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       # taz.de -- Eine besondere Beziehung: Die Freundschaft nach dem Schuss
       
       > Im November 1977 schießen RAF-Terrorist Christof Wackernagel und Polizist
       > Herman van Hoogen aufeinander. Jahre später werden sie Freunde.
       
   IMG Bild: Ein Foto von Herman van Hoogen und Wackernagels Sohn Peter
       
       Also dass ich nicht schieße, um dich zu töten, sondern nur, um mir den Weg
       frei zu machen – das hast du nicht gedacht? 
       
       Nein, also wenn du schießt, um wegzulaufen, gibt es halt das Risiko, dass
       du mich totschießt, und die Absicht war doch in vielen Fällen da. In
       Kerkrade sind die Zollbeamten zum Beispiel mit Genickschuss erschossen
       worden, und das war sehr schlimm. Das hat mich sehr berührt, als ich das
       gesehen habe, dass das die Linie von der [1][RAF] war: Ein Polizist ist ein
       Schwein, das erschossen werden kann. Aber wenn ihr sagt, ihr wolltet nur
       wegkommen, dann muss ich das annehmen. Aber das hab ich damals nicht so
       gedacht. 
       
       Dieser Dialog stammt aus einer Tonaufnahme von 1992, in der das ehemalige
       RAF-Mitglied Christof Wackernagel und der niederländische Polizist Herman
       van Hoogen darüber sprechen, wie sie sich einst beinahe umgebracht hätten.
       
       Es ist November 1977, der [2][Deutsche Herbst]. Vor drei Wochen hat man
       Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen in
       Stammheim entdeckt, am Tag darauf wurde die Leiche von Arbeitgeberpräsident
       Hanns Martin Schleyer im Kofferraum eines abgestellten Autos im Elsass
       gefunden. Christof Wackernagel ist zu diesem Zeitpunkt erst seit Kurzem
       Mitglied der RAF.
       
       Am 9. November 1977 soll er Fotomaterial für eine Passfälschung in
       Amsterdam besorgen. Er will schnell zurück nach Deutschland, doch an diesem
       Tag fährt kein Zug mehr. Er übernachtet in einer RAF-Wohnung. Was er nicht
       weiß: Diese wird bereits von der niederländischen Polizei observiert.
       
       Am nächsten Morgen bekommt Wackernagel die Nachricht, dass sein RAF-Genosse
       Gert Schneider in Amsterdam mit dem Flugzeug landen wird, unbewaffnet.
       Wackernagel hat in Amsterdam Zugang zu Waffen. Er soll Schneider deshalb
       treffen und ihn begleiten.
       
       Der Polizist Herman van Hoogen bereitet sich am 10. November 1977 mit
       seiner Frau auf ein Abendessen mit Freund*innen vor, als das Telefon
       klingelt. Es ist dringend. Van Hoogen, der oft verschmitzt lächelt, einen
       breiten Schnauzer und lange Haare trägt, leitet eine Polizeieinheit, die
       auf die Festnahme besonders gefährlicher Verbrecher spezialisiert ist:
       Bankräuber, Entführer, Drogenhändler. Doch an diesem Abend geht es um etwas
       anderes.
       
       Es ist bereits dunkel, als van Hoogen an dem Ort ankommt, wo die Festnahme
       erfolgen soll. Er wartet mit seinen Männern in einem Auto und beobachtet,
       wie Schneider und Wackernagel in einer Telefonzelle telefonieren. Als die
       Polizisten sich nähern, fallen die ersten Schüsse. Quasi zeitgleich
       eröffnen beide Seiten das Feuer.
       
       Van Hoogen trifft Schneider mehrfach in den Bauch, Wackernagel verletzt van
       Hoogen am Arm, dann klemmt seine SIG-Sauer-Pistole. Auch Wackernagel wird
       getroffen und geht zu Boden, Schneider wirft, bereits auf der Straße
       liegend, noch eine Handgranate in Richtung der Polizisten. Als Wackernagel
       sich am Boden krümmt, schlägt ihm einer der Polizisten mit einem
       Gewehrkolben auf den Schädel. Trotzdem überleben alle wie durch ein Wunder
       die Festnahme.
       
       Es ist das erste Aufeinandertreffen von Christof Wackernagel und Herman van
       Hoogen. Und es ist, was damals noch niemand ahnt, der Anfang einer
       Freundschaft.
       
