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       # taz.de -- Schrumpfende Regionen: Rückbau Ost
       
       > Die 80-jährige Hildegard Beczinczka war dabei, als die DDR die Stadt
       > Schwedt aufbaute. Heute ist der Ort verkleinert.
       
       Zwei Baumaschinen sammeln die Reste einer abgerissenen Straße ein. Der
       Südwestwind trägt ihre Motorengeräusche über ein freies Feld. Darauf stehen
       zwei Plattenbauteile und bilden ein Portal zu einem betonierten Weg, der
       sich über die Fläche schlängelt. Sie sehen aus, als hätte sie jemand
       vergessen, und doch sind sie bewusst gestaltet. Sie sind ungewollt komisch
       und bilden doch ein Mahnmal. Auf eine der Platten haben Kinder einen Bagger
       gemalt. Seine Abrissbirne trifft auf ein hohes graues Haus, der hellblaue
       Himmel ist mit Wolken betupft. „Leben heißt Veränderung“, steht darüber.
       „Besser kann’s in Schwedt ja nich stehn!“, lacht Juliane Karsten.
       
       Zu DDR-Zeiten sind die Plattenbauten hier wie Frühblüher aus dem Boden
       geschossen, dabei war bereits Herbst. Juliane Karsten hat das nicht erlebt,
       denn sie ist ein Nachwendekind. Doch die junge Mutter kann sich noch an die
       vielen Häuser erinnern. „Tausende“, wie sie sagt. Sicher weiß sie noch,
       dass die Platten eher braun als grau waren und dass an jeder Eingangstür
       ein Bild von einem Tier hing, das den Kindern half, nach dem Spielen den
       richtigen Aufgang zu finden.
       
       Vielleicht kann sie sich an das gewellte Metallgitter erinnern, das im
       ersten Stock des ewig langen Treppenhauses angebracht war, um
       herunterfallende Dinge aufzufangen. Aus ihrer Kindheit bleibt sicher auch
       das Bild davon, wie erst die Gardinen in den Fenstern, dann die Kaufhallen,
       dann die Häuserblöcke weniger wurden. Doch über all das redet sie nicht.
       Sie sagt nur: „Früher war’s hier anders“ und „hier ist nichts mehr“.
       
       ## Rasant erschaffen, ebenso schnell abgerissen
       
       Schwedt an der Oder ist das Vorbild für den Rückbau Ost. Erst wurde es in
       der DDR rasant erschaffen, fast ebenso schnell wurde es nach der Wende
       abgerissen. Heute heißt es, die Stadt habe sich gesundgeschrumpft. Der Weg
       dahin war eher eine anhaltende Schocktherapie denn Genesung. Schwedt trägt
       noch immer das Erbe der DDR. Ohne Veränderung kann es noch immer nicht
       leben. Doch wie viel Veränderung verträgt eine Stadt, ohne ihren Kern zu
       verlieren?
       
       Als Hildegard Beczinczka nach Schwedt kam, „da war hier gar nichts“. Es war
       ein trüber Februartag 1959. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 85 Prozent der
       Stadt zerstört und daran hatte sich auch vierzehn Jahre später kaum etwas
       geändert. Es gab keinen Strom, kein fließend Wasser und gerade einmal 5.000
       Menschen lebten hier. Die kleine Stadt inmitten eines Tabakanbaugebiets war
       schon vor dem Krieg keine Metropole gewesen, und doch war Schwedt danach
       ein Ort, der Entwicklung versprach.
       
       An diesem Tag, einige Wochen vor der ersten Welle der Coronapandemie,
       wartet sie am Rande der „Regenbogensiedlung“, in der sie lebt. Die Häuser
       des Karrees sind mal zwei, mal drei Geschosse hoch und ihre Dächer sind
       spitz. Sie wurden in warmen Erdtönen gestrichen. An den neuen Fassaden
       hängen bunte Fensterläden und Balkone. Die Bäume davor sind noch zu klein,
       um die Sicht einzuschränken. Die Siedlung spielt eine moderne Kleinstadt.
       
