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       # taz.de -- Die Wahrheit: Auf massiv dünnem Eis
       
       > Neues von der Sprachkritik: Im Meer der vielen Widersprüche, wo sind da
       > Zeit und Sinn, wo sind sie hin, wo sind sie hin?
       
   IMG Bild: Aus allen Röhren Quackeln ist des Menschen liebstes Ding
       
       Zwischen Sprache und Mathematik gibt es einen kleinen Unterschied: Eine
       Zahl ist eine Zahl ist eine Zahl. Ein Wort hingegen bedeutet nicht immer
       dasselbe: Die „Untiefe“ ist mal eine seichte Stelle, mal eine abgründige
       Tiefe; „sanktionieren“ heißt mal „bestrafen“, mal „billigen“; die
       Präposition „bis“ bezeichnet mal eine Strecke oder eine Zeitspanne wie im
       Sprichwort vom Krug, der zum Brunnen geht, bis er bricht, und mal schreibt
       das Greenpeace-Magazin: „Bisher hat nur Lidl erklärt, auf Fleisch aus der
       schlechtesten Haltungsform für Schweine bis 2022 und für Rinder bis 2025 zu
       verzichten.“
       
       Danach wird es also wieder verkauft? Nein, „bis“ soll hier „ab“ bedeuten.
       Doch das ist falsch: Schulgemäß antwortet „bis“ auf „Wie weit?“ und „Wie
       lange?“, nicht auf „Wann?“.
       
       Umgangssprachlich gehen solche Unterschiede schnell verloren, weil man sich
       darauf verlässt, dass die Leute es schon falsch verstehen werden. Für
       dieses Phänomen gibt es weitere Beispiele, so die Äußerung des
       FDP-Politikers Benjamin Strasser: „Wir brauchen weniger Behörden, die sich
       besser abstimmen und mehr verantwortlich fühlen.“ Oder meint er tatsächlich
       – die FDP ist ja Staatsfeind Nummer eins –, was er sagt? Wenn nicht, hätte
       er bloß ein „dafür“ vor „besser“ einfügen müssen.
       
       Nicht gegen den deutschen, aber gegen den chinesischen und vor allem den
       Islamischen Staat sind alle. Bis auf die taz! Sie lobt China, weil eine
       gewisse Guo Jianmei „wie viele andere Menschenrechtsanwälte in China nicht
       verhaftet worden sei“ – ein unbeabsichtigtes Lob, zustande gekommen, weil
       nicht ein einziges Wort an der richtigen Stelle, stopp: weil ein einziges
       Wort nicht an der richtigen Stelle steht: In Wahrheit wurde Guo Jianmei
       nicht wie viele andere Menschenrechtsanwälte verhaftet.
       
       ## Unterschied zwischen Wahrheit und Journalismus
       
       Vermutlich haben die wenigsten den kleinen Unterschied, der zwischen
       Wahrheit und Journalismus liegt, bemerkt. Es genügt halt, auf der richtigen
       Seite zu stehen, wenn man unfähig ist, das auszudrücken: „Rückkehrer, die
       in Syrien oder im Irak für den,Islamischen Staat' gekämpft haben, gibt es
       auch bei uns. Manche von ihnen haben sich inzwischen losgesagt, doch wie
       kann man verhindern, dass es so weit kommt?“
       
       Statt zu verhindern, dass es mit den Missverständnissen weitergeht, erzeugt
       unsere geliebte taz leider andere, zum Beispiel in ihrem Politikteil:
       „Keinem anderen wurden in Deutschland mehr Denkmäler gesetzt als Otto von
       Bismarck. Rund 700 sollen es sein. Doch seit einigen Jahren haben die
       Rechten den,Eisernen Kanzler' für sich entdeckt.“
       
       Auf der Wirtschaftsseite so: „Druck in Richtung,Quantität vor Qualität'
       hatte vor allem Cordts Vorgänger Franz-Jürgen Weise entfaltet. Cordt aber
       hatte, nachdem sie Anfang 2017 auf Weise folgte, dessen Kurs fortgesetzt.“
       
       Digital so: „Uber-Fahrten sind deutlich günstiger als Taxifahrten. Der
       damit immer größere Einkommensverlust stürzt traditionelle Taxi- und
       Lieferfahrten dagegen in zunehmendem Maße in Existenznot.“
       
       In Sachen Ost-West so: „Frauen aus dem Osten gelten als besonders flexibel
       und aufstiegsorientiert und haben das vereinigte Deutschland entscheidend
       mitgeprägt. Aber wie kommt das?“ (taz)
       
       ## Geschichtliche Entwicklung durch Gegensätze
       
       Aber wie kommt das? Widersprüche und Gegensätze treiben die geschichtliche
       Entwicklung voran, und vielleicht sitzen heimliche Anhänger von Marx’ und
       Engels’ historischem Materialismus schmunzelnd in den Redaktionen.
       Wahrscheinlicher ist, dass es bloß eine Mode ist. Man verplempert keine
       Zeit damit, selbst die Wörter auszusuchen und die Sätze zusammenzubauen,
       sondern folgt massiv den gerade angesagten Mustern wie Annalena Baerbock,
       die während der Coronakrise warnte: „Wir sind auf massiv dünnem Eis.“
       
       Mit Modewörtern und Floskeln begibt man sich auf massiv dummes Eis. „Mit
       einer kleinen Portion Glück“, so Sportfunktionär Alfons Hörmann während der
       vorletzten olympischen Winterspiele, „können wir die Goldquote von
       Vancouver auf jeden Fall erfüllen.“ Warum braucht es dann Glück? Peter
       Altmaier wiederum findet, dass eine Summe von 3 statt 150 Milliarden Euro
       „im Vergleich absolut gering“ ist. Ist es dann nicht relativ gering?
       
       Manche verpassen sogar ihren Sätzen einen neuen Look, indem sie sie
       entzweischneidern und einen Nebensatz abtrennen, um dessen ganz eigene
       Bedeutung hervorzuheben. Die taz schreibt über den Vorwurf, das Coronavirus
       stamme aus einem Labor bei Wuhan: „Weder hat die US-Regierung bislang
       irgendwelche Indizien vorgelegt, die über öffentlich verfügbare
       Medienberichte hinausgehen. Noch erscheint die Labortheorie mit dem
       derzeitigen Wissensstand als annähernd wahrscheinlich.“ Kleine Ursache,
       große Wirkung: Ein kleiner Punkt statt eines Kommas sorgt für eine kurze
       Unterbrechung des Zusammenhangs und stülpt den Sinn um ins Gegenteil.
       
       Der Sinn hat eben keine Bedeutung mehr. „Waffenbesitzer werden oftmals
       selten kontrolliert“, klagt die Thüringer Allgemeine. „Künftig nun soll es
       nur noch acht Landkreise geben“, berichtete ebenfalls aus Thüringen nun
       einst die taz. Die Zeit scheint aus den Fugen, und auch mit dem Raum
       scheint irgendetwas nicht zu stimmen. Gerade hat China einen
       „Übertragungssatelliten in die Umlaufbahn des Mondes geschickt“ (taz). Wozu
       der Umweg? Man kann die Leute doch direkt zum Mond schießen.
       
       14 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Köhler
       
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