       Juni 2020. Mehr als 40 Jahre später lebt Christof Wackernagel mit seinem
       siebenjährigen Sohn im Münchner Vorort Ottobrunn. Es ist die Wohnung eines
       Intellektuellen. In den Regalen Buchraritäten neben Klassikern der
       politischen Literatur – Theodor W. Adorno, Frantz Fanon, Antonio Gramsci.
       Dazwischen ein ganzes Regal mit selbst geschriebenen Büchern, auf einem
       Stehpult liegt ein Laptop.
       
       Im Gespräch gerät Wackernagel schnell in einen Redefluss, in dem er sich
       von Idee zu Idee steigert. Er hat dabei etwas Ansteckendes, Inspirierendes.
       Er veröffentlicht gerade seine nachts protokollierten Träume der
       vergangenen 40 Jahre – auf 2.400 Seiten. Außerdem ist er Teil einer lokalen
       Altpunkband. In der Nachbarschaft hat er an Laternen Aufkleber mit den
       Slogans „Wasser statt Waffen“ oder „Profit ist Terror“ geklebt.
       
       Für Wackernagel haben Politik und Kunst immer zusammengehört. Bereits mit
       16 war er ein Nachwuchsfilmstar, mit Mitte 20 ging er dann zur RAF. Noch
       während er seine Haftstrafe nach der Schießerei verbüßte, arbeitete er im
       offenen Vollzug als Dramaturg am Bochumer Schauspielhaus. Später nahm seine
       Filmkarriere wieder Fahrt auf, als der Ex-RAFler ausgerechnet die
       Hauptfigur eines Polizisten in der RTL-Serie „Abschnitt 40“ spielte. Dann
       ging er nach Mali, um dort seine [3][Traumtrilogie „es“] zu schreiben. Zehn
       Jahre später floh er vor dem Vormarsch islamistischer Rebellen mit seinem
       in Mali geborenen Sohn nach Deutschland und forderte in einer „Anne
       Will“-Sendung den Einsatz deutscher Truppen gegen die Islamisten.
       
       Wackernagel kann nicht stillsitzen. Sein Körper scheint ständig zu beben,
       auch wenn – oder gerade wenn – er von der RAF erzählt. Dann tigert er durch
       sein Zimmer und sucht passende Titel aus seiner Bibliothek revolutionären
       Denkens zusammen.
       
       Im Kern begeistert sich Wackernagel auch heute noch für die
       gesellschaftliche Analyse der RAF. Nur mit deren Mitteln ist er nicht mehr
       einverstanden. Und das liegt auch an Herman van Hoogen, dem
       niederländischen Polizisten.
       
       Während Wackernagel stets die Öffentlichkeit suchte, entschied sich Herman
       van Hoogen für ein ruhiges Dasein. Er ging zum frühestmöglichen Zeitpunkt
       in Pension und genoss das Leben, reiste oder half seinem Sohn beim Hausbau
       in Frankreich. Bis heute wohnen er und seine Frau in Amsterdam. Im hohen
       Alter von 84 Jahren lehnt er Interviewanfragen aus gesundheitlichen Gründen
       ab.
       
       Deshalb basieren dieser Text und die Darstellung der Ereignisse auf den
       Gesprächen mit Christof Wackernagel und einer Tonbandaufnahme aus dem Jahr
       1992. Damals trafen sich Christof Wackernagel, Gert Schneider, Herman van
       Hoogen sowie Wackernagels damalige Frau Renate Eisel und van Hoogens Frau
       Hansje in Wackernagels Bochumer Wohnung, um ihre gemeinsame Geschichte zu
       rekonstruieren. Und um zu erklären, was laut Wackernagel „alle anderen
       Leute außer uns völlig verrückt finden“. Wie kann es sein, dass der
       ehemalige RAF-Kämpfer und der Polizist Freunde geworden sind? Der eine, der
       den Staat mit Gewalt abschaffen wollte, und der andere, der diesen Staat
       bewaffnet verteidigte?
       
       Es ist eine Freundschaft, die viel über politische Auseinandersetzungen
       erzählt – und darüber, wie entlang von ideologisch aufgeladenen
       Konfliktlinien der einzelne Mensch unsichtbar werden kann.
       
       Van Hoogens Stimme ist auf dem Tonband zu hören: „Ich erinnere mich an
       einen Mann in grauem Regenmantel und einen Mann in dunklem Anzug in der
       Telefonzelle.“
       
       „Hattest du keine Angst? Die RAF-Leute waren als gefährliche Verbrecher
       steckbrieflich gesucht“, fragt Renate Eisel, die das Gespräch 1992
       moderiert.
       