       Die 80-jährige Beczinczka kommt gerade vom Vorlesen im Kindergarten.
       Dornröschen und die Bremer Stadtmusikanten, „das wollten sie hören“. Sie
       hat zu dieser Zeit einen vollen Terminplan: Montag tanzen, Dienstag Märchen
       lesen, Mittwoch früh kegeln, abends Sport. Donnerstag Physiotherapie.
       „Freitag ist der einzige Tag, an dem ich frei habe“, sagt sie. An diesem
       Dienstag hat sie etwas Zeit, um Schwedt zu zeigen. Ihr Schwedt.
       
       ## Ein vergessener Ort, Ruine und Wiese
       
       Der einstige Beginn der Stadt liegt heute weit ab in ihrer Peripherie, auf
       der anderen Seite der Bahnschienen. Er ist ein vergessener Ort, Ruine und
       Wiese. Auf der einen Straßenseite steht eine Baracke mit einem braunen
       Holzzaun. Daran hängt ein schwarz-weiß-rotes Banner. Auf ihm ist ein Logo
       mit gekreuzten Schwertern, eisernen Kreuzen, Thors Hammer und einem
       Totenkopf mit roten Augen gedruckt. „Nuddeln/Tomattten aus dem Reich“,
       steht an der Tafel neben der vergitterten Eingangstür. „Unbefugten ist der
       Zutritt verboten“ und „Wer klaut der STIRBT“ darüber.
       
       Beczinczkas Aufmerksamkeit aber gilt der anderen Straßenseite. Dort steht
       zwischen jungen Birken die verkohlte Ruine einer weiß gestrichenen Halle.
       Der Rest des Schriftzugs „Diskothek“ ist noch über den Eingangstoren zu
       erkennen. „Das sieht so vergammelt aus, dabei war es mal so ein schönes
       Kulturhaus“, sagt sie mit gedrückter Stimme und rückt ihre weiße Mütze
       zurecht. Ein starker Wind wechselt düstere Wolken und kräftigen
       Sonnenschein ab, die Kulisse steht still.
       
       Anfang der 1960er Jahre erwachte hier das Schwedter Leben. Die
       DDR-Regierung hatte Großes vor. Ähnlich wie in Eisenhüttenstadt, das
       seinerzeit Stalinstadt hieß, erfüllte Schwedt alle Kriterien für eine
       florierende Industriestadt. Beide liegen rund 100 Kilometer von Berlin
       entfernt, Schwedt nordöstlich, Eisenhüttenstadt südöstlich. Beide hatten
       schon damals eine Bahnanbindung, einen Kanal als Transportweg und als
       Wasserquelle, die unmittelbare Nähe zu Polen. So entschied die
       DDR-Volkskammer Ende 1958, den Volkseigenen Betrieb (VEB)
       Erdölverarbeitungswerk – später Petrolchemisches Kombinat (PCK) – zu bauen.
       Schon am ersten Tag des neuen Jahres folgte die Betriebsgründung.
       
       Dafür mussten Leute her. Hildegard Beczinczka lebte und lernte als junge
       Frau in der sächsischen Provinz. Sie wollte immer raus aus dieser, am
       liebsten nach Leipzig. Dann wurde die damalige Sekretärin mit ihrem
       Vorgesetzten nach Schwedt versetzt. „Die Entscheidung wurde mir
       abgenommen“, sagt sie. Die damals 19-Jährige war für den Einkauf beim
       Aufbau der Erdölraffinerie zuständig.
       
       Sie war eine der ersten Zugezogenen und bald eine von vielen. „Wir kamen
       aus der ganzen Republik, alles junge Leute, aus allen Berufsgruppen.“ In
       den ersten Monaten lebten sie in Privatunterkünften, Zeltstädten,
       Gaststättensälen und später auch in einer rasch gezimmerten Barackenstadt
       im Park von Monplaisir, dem alten Lustschloss von Markgraf Philipp Wilhelm
       von Brandenburg-Schwedt.
       
