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       # taz.de -- Offener Brief gegen „Cancel Culture“: Die Vielfalt im Diskurs
       
       > In einem offenen Brief monieren rund 150 Prominente eine „Atmosphäre der
       > Zensur“ in öffentlichen Debatten. Doch ist Widerspruch schon Zensur?
       
   IMG Bild: Debatten werden lauter, wenn mehr Stimmern teilnehmen
       
       Kaum eine Woche vergeht, ohne dass „Joanne K. Rowling“ unter den trendenden
       Themen bei Twitter auftaucht. Auslöser sind meist die wiederholt
       transfeindlichen Äußerungen der „Harry Potter“-Autorin. Rowling deutet etwa
       an, dass [1][Transfrauen keine Frauen seien] und [2][dass Transaktivismus
       dem Feminismus schade]. Hormontherapien setzte sie mit den [3][in
       Deutschland für Minderjährige seit diesem Jahr verbotenen]
       Konversionstherapien gleich, die dazu dienen sollten, homosexuelle Menschen
       von ihrer Sexualität zu „heilen“.
       
       Für derlei Tweets und Texte bekommt Rowling regelmäßig deutliche Kritik aus
       der LGBTQI-Community und von Feminist:innen. Sie wird als TERF bezeichnet,
       also als „Trans-Exclusionary Radical Feminist“. Und Rowling? Sie sieht sich
       als Opfer eines Shitstorms.
       
       Deswegen verwundert es nicht, dass auch sie den offenen Brief [4][„A Letter
       on Justice and Open Debate“], veröffentlicht von dem US-amerikanischen
       Harper’s Magazine, unterzeichnet hat. Rund 150 Personen, ein Who’s who der
       Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsszene, bemängeln darin ein „Klima der
       Intoleranz“ und fordern mehr Liberalismus in Debatten. Sie seien zwar für
       Gleichstellung und Inklusion, sehen aber eine Einengung von „freiem
       Austausch von Informationen und Ideen“.
       
       Und dann holen sie zum Schlag mit dem Hufeisen aus: Wie bei „radikalen
       Rechten“ konstatieren sie auch in „unserer Kultur zunehmend eine Atmosphäre
       von Zensur“. Unterschrieben haben den Brief, den die [5][Zeit in deutscher
       Sprache veröffentlichte], unter anderen der Linguist Noam Chomsky, die
       [6][Frauenrechtlerin Gloria Steinem] und der Jazztrompeter Wynton Marsalis,
       Schriftsteller:innen wie Margaret Atwood, Daniel Kehlmann oder [7][Salman
       Rushdie] sowie Journalist:innen wie Fareed Zakaria und Bari Weiss.
       
       ## Das Ausmaß überschätzt
       
       Der Brief polarisiert. Neben Beifall aus der „Endlich sagt’s mal
       einer“-Fraktion gibt es auch harsche Kritik. Die
       [8][New-York-Times-Kolumnistin Jenny Boylan] und die Historikerin Kerri
       Greenidge zogen ihre Unterschriften bereits zurück. Andere haben trotz
       Anfrage gar nicht erst mitgemacht. Etwa der Historiker Benjamin E. Park.
       [9][Er schrieb bei Twitter] „Meine unmittelbare Reaktion auf den
       Harper’s-Brief war, mich an die vielen Studien zu erinnern, die darlegen,
       wie privilegierte Stimmen immer das Ausmaß überschätzen, in dem
       marginalisierte Stimmen einen Diskurs dominieren.“
       
       Auch [10][Richard Kim von der HuffPost] wollte den Brief nicht
       unterzeichnen: „Weil ich in 90 Sekunden erkennen konnte, dass es sich um
       albernes, selbstgefälliges Gefasel handelte.“ Selbstgefällig vermutlich,
       weil ein Teil der Unterzeichnenden sich von „Zensur“ betroffen fühlt und
       als Opfer „illiberaler“ Debatten sieht; und das, obwohl die meisten von
       ihnen über eine enorme Reichweite, genügend Habitus und Vermögen verfügen,
       um sich in dieser Gesellschaft Gehör zu verschaffen.
       