       Van Hoogen: „Nein, Angst hatte ich nicht. Ich hatte meine Waffe in der Hand
       und dachte, wir überraschen die Leute und die Hände gehen hoch, das habe
       ich gedacht.“
       
       Seine Frau Hansje lacht. Sie sagt: „Das war ein Irrtum!“
       
       Van Hoogen: „Aber wir haben auch verabredet, wenn das nicht so geht, dann
       werden wir schießen.“
       
       Für van Hoogen war es das zweite Mal in seiner Polizeilaufbahn, dass er
       schoss. Er erzählt auf dem Tonband, dass er dieses Mal drei Monate zu Hause
       blieb, um das Trauma, auf einen Menschen geschossen zu haben und selbst
       fast getötet worden zu sein, zu verarbeiten. Van Hoogens 14-jährige Tochter
       sympathisierte zu dieser Zeit mit der Amsterdamer
       Hausbesetzer*innenszene und erklärte ihrem Vater: „Erstens: Das sind
       keine Kriminellen. Und zweitens: Die haben nicht auf dich geschossen,
       sondern auf deine Funktion.“ Van Hoogen nahm die Worte seiner Tochter
       ernst.
       
       Drei Tage nach der Schießerei kommt Christof Wackernagel wieder zu
       Bewusstsein. Anwälte, Verhöre, ein Auslieferungsverfahren, das die
       Niederländer zunächst ablehnen. Wackernagel, der später die Akten einsehen
       konnte, sagt heute, die Niederlande hätten der Bundesrepublik nicht
       getraut, dass sie den schwer verletzten Staatsfeinden mitten im Deutschen
       Herbst die nötige Behandlung zukommen lassen würde, und auf das
       RAF-Mitglied Siegfried Hausner verwiesen, das kurz nach seiner Auslieferung
       aus Schweden im deutschen Gefängnis an den Folgen seiner Verletzungen
       gestorben war.
       
       So kommt es für Wackernagel und Schneider erst drei Jahre später zum
       Prozess in Düsseldorf. Es ist das zweite Aufeinandertreffen der beiden mit
       van Hoogen, der als Zeuge geladen ist.
       
       Van Hoogen auf dem Tonband: „Ich kam beim Gericht herein und sah zwei
       schüchterne Figuren, eher scheu, fast uninteressiert. Ich dachte: Ist das
       alles?“
       
       Es bleibt zunächst auch beim gegenseitigen Unverständnis.
       
       Renate Eisel auf dem Tonband: „Christof und Gert, ihr habt ja im Prozess
       behauptet, nicht ihr habt einen Mordversuch an den Polizisten begangen,
       sondern die Polizisten an euch. Ihr habt euch da hingestellt und gesagt:
       Wir waren die Opfer.“
       
       Schneider: „Also dass ich Täter war, war mir von Anfang an klar. Von den
       Behauptungen, die wir da aufgestellt haben, wusste ich, dass sie nicht
       haltbar sind. Das war eine Strategie. Und das ist eigentlich das
       Problematische an der Geschichte. Die Situation dort war sonnenklar: Dass
       dir, Herman, nichts anderes übrig blieb, als zu schießen, das wussten wir
       ganz genau. Aber man hat sich bei uns in der Gruppe konditioniert: Was mach
       ich, wenn ich verhaftet bin? Und wie reagiere ich dann? Infolgedessen ist
       das dann bei uns gar nicht mehr richtig als ’nen bewusster Akt abgelaufen,
       sondern wie ein Automatismus.“
       
       Wackernagel: „In dem Moment, wo du realisierst, da ist Polizei, verhältst
       du dich so, wie du es dir vorher vorgenommen hast. Da fragst du dich ja
       nicht mehr, ob der nett ist und wie du den findest. Da machst du dir keine
       Gedanken über den Menschen, das hättest du dir vorher machen müssen, wenn
       du die Entscheidung triffst, mit der Knarre auf die Straße zu gehen. Dazu
       kam, dass jeder innerhalb der Gruppe unter so ’nem Beweiszwang stand. Den
       anderen musste klar sein, wenn du jetzt runtergehst und da unten passiert
       was, dann knallt’s. Wir hatten noch keine Bank überfallen oder jemanden
       entführt. Erst wenn du so ’ne Aktion toll gemacht hast, dann wissen die
       anderen, dass du es ernst meinst. Deswegen ist das Absurde: Unsere einzige
       RAF-Aktion, wo wir wirklich bewiesen haben, dass wir RAF-Mitglieder sind,
       war das. Herman hat uns rausgeholt, bevor wir was Schlimmes machen
       konnten.“
       
       Es gibt noch ein absurdes Detail zur Schießerei bei der Festnahme. Hätten
       die beiden RAFler sich widerstandslos ergeben, dann hätten ihnen wohl keine
       langen Haftstrafen gedroht. Gert Schneider war zu diesem Zeitpunkt noch
       nicht einmal polizeibekannt.
       