       Beczinczka war es, die die Arbeiterbaracken mit Möbeln aus der ganzen
       Republik ausstattete. „Es gab fast nichts“, erinnert sie sich und beginnt
       die Bestände und dessen Herkunft aus dem Effeff aufzuzählen. Sie nennt
       Barackennummern und zeigt dabei aufs flache Land. Der Aufbau der Industrie
       stand an erster Stelle, Wohnraum und Unterhaltung weit dahinter.
       
       Das ging nicht lang gut. „Es gab ja viel mehr Männer. Es gab viele
       Schlägereien, auch wegen der Mädchen. Deshalb mussten dann auch
       Kultureinrichtungen geschaffen werden“, sagt Beczinczka. Neben einigen Bars
       gab es das „Tanzhaus Arthur Becker“, die ausgebrannte Baracke, über der
       heute Diskothek steht. Dort trafen sich die „jungen Erbauer“ zum
       Feierabend, um zu trinken, zu tanzen und zu schmachten.
       
       Bald wurden auch die ersten Wohnblöcke nahe der kleinen Altstadt am Kanal
       gebaut. Sie reichten lange nicht für die, die sie bauten. Alleinstehende
       wie Beczinczka lebten übergangsweise in Wohngemeinschaften. Sie teilten
       sich ein Zimmer zu zweit oder zu dritt, „und dann sind wir jedes Mal
       weitergezogen, wenn die Wohnung wieder mit einer Familie belegt werden
       sollte“, sagt sie.
       
       ## Babyboom Mitte der 1960er Jahre
       
       1964 ging die Geburtenrate durch die Decke. „63 haben wir sie alle
       produziert und 64 sind sie alle gekommen. Bärbel im Januar, ich und die
       Friseuse Elfi im Februar, Inge und Rosi im April und so weiter“, erzählt
       sie. Die 24-jährige Beczinczka wurde eine alleinerziehende Mutter. Spät,
       für DDR-Verhältnisse. Arm, für DDR-Verhältnisse. Sechs Wochen nach der
       Entbindung ging sie wieder arbeiten, es musste ja weitergehen. Sie wurde
       mit 25 die Vorgesetzte von 30 Angestellten und studierte noch fünf Jahre
       neben ihrem Beruf. Zwar sagt sie: „Das war natürlich beschissen. Ich habe
       zehn Jahre kämpfen müssen“, doch es schwingt Stolz in ihrer Stimme. So sind
       sie, die Schwedter.
       
       Als Beczinska 1959 in Schwedt ankam, lebten hier 5.000 Menschen. Fünf Jahre
       nach ihrer Ankunft waren es schon 19.000 und 1966 über 25.000. Der
       Altersdurchschnitt lag bei 26 Jahren, damit galt Schwedt als die jüngste
       Stadt der DDR. Es wurden immer mehr Wohnhäuser, Fabriken, Kaufhallen und
       Kulturgebäude gebaut und alle packten mit an. Bilder aus dieser Zeit zeigen
       Straßen voller junger Menschen mit Kinderwagen. Erzählungen schildern
       Aufbruchstimmung. „Und so ist nach und nach Schwedt Stadt entstanden“, sagt
       Beczinczka, als wäre es eine der Erzählungen, die sie im Kindergarten
       vorliest.
       
       Auch der Bürgermeister Jürgen Polzehl kam Anfang der 1960er Jahre nach
       Schwedt. Der 66-Jährige erzählt nicht von seiner Kindheit, sondern von
       Zahlen. Polzehl ist einer der Protagonist:innen von „Rückbau Ost“, seit
       1989 aus der Stadtverwaltung heraus, seit 2005 für die SPD als
       Bürgermeister von Schwedt. Er wartet nicht auf Fragen. Er zeigt
       vorbereitete Luftansichten und Diagramme von Bevölkerungs- und
       Wohnraumentwicklungen auf seinem iPad, redet vom Ein- und Ausatmen der
       Stadt. „Früher kamen die Leute für Arbeit und Wohnungen her, nach der Wende
       sind sie der Arbeit wieder hinterhergefahren. Dann ist Schwedt weniger
       geworden.“
       
