auftrittserfahrung und können sich auf einer großen Bühne präsentieren.
       
       Kurz nach den glanzvollen Auftritten auf der großen Bühne, zehn sind es
       insgesamt im Dezember, nimmt Hohensee ihren Sohn von der Schule. Hohensee
       spricht von „hammerlangen Auftrittstagen“, die um 9 Uhr begonnen hätten und
       um 23.30 Uhr nach der letzten Vorstellung zu Ende gewesen seien. Sie
       spricht von Unterricht, der verpasst und nicht nachgeholt wurde, und nicht
       vorhandenen Weihnachtsferien für die Kinder.
       
       Am meisten irritiert habe es sie aber, sagt die Mutter, „dass die Eltern
       kaum einbezogen wurden, da stand einfach fest: Die Kinder müssen mitmachen,
       auch ohne dass vorher ein Arzt sein Okay gegeben hätte oder dass man mit
       uns als Eltern Auftrittstage vereinbart hätte. Das wurde einfach als
       Schulveranstaltung deklariert.“ Das habe natürlich auch enormen „Druck“
       aufgebaut – denn andernfalls, so die unmissverständliche Botschaft, werde
       das als mangelndes Engagement ausgelegt.
       
       Das wiederum konnte einer Karriere schnell gefährlich werden: „Die Schüler
       waren immer damit konfrontiert, die Schule verlassen zu müssen. Das wurde
       als extreme Disziplinierungsmaßnahme verstanden“, hatte der Vorsitzende
       Klaus Brunswicker bei der Vorstellung des Zwischenberichts einer
       Expertenkommission gesagt, die die Vorgänge an der Ballettschule
       aufarbeiten soll. Die Notengebung sei extrem intransparent gewesen.
       
       ## 24 Euro Taschengeld für 10 Auftritte
       
       Interessant an dem Opern-Engagement: Obwohl das Ganze als schulische
       Veranstaltung durchging, „gab es Geld“, sagt Hohensee – eine Art
       Aufwandsentschädigung von 24 Euro. „Für mich ist das damit eine
       Beschäftigung, der die Kinder da nachgegangen sind und wo es eigentlich
       unserer Zustimmung als Eltern bedurft hätte.“
       
       Ob das und andere Vorgänge an der Schule mit dem Jugendschutz vereinbar
       sind, damit beschäftigt sich inzwischen auch Brunswickers
       Expertenkommission, die [1][Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD)] im
       Januar eingesetzt hatte. Im August soll der Schlussbericht vorliegen.
       Tatsächlich waren die „Nussknacker“-Aufführungen im Dezember vergangenen
       Jahres die letzte große Show, wo nach außen hin noch alles in Ordnung war
       an der Staatlichen Ballettschule in der Erich-Weinert-Straße.
       
       Im Januar dann deckte ein Rechercheteam des RBB gravierende Missstände an
       der Schule auf. Von Mobbing durch Lehrkräfte, von Drill und
       Magersuchtfällen war die Rede. Die SchülerInnen hätten Probleme nicht
       ansprechen können, die Mitsprache von Eltern sei nicht gewünscht gewesen.
       „Man kann sagen, die Schulleitung hat Vertrauensverhältnisse zwischen
       Kindern und Lehrkräften und zwischen Lehrkräften und Eltern aktiv
       unterbunden“, sagt Hohensee.
       
       Brunswicker nannte dies Anfang Mai im Zwischenbericht ein „Klima der Angst“
       und dass man zumindest in Bezug auf die spätabendlichen Auftritte „wohl von
       Kindeswohlgefährdung sprechen“ könne.
       
       Die Schule, das ist seit der RBB-Recherche und den ersten Berichten der
       Kommission klar, muss sich grundlegend ändern, und zwar schnell. Senatorin
       Scheeres sprach von „Partizipations- und Kommunikationsstrukturen“, die
       untersucht werden müssten, und von „Handlungsempfehlungen für die Zukunft“,
       die die Kommission erarbeiten soll. Der alte Schulleiter Ralf Stabel wurde
       zunächst freigestellt, inzwischen ist er fristlos gekündigt – ein
       Rechtsstreit über die Kündigung läuft.
       
       Tatsächlich könnte das kommende Schuljahr zum Schicksalsjahr für die
       international hoch angesehene Schule werden. Viele der
       leistungsorientierten Eltern schauten jetzt „sehr genau hin“, ob der
       Neuanfang gelingt, sagt Klaus Müller, Vater einer Fünftklässlerin, dessen
       richtiger Name der Redaktion bekannt ist.
       
       ## AGs zu Ernährung und Kinderschutz
       
       Und damit meint Müller nicht nur den „Aufklärungsprozess“, den er absolut
       notwendig finde, oder die diversen Arbeitsgemeinschaften etwa zu einem
       Ernährungs- und einem Kinderschutzkonzept, die inzwischen – übrigens mit
       Elternbeteiligung – an der Schule arbeiteten.
       
       „Man muss auch ganz klar sehen: Das ist in erster Linie eine
       Berufsausbildung, die die Kinder hier bekommen. Sie müssen am Ende ihrer
       Schulzeit die Chance haben auf die großen internationalen Bühnen, alles
       andere wäre nicht fair“, sagt Müller.
       