       Renate Eisel auf dem Tonband: „Du, Herman, hast mal zu Christof gesagt,
       dass dein einziger Vorwurf an ihn ist, dass er dich gezwungen hat zu
       schießen.“
       
       Van Hoogen: „Ja, das ist richtig. Ich fühlte mich nicht als Opfer und nicht
       als Täter, und die Festnahme war für mich eine normale polizeiliche
       Maßnahme. Aber ich musste eine Grenze überschreiten, die ich nicht
       überschreiten wollte. Ich mag keine Gewalt. Ich musste dann aber
       rücksichtslos auf einen Menschen schießen, um selbst am Leben zu bleiben.
       Zwei Wochen vorher war in Utrecht ein Kollege von der RAF erschossen
       worden, und eine Woche vorher gab es einen Mordversuch an einem Kollegen in
       Den Haag. Und damals dachten wir, bald haben wir auch einen Fall in
       Amsterdam, und dann haben wir uns geistig darauf eingestellt; wir müssen
       vorsichtiger sein, und wenn etwas ist, dann müssen wir schießen. Das hab
       ich dann gemacht, und das muss man verarbeiten. Denn es ist richtig und
       gut, dass man als Polizist auch Emotionen hat und kein Automat ist.“
       
       Wackernagel und Schneider werden zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes
       verurteilt. Ins Gefängnis in Bochum bestellen sie sich die gesammelten
       Marx-Werke, sie wollen mit Marx in einem großen Analyseprojekt den
       bewaffneten Kampf der RAF begründen. Stattdessen bekommen sie zunehmend
       Zweifel und verheddern sich in Widersprüche zwischen den Mitteln der RAF
       und deren Zielen.
       
       Wackernagel schreibt sich in seiner Haftzeit mit 160 Leuten Briefe. Es sei
       besonders der linke Intellektuelle Wolfgang Pohrt gewesen, der sie zum
       Umdenken bewegt habe, sagt Wackernagel heute. „Wenn du feststellst, dass du
       mit Leuteumbringen keine befreite Gesellschaft herbeiführen kannst, dann
       musst du das lassen, weil: Du willst ja keine Leute umbringen“, erinnert er
       sich und fügt hinzu: „Dann hat Pohrt uns den goldenen Teppich hingelegt und
       gesagt:,Ihr seid keine schlechten Menschen, wenn ihr zugebt, es hat nicht
       geklappt. Ihr könnt da rausgehen und sagen, der Kampf geht weiter, aber mit
       anderen Mitteln.' “
       
       Wackernagel und Schneider machen ihre Zweifel an den Methoden der RAF 1984
       öffentlich, unter anderem in der taz und im Stern.
       
       Zu dieser Zeit trifft Herman van Hoogen auf dem Polizeirevier gelegentlich
       den Anwalt der beiden Inhaftierten, der ebenfalls in Amsterdam wohnt. Man
       grüßt sich, und van Hoogen nutzt die Gelegenheit, sich nach den beiden zu
       erkundigen. Er verfolgt die Diskussion, die sie öffentlich führen, mit
       großem Interesse.
       
       Van Hoogen auf dem Tonband: „Das Stern-Interview konnte ich selbst lesen,
       aber diese Diskussion um die Amnestie, das war sehr schwierige Sprache. Das
       war damals auch der Fehler, den die RAF gemacht hatte: Die Botschaft ist
       nicht rübergekommen bei den Arbeitern. Die konnten das auch nicht lesen und
       auch nicht verstehen. Ich hab das hundertmal gelesen, und dann wurde mir
       klarer, was gemeint ist.“
       
       Es ist dann die Idee des Anwalts, dass die Inhaftierten noch mal auf van
       Hoogen zugehen sollen, um ihn als Unterstützer eines Antrags auf vorzeitige
       Entlassung zu gewinnen.
       