       Auch Ian Buruma hat unterzeichnet. Der bekannte Autor und Journalist wurde
       von New York Review of Books gekündigt, nachdem er einen Essay des Musikers
       Jian Ghomeshi veröffentlicht hatte – diesem wird von mehr als zwanzig
       Frauen sexuelle Belästigung vorgeworfen. Und eine andere Unterzeichnerin,
       Bari Weiss, Meinungsredakteurin der New York Times, [11][meldete angeblich
       eine Schwarze Redakteurin bei ihrem Vorgesetzten], weil diese keinen Kaffee
       mit ihr trinken wollte – und wurde dafür öffentlich kritisiert. Es gibt
       noch viele weitere dieser Beispiele.
       
       In der Argumentation bleibt der Brief jedoch unspezifisch: „Redakteur_innen
       werden entlassen, weil sie umstrittene Beiträge gebracht haben; Bücher
       werden wegen angeblichen Mangels an Authentizität zurückgezogen;
       Journalist_innen dürfen über bestimmte Themen nicht schreiben; gegen
       Professor_innen wird ermittelt, weil sie im Unterricht gewisse
       literarische Werke zitiert haben“, heißt es da. Namen und Kontexte werden
       ausgelassen, doch gerade der Kontext ist in der Debatte entscheidend.
       
       ## Keine Gesprächseinladung
       
       Mit entlassenen Redakteur:innen beziehen sich die Briefschreiber:innen
       vermutlich auf die Kontroverse, die es kürzlich um den ehemaligen
       Meinungschef der New York Times, James Bennett, gab. Dieser war für ein
       Stück des republikanischen Senators Tom Cotton verantwortlich, [12][das
       unter der Überschrift „Send In the Troops“] für den Einsatz des Militärs
       gegen die Black-Lives-Matter-Proteste warb.
       
       Nach scharfer Kritik daran wurde Bennett jedoch nicht gefeuert, sondern er
       trat zurück. Der Artikel wurde nicht nur wegen seiner Bedrohlichkeit für
       die Schwarze Bevölkerung kritisiert, sondern auch wegen sachlicher Fehler,
       was später von der New York Times eingeräumt wurde. Zudem gab James Bennett
       zu, dass er den Beitrag vor der Veröffentlichung nicht gelesen habe.
       
       Dieser offene Promi-Brief ist mit seiner verkürzten Argumentation keine
       Gesprächseinladung, sondern er belässt es bei Geraune. Man könnte ihn also
       schlicht ignorieren, doch reiht er sich ein in eine seit Jahren andauernde
       Debatte über vermeintliche Sprechverbote, „Cancel Culture“ (ein Begriff aus
       den USA für einen vermeintlichen Onlineboykott von Personen oder
       Unternehmen, dessen Konsequenzen ins Analoge reichen), „Political
       Correctness“ und „Identitätspolitik“, in der die immer gleichen Argumente
       neu aufgelegt werden.
       
       Denn – hier muss man dem Brief zustimmen – die Debattenkultur hat sich in
       den letzten Jahren verändert. Auch dank sozialer Medien haben sich
       Reichweiten verschoben. Die Teilnehmer:innen an den Debatten sind
       vielfältiger geworden. Die Stimmen marginalisierter Menschen können stärker
       wahrgenommen werden. Die Intellektuellen sehen sich nun offenbar mit
       Stimmen konfrontiert, denen sie vorher schlicht und ergreifend nicht
       zugehört haben, nicht zuhören mussten.
       