       Selbstverständlich gehöre da eine gewisse „Härte“ in der Ausbildung dazu –
       „aber unter der Voraussetzung, dass der Respekt vor den Jugendlichen vorne
       ansteht und dass man zu einem neuen Miteinander zwischen Lehrern und
       Schülern findet“. Doch man müsse, sagt er, „die Ausbildung vom Ziel her
       sehen“. Und das Ziel für seine Tochter sind die großen Bühnen, in Sankt
       Petersburg oder Hamburg oder Stuttgart, zum Beispiel.
       
       Die [2][Härte, mit der die Kinder bereit sind zu trainieren], der Erfolg,
       der unbedingt gewollt ist: notwendig, wenn man spitze und Spitzenschule
       sein will, und zugleich auch eine große Gefahr. An der Staatlichen
       Ballettschule hießen der Preis für den Elitestatus und den Glamour auf der
       Opernbühne Kindeswohlgefährdung und mangelnde Mitbestimmung auf allen
       Ebenen.
       
       Die Eltern- wie auch die Lehrerschaft zerreißt das: Da sind unter den
       KollegInnen die einen, die zur alten Schulleitung halten, wohl auch wegen
       lang zurückgehender Bekanntschaften, weil man früher zusammen auf der Bühne
       getanzt hat. Da sind die anderen, die das nicht in Ordnung finden. Da sind
       die Eltern, die sagen, mein Kind hatte keine Probleme, was soll die
       Aufregung, und die um die Leistungsfokussierung an der Schule fürchten. Da
       sind Eltern wie Svea Hohensee, denen der Druck an der Ballettschule sehr
       schnell zu unheimlich wurde.
       
       ## Ein Ingenieur soll es richten
       
       Mitte Juni hatte die Bildungsverwaltung einen neuen Interimsschulleiter
       berufen. Dietrich Kruse, eigentlich schon pensioniert, hat zuletzt ein
       Oberstufenzentrum für Maschinen- und Fertigungstechnik in Reinickendorf
       geleitet, er ist gelernter Ingenieur und hat mit Ballett wenig am Hut.
       
       Die Eltern verbänden mit ihm aber Hoffnungen, sagt Müller, der
       Elternsprecher ist und in einer Eltern-AG mitwirkt, die sich regelmäßig
       trifft: um zwischen den verhärteten Fronten in der Elternschaft „zu
       vermitteln und um die Ernsthaftigkeit, mit der wir diese Schule verändern
       wollen, nach außen zu tragen“.
       
       Tatsächlich könnte es von Vorteil sein, wenn der neue Schulleiter nicht in
       irgendwelchen alten Bühnenseilschaften hängt, sondern mit frischem Blick
       von außen kommt.
       
       Auf taz-Anfrage sagt Kruse, er bitte um Verständnis, dass er noch nicht
       öffentlich über seine Strategie für die Schule sprechen wolle: Er sei noch
       dabei, sich einen Überblick zu verschaffen.
       
       Im Prinzip lautet Kruses Aufgabe, überhaupt erst mal zu definieren: Was
       will diese Schule in Zukunft sein? Eher Kaderschmiede mit angeschlossener
       Schule – oder Schule mit angeschlossener Kaderschmiede? Was ist ihr
       Selbstverständnis? „Eine Riesenaufgabe“ jedenfalls, sagt Müller, diese
       Gräben in der Elternschaft und im Kollegium zu schließen.
       
       Er selbst gebe der Schule „noch ein Jahr“, dann werde man doch noch mal
       ernsthaft über andere Optionen nachdenken, sagt Müller – Bühnen in Hamburg,
       Stuttgart, vielleicht Sankt Petersburg.
       
       Ob Müller da nicht alleine ist und ob es bereits zum kommenden Schuljahr
       Abmeldungen gegeben habe, kann die Bildungsverwaltung auf Anfrage nicht
       sagen.
       
       Die Grünen-Abgeordnete Marianne Burkert-Eulitz will die Ballettschule nach
       der Sommerpause auf die Agenda des Bildungsausschusses im Abgeordnetenhaus
       setzen. Es sei eine „Leerstelle im Schulgesetz“, dass [3][Schulen kein
       Kinderschutzkonzept] haben müssen, das zeige der Fall der Ballettschule
       erneut in aller Deutlichkeit.
       
       Burkert-Eulitz meint, die Schule müsse sich womöglich „breiter aufstellen“,
       wegkommen von der Fokussierung auf die künstlerische Ausbildung. Das
       wiederum dürfte Eltern wie Müller hellhörig machen. Er sagt, was die Schule
       vor allem schnell brauche, sei eine neue künstlerische Leitung. Der alte
       Leiter Gregor Seyffert war ebenfalls freigestellt worden. „Die
       künstlerische Leitung ist das Herz der Schule.“
       
       Burkert-Eulitz sagt, ihr sei vor allem wichtig, dass die TanzlehrerInnen,
       die PraktikerInnen, eine pädagogische Ausbildung haben. Das war bisher
       nämlich nicht die Regel, sondern die Ausnahme.
       
       7 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Anna Klöpper
       
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