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       # taz.de -- UN-Sicherheitsrat und humanitäre Hilfe: Die Syrien-Falle
       
       > In keinem anderen Land befindet der Weltsicherheitsrat über Details
       > humanitärer Hilfe. In Syrien wollte er damit das Regime in die Schranken
       > weisen.
       
   IMG Bild: Am Grenzübergang Bab al-Salam wehen die Flaggen der Assad-Gegner, der „Freien Syrischen Armee“
       
       Berlin taz | Wieso sagt der UN-Sicherheitsrat, [1][wie humanitäre Hilfe für
       die syrische Zivilbevölkerung aus Nachbarländern heraus geleistet werden
       darf?] In anderen Konfliktsituationen hat es so eine Hürde nie gegeben.
       Jahrzehntelang war Kenia Ausgangsbasis für humanitäre Hilfe in gigantischem
       Ausmaß für [2][Notleidende in Somalia und Südsudan]. Die Millionen
       Hilfsbedürtigen der Demokratischen Republik Kongo werden zum Teil aus ihren
       östlichen Nachbarländern heraus versorgt. Nie hat der UN-Sicherheitsrat
       dafür grünes oder rotes Licht geben müssen oder gar die Nutzung einzelner
       Grenzübergänge beraten.
       
       Die Idee, dass UN-Vetomächte laufende Hilfsoperationen irgendwo auf der
       Welt stoppen dürfen, stellt die Sinnhaftigkeit der Vereinten Nationen auf
       den Kopf und ist streng genommen völkerrechtswidrig. Das in den Genfer
       Konventionen gesetzte humanitäre Völkerrecht verbietet Angriffe auf die
       Zivilbevölkerung, gebietet deren Schutz und verpflichtet Konfliktparteien
       zur Versorgung der Zivilbevölkerung „mit den für das Überleben
       unerlässlichen Gütern“. Ein Zusatzprotokoll über den Schutz der Opfer nicht
       internationaler bewaffneter Konflikte verpflichtet Kriegsparteien dazu,
       „Hilfsaktionen rein humanitärer unparteiischer Art zugunsten der
       Zivilbevölkerung ohne jede nachteilige Unterscheidung“ zuzulassen.
       
       Doch, wie ein Gutachten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)
       kritisch anmerkt, gibt es keine Pflicht, den Zugang zu hilfsbedürftigen
       Personen zu gewährleisten. Festgeschrieben ist lediglich die nötige
       Zustimmung der Konfliktparteien zu Hilfsaktionen, die nicht „willkürlich“
       verweigert werden darf, wie es das IKRK in seinen von der UNO anerkannten
       humanitären Richtlinien ausführt.
       
       Genau wegen einer solchen „willkürlichen“ Verweigerung wurde der
       UN-Sicherheitsrat überhaupt erst im Falle Syrien tätig. Am 2. Oktober 2013,
       als der Syrienkrieg drastisch eskalierte, nachdem ein [3][Einsatz
       verbotener Chemiewaffen durch Syriens Militär] Tausende Zivilisten getötet
       hatte, forderte der Rat in einer Erklärung „sofortiges Handeln, um die
       sichere und ungehinderte Leistung humanitärer Hilfe im gesamten Land zu
       ermöglichen“.
       
       Am 22. Februar 2014 stellte der Sicherheitsrat in der einstimmig
       angenommenen UN-Resolution 2139 fest, diese Erklärung sei folgenlos
       geblieben. Der Rat, so der Resolutionstext, „verlangt, dass alle Parteien,
       insbesondere die syrischen Behörden, unverzüglich UN-Hilfswerken und ihren
       ausführenden Partnern den raschen, sicheren und ungehinderten humanitären
       Zugang gewähren, einschließlich über Konfliktlinien und Grenzen“.
       