       Die Spitze der Bevölkerungskurve war 1980 erreicht. Fast 55.000 Menschen
       lebten damals in Schwedt. 50.000 mehr als noch 20 Jahre zuvor. „Im
       Petrolchemischen Werk haben 8.600 Menschen gearbeitet. Die brauchten alle
       Wohnraum. Da dieser Mangelware war in der Planwirtschaft, hat man hier
       komplexen Wohnungsbau probiert. Die Turmdrehkranzeiten haben das Quartier
       bestimmt“, lacht Polzehl. Quantität sei vor Qualität gegangen. Ab 1980
       flacht die Bevölkerungskurve schon etwas ab. Nach 1989 aber bricht sie
       völlig ein.
       
       Viele Orte im Osten sind nach der Wende weniger geworden. Weniger Menschen,
       weniger Häuser, weniger lebenswert. „Nach der Wende wurde die DDR mehr oder
       weniger vom Westen vereinnahmt“, erzählt Beczinczka, „und die Leute haben
       sie alle rausgeschmissen.“ Die Erdölraffinerie und die Papierfabrik kürzten
       die Zahl ihrer Mitarbeiter:innen radikal. Rohtabakfabrik, die Schuhfabrik,
       das Betonwerk, die Großbäckerei – dies sind nur vier von vielen Betrieben,
       die nach der Wende geschlossen wurden. Damit gingen vor allem
       Frauenarbeitsplätze verloren.
       
       Bis heute ist sich Beczinczka sicher, die Betriebe hätten sich wieder von
       alleine erholt. Stattdessen wurden viele geschlossen. Tausende
       Schwedter:innen wurden arbeitslos, selbst aus guten Stellen heraus, wie
       auch Hildegard Beczinczka sie hatte. Besonders ab 1993 gaben viele auf.
       Tausende, gerade junge Menschen, verließen die Stadt. Neue Kinder gab es
       kaum. Die Stadt wurde schlagartig weniger – und älter. Der Leerstand nahm
       rapide zu.
       
       „Die übrigen Menschen wurden in Turnhallen eingeladen, um ihnen zu sagen:
       Ihr steht auf Abriss“, sagt Jürgen Polzehl. 7.000 Wohnungen standen auf
       Abriss. Die Pläne, in denen fast der komplette Wohnkomplex VII grün
       unterlegt ist, bekam niemand zu sehen. „Die hätten uns ja wieder aus dem
       Rathaus gejagt“, sagt Polzehl.
       
       Es war eine Zeit, von der in Schwedt niemand freiwillig redet. Doch die
       Neunziger waren die Zeit der Entbehrung, des Wegzugs und des Leerstands.
       Wer in die Hochzeit von Schwedt hineingeboren war, verbrachte seine Jugend
       in der kollektiven Depression und ohne Zukunftsaussichten in Schwedt. Wer
       seine Jugend in dieser Zeit verbrachte, lebte in Angst oder mit einem
       Schlagring in der Tasche. Denn vor dem Abriss war die Zeit der Gewalt und
       Bomberjacken.
       
       Darüber wird eisern geschwiegen. Niemand will etwas mitbekommen haben.
       Selbst die nicht, die im Krankenhaus arbeiteten, wo jede Samstagnacht die
       Opfer rechter Gewalt eingeliefert wurden. Geprügelt hat man sich
       schließlich schon immer in Schwedt.
       
       Auch der Bürgermeister fasst sich kurz, er sei ja damals noch nicht in
       Regierungsverantwortung gewesen. „Na ja, da gibt es Filme drüber“, sagt er
       und spricht die ARD-Dokumentation „Die Stadt gehört uns“ an. Diese zeigt
       Schwedt 1993 als gesetzlosen Ort, an dem die rechten Jugendlichen regieren.
       „Man dachte damals: Lass die doch, die brauchen auch was“, sagt Polzehl.
       Ein Großteil der Szenen spielten sich im Wohnkomplex VII ab, von dem nun
       kaum mehr als eine Wiese bleibt.
       