       Van Hoogen: „Ich dachte, ja, warum nicht? Wenn das wirklich so ist. Ich
       habe das geglaubt, weil ich oft an Gert denken musste, der am Boden liegend
       noch bis zum Tod gekämpft hat. Und wenn man dazu bereit ist und man sich
       dann davon distanziert, dann war das für mich sehr glaubhaft. Ich habe
       gedacht, das kann nicht sein, dass er das nicht ernst meint und es nur
       sagt, um freizukommen. Dann habe ich die deutschen Kollegen vom BKA
       kontaktiert, und die sagten: ‚Ach was, das sind noch immer Hardliner, die
       sind immer noch in der RAF.‘ “
       
       Am 17. Januar 1985 schreibt van Hoogen einen Brief mit der Überschrift „Der
       Wunsch nach Vergeltung ist mir fremd“:
       
       Obwohl ich nach einer 30-jährigen Polizeilaufbahn manchmal auch nicht ganz
       frei von einem gewissen Zynismus bin, bin ich aufrichtig der Meinung, daß
       eine Distanzierungserklärung von Wackernagel und Schneider wesentlich
       weniger mißtrauisch beurteilt werden sollte als eine solche Erklärung von
       Seiten eines Kriminellen aus Gewinnsucht. 
       
       Ferner möchte ich noch anmerken, daß, außer der Tatsache, daß ich keine
       Haß- oder Rachegefühle empfinde, nach meiner Erfahrung sehr lange
       Haftstrafen nur selten eine günstige Wirkung auf das spätere Verhalten des
       Delinquenten gehabt haben. Wenn das Gericht, auch nach Erwägung meiner
       Gefühle, zu dem Beschluß gelangen würde, daß Wackernagel und Schneider
       vorzeitig in die Gesellschaft zurückkehren können, wäre ich erfreut über
       diese Entscheidung. 
       
       Der Brief zeigt seine Wirkung: Wackernagel und Schneider werden in den
       offenen Vollzug verlegt, und auch eine Entlassung nach zwei Dritteln der
       Haftstrafe wird sehr wahrscheinlich.
       
       Zugleich ist der Brief ein weiterer Grund, dass das einst so gefestigte
       Weltbild der beiden Ex-RAFler bröckelt. Ausgerechnet der Polizist Herman
       van Hoogen erkennt an, was große Teile der Gesellschaft nie anerkannt
       haben: dass der Kampf der RAF im Kern ein idealistischer war und somit
       nicht mit gewöhnlichen Verbrechen vergleichbar.
       
       Wackernagel sagt auf dem Tonband 1992: „Da wird für mich jetzt auch noch
       mal klar, warum zwischen uns so ’ne Beziehung entstehen konnte, weil du
       vielleicht einfach akzeptiert hast, dass es vielleicht scheiße war, aber
       dass wir es ernst gemeint haben. Und dass wir es nicht, wie es die
       Bundesanwaltschaft uns vorgeworfen hat, aus niederen Beweggründen gemacht
       haben. Und Herman hat gesagt: ‚Die spinnen, aber die meinen’s ernst.‘
       Dadurch weiß ich, du nimmst mich ernst, und dadurch kann ich auch dir
       gegenüber viel leichter zugeben, ja, das war falsch.“
       
       Van Hoogen scherzt: „Dass ich dich ernst genommen hab, ist auch der Grund,
       warum ich mit der Waffe in der Hand auf die Telefonzelle zugegangen bin.“
       Wackernagel lacht.
       
       Wackernagel und Schneider sind 1985 nach wie vor im Gefängnis, sie haben
       aber bereits Freigang und laden den Absender des Briefs nach Bochum ein. Es
       wird das erste persönliche Treffen der drei nach der Festnahme in
       Amsterdam.
       
       Auf dem Tonband erinnert sich Wackernagel daran so: „Ich weiß ganz genau,
       wie es war. Du standest unten an der Pforte, und das Wichtigste war dein
       Blick: absolut ohne was dahinter, ohne Hintergedanken. Der war neugierig
       und gab mir von Anfang an das Gefühl, ich kann so sein, wie ich bin. Ich
       glaube, der Unterschied zwischen uns ist: Du hattest es nicht nötig, das zu
       klären – wir schon. Wir hätten auch leben können ohne, aber so können wir
       sehr viel besser leben – aber du hättest auch so gut leben können.“
       
       Wackernagel, Schneider und van Hoogen spazieren zusammen durch die Bochumer
       Innenstadt und gehen dann italienisch essen.
       