       ## Es geht um die Deutungshoheit
       
       Darin, dass sich mehr Stimmen am öffentlichen Gespräch beteiligen,
       „Sprechverbote“ oder „Klima der Intoleranz“ sehen zu wollen, ist
       einigermaßen absurd. So wies der US-amerikanische Autor Ta-Nehisi Coates
       2019 in einem [13][Essay in der New York Times] darauf hin, dass „Cancel
       Culture“ schon immer existiere, allerdings als Privileg der Mächtigen.
       Durch soziale Medien sei die Kultur demokratisiert worden. Die
       Unterzeichneten reagieren also wohl eher auf den Verlust der eigenen
       Deutungshoheit als auf ein „Redeverbot“.
       
       Das Narrativ, aus Angst vor Rassismusvorwürfen nichts mehr sagen zu können,
       wird nicht nur in den USA, sondern auch in deutschen Feuilletons immer
       wieder bedient. Doch ist es nicht etwas Positives, wenn rassistische
       Äußerungen nicht (mehr) unwidersprochen in die Welt hinausposaunt werden
       können? Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Gut in einer Demokratie, doch
       Meinungsfreiheit bedeutet eben nicht, keinen Widerspruch aushalten zu
       müssen.
       
       Zugegeben, der Ton in sozialen Medien kann hart sein, und ein Shitstorm,
       der sich erst durch seine eher explosive Form definiert, ist keine
       angenehme Form des Diskurses. Doch erstens ist nicht jede geäußerte Kritik
       gleich ein Shitstorm, und zweitens bleibt marginalisierten Menschen häufig
       kein anderer Weg, außer sich als Masse Aufmerksamkeit zu verschaffen. Es
       ist eine Selbstermächtigungsstrategie, die Machtunterschiede deutlich
       machen will. Kritik hat selbstverständlich ihre Grenzen, etwa wenn es um
       Drohungen geht.
       
       ## Wut und Schmerz
       
       [14][Robert E. Reich, US-amerikanischer Jurist] und Professor an der
       University of California, Berkeley, fasst es so zusammen: „Ich habe
       abgelehnt, den Harpers Brief zu unterschreiben, weil „Trumpism“, Rassismus,
       Fremdenfeindlichkeit und Sexismus solch einen freien Lauf und unheilvollen
       Einfluss hatten in den letzten Jahren, dass wir den Ausdruck von Wut und
       Schmerz, der endlich gehört wird, ehren und respektieren sollten.“
       
       Denn was die Unterzeichner:innen des offenen Briefes in ihrer
       Argumentation vollkommen außer Acht lassen, sind bestehende
       Machtverhältnisse und wer in der Realität ein „Klima der Intoleranz“
       erlebt. Die Auseinandersetzung mit den jeweiligen eigenen Privilegien wäre
       jedoch die Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Debatten auf Augenhöhe.
       
       12 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/jk_rowling/status/1269389298664701952?s=20
   DIR [2] https://www.jkrowling.com/opinions/j-k-rowling-writes-about-her-reasons-for-speaking-out-on-sex-and-gender-issues/
   DIR [3] /Bundestag-schuetzt-Homosexuelle/!5683595
   DIR [4] https://harpers.org/a-letter-on-justice-and-open-debate/
   DIR [5] https://www.zeit.de/2020/29/cancel-culture-liberalismus-rassismus-soziale-gerechtigkeit
   DIR [6] /Essay-zur-Debatte-um-sexuelle-Belaestigung/!5482693
   DIR [7] /Salman-Rushdie-ueber-sein-neues-Buch/!5638515
   DIR [8] https://twitter.com/JennyBoylan/status/1280646004136697863?s=20
   DIR [9] https://twitter.com/BenjaminEPark/status/1280617469367943168?s=20
   DIR [10] https://twitter.com/RichardKimNYC/status/1280592642645114880?s=20
   DIR [11] https://twitter.com/byjoelanderson/status/1268654308205006848?s=20
   DIR [12] https://www.nytimes.com/2020/06/03/opinion/tom-cotton-protests-military.html
   DIR [13] https://www.nytimes.com/2019/11/22/opinion/colin-kaepernick-nfl.html
   DIR [14] https://twitter.com/RBReich/status/1280885837081661441?s=20
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
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