       ## Eine Verletzung des Völkerrechts
       
       Und am 14. Juli 2014 stellte der Rat in der ebenfalls einstimmig
       angenommenen Resolution 2165 eine „andauernde, willkürliche und
       ungerechtfertigte Verweigerung von Zustimmung zu Hilfsoperationen“ durch
       Syriens Regierung fest und nannte dies „eine Verletzung des humanitären
       Völkerrechts“. Er beschloss, dass UN-Helfer und ihre Partner vier
       namentlich genannte Grenzübergänge für humanitäre Zwecke überqueren dürfen.
       Dies wird durch einen Monitoring-Mechanismus mit jährlicher Erneuerung
       überwacht.
       
       Erstmals trat der UN-Sicherheitsrat mit diesem Beschluss aus dem Jahr 2014
       an die Stelle der Regierung eines Staates, was Zustimmung zu humanitärer
       Hilfe angeht. Syriens Regierung wird darüber nur noch „benachrichtigt“.
       
       Während andere Regierungen, die Krieg im eigenen Land führen, gerne
       UN-Helfern das Schicksal ihrer Bevölkerung überlassen, lehnt in Syrien die
       Regierung humanitäre Hilfe außerhalb ihrer Kontrolle ab. Rebellengebiete
       hungert das Regime nach Möglichkeit aus; im Regierungsgebiet wird keine
       Betätigung außerhalb der staatlichen Kontrolle geduldet. UN-Hilfswerke
       dürfen dort nur als Partner regimetreuer Organisationen auf einer
       offiziellen Liste arbeiten, an die alle Aufträge zu vergeben sind – an
       erster Stelle das Syrische Rote Kreuz, dann die „Syrien-Stiftung für
       Entwicklung“ der Präsidentengattin. Laut „Human Rights Watch“ fließen auf
       solchen Wegen UN-Gelder in Millionenhöhe an Regimeangehörige unter US- oder
       EU-Sanktionen.
       
       Weder eine unabhängige Bedarfserhebung noch eigenständige Tätigkeiten sind
       UN-Helfern im Regierungsgebiet erlaubt; jede Reise außerhalb von Damaskus
       muss beantragt, jede Hilfsaktion genehmigt werden. Im April und Mai 2020
       wurden von 57 derartigen Anträgen 26 genehmigt und nur 17 tatsächlich
       durchgeführt, wie aus dem jüngsten Bericht des Monitoring-Mechanismus
       hervorgeht. Syriens Regierung geht auch restriktiv mit Visa für UN-Personal
       um: von 194 beantragten Visa oder Visaverlängerungen im April und Mai
       wurden nur 87 genehmigt.
       
       ## Information über UN-Lieferungen
       
       Die UN-Lieferungen aus der Türkei ins syrische Rebellengebiet hinein halten
       sich in Grenzen. Im April und Mai gab es 47 grenzüberschreitende
       UN-Hilfskonvois, davon 20 über Bab al-Hawa und 27, allerdings meist
       kleinere, über den nunmehr für die UNO geschlossenen Grenzübergang Bab
       al-Salam. Wie auch andernorts herrscht eine strikte Trennung zwischen
       UN-Verkehr und sonstigem Verkehr: lokale Spediteure dürfen keine UN-Güter
       transportieren und umgekehrt. Syriens Regierung wird mit 48 Stunden Vorlauf
       über jede Lieferung informiert: Inhalt, UN-Besitzer, Zielort, Anzahl der
       Lastwagen.
       
       Sollten UN-Hilfswerke Grenzübergänge nutzen, die nicht vom
       UN-Sicherheitsrat genehmigt sind, müssten sie Repressalien in Syriens
       Regierungsgebiet fürchten. Ein komplettes Aus für die grenzüberschreitende
       Hilfe, wie es jetzt im Raum stand, würde demgegenüber alle UN-Hilfswerke
       dazu zwingen, nach Damaskus umzuziehen, wenn sie in Syrien weiterarbeiten
       wollen. Aus der UN-Drohgebärde von 2014 ist eine Falle geworden, in der die
       UN selbst sitzt.
       
       12 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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