       Renate Eisel fragt auf dem Tonband: „Worüber habt ihr denn geredet beim
       ersten Treffen?“
       
       Wackernagel: „Ich glaube, wir sind relativ schnell auf politische Themen
       gekommen, Apartheid, aber auch andere Themen, wo ich plötzlich das Gefühl
       hatte, dass Herman sich in seinen politischen Ansichten gar nicht so sehr
       unterscheidet. Gerade beim Verhältnis ‚Metropole – Dritte Welt‘, was ja der
       Hauptgrund war, warum wir die RAF gemacht haben, wegen der Ausbeutung, und
       da sagte Herman auch: ‚Das ist ungerecht, das ist eine Schweinerei, und man
       darf die Leute nicht verhungern lassen, und da sind wir dran schuld.‘ Und
       das sorgte dafür, dass dieses… dass man sich gegenseitig beinah umbringt,
       noch mehr wegschmilzt. Dass das Feindbild, dass der was ganz anderes war,
       plötzlich schrumpfte und verwischte. Ja, was soll ich denn gegen ihn haben,
       wenn er ähnliche Ansichten hat?“
       
       Van Hoogen: „Ja, das Thema Dritte Welt habe ich immer anders verstanden.
       Ich dachte immer, dass die RAF das Ziel hatte, die Gesellschaft hier zu
       vernichten, und das Thema Dritte Welt und Vietnam nur ein Vorwand war.“
       
       Wackernagel: „Also das kann sein, dass das unterbewusst so war. Aber
       zumindest in der Selbstrechtfertigung war es schon so, dass die, die in
       Vietnam und überall sich von der Ausbeutung befreien müssen, es nie
       schaffen, wenn wir nicht in der Metropole das System von innen aushöhlen.
       Das war die Überlegung.“
       
       Schneider: „Was Diffuses von befreiter Gesellschaft. Wir wollten vor allem
       nicht mitschuldig sein und raus aus dem System. Wir wussten auch, dass wir
       untergehen, ins Gefängnis kommen und nichts bewirken können.“
       
       Wackernagel: „Also dass das Ziel in unserem Leben nicht herstellbar ist,
       das wussten wir. Ich hatte auch keine konkrete Utopie im Kopf, weil das in
       totalitäre Systeme führt. Aber eine abstrakte Utopie schon: eine
       Gesellschaft, in der es niemanden mehr gibt, der an Hunger stirbt, wo
       niemand mehr daran gehindert wird zu lernen. Wo es ein Gesundheitswesen
       gibt, wo Menschen, die ins Krankenhaus kommen, einfach behandelt werden.
       Das waren so Grundbedingungen der Befreiung. Auf der anderen Seite die
       Idee, dass du in unserer Gesellschaft von deinen eigentlichen Bedürfnissen
       immer weiter entfremdet wirst, dass du ’ne Maschine wirst und nur durch den
       völligen Bruch mit der Gesellschaft der neue Mensch werden kannst. Das war
       das Postulat: Wir, die Gruppe, sind quasi der Anfang der neuen Strukturen,
       also die Verwirklichung als Mensch.“
       
       Wenn Christof Wackernagel heute im Garten seiner Wohnung auf seine Zeit im
       Untergrund blickt, dann schwingt da auch etwas Sehnsucht mit. Das zuzugeben
       ist nicht einfach, er zögert etwas, beißt sich auf die Lippen, beugt sich
       über den Tisch und flüstert einen Satz, der selbst 2020 öffentlich
       eigentlich unsagbar ist: „Niemals in meinem ganzen Leben fühlte ich mich so
       frei wie während der Zeit mit der RAF.“
       
       Er weiß, dass er diese Worte erklären muss: „Es war eine Vorwegnahme der
       Freiheit, die ich acht Milliarden Menschen gönne. So könnte die Welt sein,
       wie wir es damals erlebt haben – auch bedingt durch die Illegalität.“ Das
       einzige Mal im Leben fühlte er sich befreit von allen gesellschaftlichen
       Zwängen: „In gewisser Weise war ich selbst im Gefängnis geistig freier, als
       ich es draußen bin, ich wusste schon, wenn ich rauskomme, dann komme ich in
       den gesellschaftlichen Knast, der dich so einengen kann, dass du völlig das
       Bewusstsein verlierst, weil du dich reproduzieren musst. Jetzt hab ich ein
       Haus und ein Kind. Das sind Zwänge, die dich unglaublich eingrenzen – und
       das war alles weg in der RAF.“
       
       Wackernagel schiebt dann aber noch eine Einschränkung nach: „Vielleicht
       liegt es auch daran, dass ich nur zwei Monate da war, in der Hochzeit der
       RAF. Die ganze Welt drehte sich nur um uns. Da lässt sich’s gut fühlen.
       Aber sei du mal jahrelang in der Illegalität – das ist sicherlich kein
       Vergnügen.“
       
       Auch die Tatsache, dass er in der kurzen Zeit bei der RAF keinen Menschen
       tötete, erspart ihm eine Bürde, die andere ehemalige Terroristen tragen.
       