       Früher kam die Polizei oft erst, wenn es zu spät war. Heute schleicht ein
       Streifenwagen über die halb abgerissene Straße im WK VII. Dort, wo jetzt
       „nichts mehr“ ist. Juliane Karsten schiebt ihren Kinderwagen über das freie
       Feld daneben, wo „nichts mehr“ ist. Am Horizont kämpfen einzelne
       Radfahrer:innen ab und an in Zeitlupe gegen den Wind an. Man fragt sich,
       wohin des Weges.
       
       Auf der anderen Seite der halben Straße stehen die Uckermarkpassagen. Einen
       der zwei Flügel des Gebäudes schmückt ein metergroßes Mosaik von Friedrich
       Engels, der in seiner Darstellung und Pose einer Gottheit anmutet. Die
       weiße Passage ist von Gras und Birken bewachsen, hinter der Passage stehen
       kleine Nadelbäume. Der Waldrand rückt vor. Ginge es nach der Stadt, wären
       auch die Uckermarkpassagen längst passé. Doch sie sind in Privathand, sagt
       Juliane Karsten.
       
       „Ich verstehe, dass alle dieses Bild von Schwedt einfangen wollen, aber ich
       habe dazu gar keinen Bezug“, sagt Karsten. Das Bild der Leere ist keines,
       das Schwedter:innen noch vor sich hertragen wollen. Für das Bild der
       florierenden DDR gibt es kaum noch Gedächtnisstützen, die nicht umgestaltet
       oder abgerissen sind. Die Uckermarkpassagen sind eine letzte. Wer als
       Nachwendekind in Schwedt lebte, kann sich an die großstädtisch anmutende
       Tiefgarage erinnern, die immer leerer wurde. An das Flanieren durch die
       engen Gänge, auf denen es kaum Gegenverkehr gab. An die dumpfe Hitze, die
       im Sommer auf der Terrasse zwischen den beiden Gebäuden stand. Daran, wie
       die Läden immer weniger wurden und irgendwann selbst die Post zumachte.
       
       Als in den 2000ern drumherum schon eingezäunte Betonhaufen lagen, blieben
       nur noch zwei Clubs. Auch Juliane Karsten hat hier noch getanzt. Bis sie
       kürzlich auf ein benachbartes Dorf zog, lebte sie drei Jahre lang in der
       Gegend, ihre Schwiegereltern tun es noch immer. „Es gibt so viele Orte in
       Schwedt. Das hier ist für mich nicht Schwedt, das ist tot“, sagt Juliane
       Karsten und schiebt ihren Kinderwagen zurück zu ihrem Auto.
       
       Wie kann eine Stadt gesund sein, die so viel entbehren musste? Wenn das,
       was eine Stadt einmal ausmachte, tot ist, was bleibt dann noch?
       
       Die Hauptstraße der Stadt führt von der PCK-Erdölraffinerie vorbei an
       Baumärkten und Tankstellen, einem Einkaufszentrum, bunt bemalten
       IW-65-Plattenbauten, den letzten hohen Berliner Querplatten und dem alten
       Centrum Warenhaus. Der Blick hat Weite in der flachen Stadt, vor allem auf
       der breiten Allee, die auf das Theater zuläuft. Dahinter liegt das
       Kanalufer, das andere Ende der Stadt, dann kommen nur noch der Nationalpark
       „Unteres Odertal“, die Oder und Polen.
       
       Am Ufer angekommen fängt die blonde Frau an, schneller zu reden: „Dit is
       Schwedt für mich. Hier sind überall Autos, überall Menschen und das
       Wasser“, sagt sie und steuert den Kinderwagen Richtung Bollwerk. Erst 2007
       wurde der neu gestaltete Uferbereich eröffnet. Vorher stand hier das
       Betonwerk, dann dessen Ruinen. „Ich weiß gar nicht, wie das hier vorm Umbau
       aussah“, sagt Karsten. Und tatsächlich erinnert nichts mehr an die
       Vergangenheit.
       