       1987 kommen Wackernagel und Schneider frei. Zur Entlassungsfeier erscheint
       Herman van Hoogen mit zwei Blumensträußen. Abends übernachten van Hoogen
       und Gert Schneider, zehn Jahre nachdem der eine geschossen und der andere
       eine Handgranate geworfen hat, im selben Zimmer in der Wohnung von
       Wackernagels Frau Renate Eisel.
       
       In der Folge verliert Gert Schneider, der fortan die Öffentlichkeit meidet
       und im Filmvertrieb arbeitet, van Hoogen aus den Augen. Ganz anders
       Christof Wackernagel. Ihre Freundschaft wird um ein weiteres elementares
       Kapitel reicher, als er das Ehepaar van Hoogen in Amsterdam besucht.
       
       Auf dem Tonband erzählt Wackernagel das 1992 so: „Wir kamen mit dem Taxi
       an, und Herman sagte: ‚Da ist meine Wohnung.‘ Da war ein Balkon und
       dahinter das Wohnzimmer und am Fenster ein Vorhang. Der Vorhang war ein
       bisschen auf, und Hermans Frau Hansje stand da und guckte raus und wartete
       auf uns. Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass diese Frau Witwe
       hätte sein können. Die Vorstellung, so hat sie damals auf Herman gewartet
       und gedacht: ‚Hoffentlich kommt er bald.‘ “
       
       Das Treffen mit Hansje van Hoogen ist für Wackernagel auf einer emotionalen
       Ebene der Schlüsselmoment in seiner radikalen Abkehr von Gewalt als
       politischem Mittel. Als sie einige Jahre später zusammenkommen, um ihre
       Geschichte zu rekonstruieren und auf Tonband aufzunehmen, kann Hansje van
       Hoogen immer noch nicht verstehen, wie man für das Ideal der Befreiung
       Gewalt einsetzen kann. Wackernagel gerät in Erklärungsnot.
       
       Wackernagel: „Wir haben ja den Widerspruch auch gesehen, aber du kannst
       halt sagen, aber es ist doch Gewalt, die verhindert, dass die Menschen
       leben können; es ist doch Gewalt, wenn Menschen aufgrund von Beschlüssen
       des IWF verhungern. Dann sagst du dir, es ist nicht Gewalt, es ist
       Gegengewalt; noch ein Krieg, und dann ist alles gut. Wir dachten, es
       funktioniert wie beim Auto: Die Zündung ist Herr Buback, aber wenn der
       Motor anspringt, dann kommt was ganz anderes. Und die Vorstellung, dass das
       wie ein Zündschloss funktioniert, das ist der Wahn.“
       
       Zum Ende des Tonbands fragt Renate Eisel Christof Wackernagel, wie er seine
       Beziehung zu van Hoogen beschreiben würde. Er denkt eine Weile nach.
       
       Wackernagel: „Also ich möchte ihn nicht missen. Ich traue mich immer noch
       nicht, von mir aus zu sagen, er ist mein Freund. Aber wenn er es sagt, sag
       ich es auch.“
       
       Van Hoogen: „Ich würde es ähnlich beschreiben wie Christof. Ich fühle, dass
       wir über alles reden können. Wenn früher jemand gefragt hat, ob wir Freunde
       sind, haben wir immer gesagt, Freundschaft entsteht nicht in zwei Tagen,
       das braucht ein bisschen Zeit. Aber mittlerweile würde ich schon sagen,
       dass das eine freundschaftliche Beziehung ist.“
       
       Das Tonband endet. Die Freundschaft zwischen Wackernagel und van Hoogen
       geht weiter. Sie sehen sich regelmäßig, treten auch in Talkshows zusammen
       auf und beteiligen sich an Diskussionen. Wackernagel erfährt, dass nicht
       alle Polizisten den Versöhnungskurs von van Hoogen gut finden. Während es
       einigen gleichgültig ist und sie mit den RAF-Leuten nichts mehr zu tun
       haben wollen, brechen andere den Kontakt mit ihrem Kollegen van Hoogen ab,
       weil sie dessen Initiative zur Versöhnung mit dem ehemaligen Feind
       ablehnen.
       