       Bankgroße Betonblöcke sind in zwei Grashügel eingelassen. Die so aussehen
       wie die Hochwasserdämme auf der anderen Wasserseite. Wer sich hier setzt,
       hat einen weiten Blick auf Uferpromenade, den Kanal und den Nationalpark.
       „Im Sommer ist hier alles voll“, sagt Karsten. Auch mit Kindern. Denn
       gerade erlebt die Stadt einen neuen Aufschwung. Kurz nach der Wende wurden
       noch viele Kinder geboren, wie Karsten, und die bekommen nun eigene Kinder.
       
       ## Endlich zieht Schwedt wieder Menschen an
       
       „Nach dem Einatmen haben wir ja wieder das Ausatmen geübt. Jetzt besteht
       die spannende Aufgabe darin, die Stadt wieder abzufangen“, sagt der
       Bürgermeister Jürgen Polzehl. In den letzten Jahren sei die
       Einwohner:innenzahl, zumindest mit den umliegenden Gemeinden, nicht unter
       30.000 gefallen, das mache ihn stolz.
       
       Schwedt zieht endlich wieder mehr Menschen an, als es abstößt, und die
       Geburtenrate habe sich mit rund 200 pro Jahr stabilisiert. Gleichzeitig
       sterben aber auch jedes Jahr doppelt so viele. Die, die Schwedt einst
       erbauten. Derzeit liegt der Altersdurchschnitt bei 51. Die Stadt ist nur
       noch halb so groß und doppelt so alt wie zu Bestzeiten.
       
       „Wir brauchen neuen Wohnraum“, sagt Bürgermeister Jürgen Polzehl. Es klingt
       paradox, denn der Rückbau ist noch immer nicht vollendet. Doch mit einer
       renovierten Plattenbauwohnung sind zwar die Alteingesessenen zufrieden,
       Menschen aus Berlin könne man damit aber nicht anziehen, und eben die wolle
       man nun herholen. Auch Pol:innen sollen die Stadt bereichern und tun es
       bereits: Die größte Migrationsgruppe in Schwedt sind Pol:innen. Zusätzlich
       gibt es viele Berufspendler:innen, die zum Arbeiten täglich die Grenze
       passieren. Wie eng die Verbindung bereits ist, zeigte sich, als Mitte März
       die nahegelegene Grenze wegen der Coronapandemie geschlossen wurde.
       Ärzt:innen und Facharbeiter:innen wurden in Hotels untergebracht, um ihrer
       Arbeit nachgehen zu können. Vielleicht entscheiden sich einige von ihnen,
       ihren Lebensmittelpunkt ganz nach Schwedt zu verschieben.
       
       Die Wohnsiedlung, in der Hildegard Beczinczka lebt, ist Polzehls
       Vorbildprojekt. Das Karree besteht aus dem Rohmaterial alter Plattenbauten.
       Zwei Stockwerke wurden abgetragen, Putz und Fenster sind neu, ihr Inneres
       ist altersgerecht gestaltet. „Das ist genauso teuer, als ob wir neu gebaut
       hätten, aber die Leute haben gesehen: Die reißen uns nicht ab, die machen
       aus der Platte was. Man muss auch ein Beispiel haben, um zu zeigen: Ihr
       seid uns wichtig.“ Gleichzeitig schrumpft die Stadt weiter, ohne dass es
       jemand mitbekommt.
       
       ## Von der „Kunst des Schrumpfens“
       
       „Die Kunst des Schrumpfens“, nennt Bürgermeister Polzehl das.
       Nachwendekinder, die sich entscheiden zu bleiben, wie auch Juliane Karsten,
       möchten nicht mehr in der Platte wohnen. Ein Grund ist auch, dass die Miete
       für eine große Wohnung so teuer ist wie die Rate für ein Eigenheim. Also
       bauen oder kaufen sie – außerhalb von Schwedt. Denn in Schwedt fehlt es an
       freigegebenen Bauflächen. Dort fährt man dann nur noch zum Einkaufen hin
       oder um am Kanal zu spazieren. Zu den Arbeitsstellen müssten viele noch
       weiter pendeln.
       
       Juliane Karsten fährt jeden Tag 50 Kilometer nach Prenzlau zum Landschafts-
       und Umweltamt Uckermark und zurück. Und doch hält es sie in Schwedt,
       eigentlich war es nie eine Option, woanders hinzugehen, sagt sie. Karsten
       spaziert am Kanal und beschreibt lebendig die Umgebung: Hier die
       Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße „HoFriWa“, da der Nationalpark,
       dort „unsere Freilichtbühne“ hinter dem Theater. Sie klingt so amüsiert wie
       stolz.
       
       Von hinten klingelt ein Rad: „Biddeschön! Siehste hier wird man noch
       weggeklingelt. Hier sind die Leute noch nett – nicht wie oben im Ghetto“,
       sagt Karsten und lächelt dabei. WK VII, das sagen nur jene, die zu
       DDR-Zeiten in Schwedt lebten. „Dit is für mich zu Hause – nicht der Scheiß
       da oben.“ Es heißt, die Stadt habe sich schöngeschrumpft. Ob sie das auch
       so sehe? „Ich weiß nicht, ob es schöner ist. Es ist anders“, sagt Juliane
       Karsten.
       
       Die Stadt wird sich weiter verändern müssen, denn Abwanderung aufzuhalten
       allein reicht nicht. Die Energiewende könnte dafür sorgen. Wenn auch der
       Verbrennungsmotor Geschichte wird, muss in der Erdölraffinerie, die noch
       immer der größte Arbeitgeber der Stadt ist, umgedacht werden. Der russische
       Konzern Rosneft, Hauptanteilseigner der PCK Raffinerie, hatte kürzlich
       angekündigt, in den nächsten Jahren 600 Millionen Euro in den Umbau der
       Raffinerie zu investieren. „Transformation“, sagt Polzehl, die Augen weit
       geöffnet. Das könnte neue Arbeitsplätze bedeuten. Außerdem ist ein
       Innovationscampus geplant.
       
       Schwedt, die Endstation vor der polnischen Grenze, gehört zur
       Großstadtregion Berlin-Brandenburg. Die Autobahnzufahrt nach Berlin ist
       jedoch 50 Kilometer entfernt und der Regionalexpress fährt stündlich und
       ständig auf Schienenersatzverkehr. 2026 soll der Zug nach Berlin zu
       Hauptverkehrszeiten im Halbstundentakt fahren. Auch die Verbindung in das
       50 Kilometer entfernte Szczecin soll ausgebaut werden. Vielleicht verirren
       sich dann mehr Menschen nach Schwedt. „Wenn ich die Entwicklungsachse
       Berlin-Stettin bedenke, dann steht der Standort okay“, sagt Polzehl. Reicht
       okay für Schwedt?
       
       13 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Stendera
       
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       Stalinstadt war bei der Gründung ihr Name. Heute gilt Eisenhüttenstadt als
       vorbildlich saniert – und trotzdem ergreifen die Einwohner die Flucht.
       
   DIR 70 Jahre Eisenhüttenstadt: Geburtstag des Stahl-Riesen
       
       Vor 70 Jahren beschloss die SED den Bau des „Eisenhüttenkombinats Ost“.
       Heute ist es eines der größten Flächendenkmäler in Deutschland.
       
   DIR Corona-Proteste an der polnischen Grenze: „Wir müssen vor allem laut sein“
       
       Wegen Corona ist die deutsch-polnische Grenze für Pendler dicht, am
       Mittwoch berät das polnische Parlament. Marta Szuster über Proteste an der
       Grenze.
       
   DIR Geschlossene Grenzen in Deutschland: Nachbar, ein Virenträger
       
       Im Kampf gegen Corona werden die Schlagbäume gesenkt. Eindrücke aus Aachen,
       von der polnischen Grenze, entlang der B96 – und aus dem Baumarkt.
       
   DIR Corona stoppt Reisefreiheit: „Typisch, dit is Europa!“
       
       Ein Bürgermeister regt sich auf. Ein Weißrusse darf nicht weiter. Ukrainer
       müssen Umwege nehmen. Eindrücke von der deutsch-polnischen Grenze.