       Der Polizist, der Wackernagel den Gewehrkolben in die Stirn rammte, taucht
       später auf einer Buchvorstellung von Wackernagel auf und fragt ihn nach der
       Veranstaltung: „Na, haste noch Kopfweh?“
       
       Die Delle in Wackernagels Stirn ist noch heute sichtbar. Und nach wie vor
       kann Wackernagel unglaublich wütend auf gesellschaftliche Ungerechtigkeit
       werden, an der sich für ihn nichts geändert hat.
       
       Während des Treffens in München lädt er an einen metallenen Kochtisch, bei
       dem die Platte durch einen Gaskocher von unten erhitzt wird. Zusammen sitzt
       man um den warmen Tisch, wendet das Gemüse, Kartoffeln und etwas Halloumi
       im erhitzten Öl und isst direkt von der Platte. So, als kochten alle
       gemeinsam an einem großen Tisch und äßen, bis sie satt wären – eine
       Metapher darauf, was sich Wackernagel für die ganze Gesellschaft wünscht.
       
       „Mehr als zwei Milliarden Menschen auf der Welt leben ohne Zugang zu
       Trinkwasser, 6,3 Billionen Euro liegen auf deutschen Konten. Das kann nicht
       sein!“, ruft er. Er hämmert mit dem Löffel auf den Kochtisch: „Warum bin
       ich denn nach Mali gegangen? Dieses Bewusstsein, dass diesen Luxus, den wir
       hier haben… diesen wunderbaren Bio-Luxus-Rohkostsalat, den du hast, den
       bezahlen die Leute dort – und das musst du wissen. Ich lasse mir den
       trotzdem schmecken, aber ich muss in alldem, was ich politisch tue, dafür
       kämpfen, dass dieser Zustand ein Ende hat. Verdammt noch mal. Insofern hat
       sich bei mir nichts geändert in Bezug auf die Inhalte der RAF. Die habe ich
       von denen, und da bin ich heute noch dankbar.“
       
       Diskussionen über einen national gedachten Mindestlohn sind für ihn nur
       Augenwischerei, die Leute von Fridays for Future sind ihm zu wenig
       systemkritisch, Jugendliche, die „nur nachhaltig Party feiern wollen und
       nicht dafür kämpfen, dass alle Jungen auf der Welt genügend zu fressen
       haben“.
       
       Wackernagel will die ganz großen Probleme angehen, sofort und global. Sein
       Projekt ist eine „Arche der Menschheit“, bei der Abgesandte aus allen
       Regionen der Welt zusammenkommen und eine Karawane durch Afrika bilden, bei
       der sie die dringendsten Fragen der Menschheit klären sollen, unter anderem
       die nach Zugang zu sauberem Trinkwasser.
       
       Als Herman van Hoogen das erste Mal von der Idee hörte, habe er Wackernagel
       auf die Schulter geklopft und gesagt: „Ich bin stolz auf dich, mein Junge,
       jetzt machst du das mit den richtigen Mitteln, was du mit der RAF mit den
       falschen gemacht hast.“
       
       An dem Kochtisch sind die Stunden verstrichen. Wackernagel muss los, seinen
       Sohn von der Tagesbetreuung abholen, einen Fahrradhelm kaufen. Er ist
       alleinerziehend. Da kommt heute oft der Alltag vor der Gesellschaftsutopie.
       
       Aber kurz will er noch das letzte Kapitel seiner Freundschaft zu Herman van
       Hoogen erzählen. Es war ein Besuch vor zwei Jahren mit seinem Sohn Peter
       bei den van Hoogen in Amsterdam. Stolz zeigt er ein Video, auf dem van
       Hoogen, auf einem Sofa sitzend, mit Wackernagels Sohn spielt. Kurz darauf
       erzählen Wackernagel und van Hoogen dem damals Fünfjährigen ihre Geschichte
       – von der Telefonzelle bis zu diesem Moment auf der Couch.
       
       Der kleine Junge hört zu und schweigt, während sein Vater erklärt: „Und
       daran kann man sehen, dass Pistolen was Schlechtes sind und ich eben auch
       mal eine genommen habe. Aber gerade weil ich eine genommen habe, kann ich
       sagen, Pistolen sind ganz, ganz schlecht.“
       
       12 Jul 2020
       
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