URI: 
       # taz.de -- Abschied von Matthias Lilienthal: Mit Gras und Sonne
       
       > Mit einer „Opening Ceremony“ im Olympiastadion endet Lilienthals
       > Intendanz an den Münchner Kammerspielen. Toshiki Okada inszenierte den
       > Abgesang.
       
   IMG Bild: Es ist die wohl größte Bühne der Stadt: das Münchner Olympiastadion
       
       Mit einer „Opening Ceremony“ eine Intendanz zu beenden, darauf muss man
       erst mal kommen. Was sich jedenfalls öffnet, als [1][Matthias Lilienthals]
       Kammerspiele-Ensemble zu seinem letzten Streich antritt, ist der Himmel
       über München. Es war nicht vorauszusehen, dass der Regen an diesem
       wasserreichen Julitag eine großzügige Nachmittagspause macht. Es ist aber
       schön, schließlich hat schon die Coronapandemie dem Mann aus Berlin
       großflächig den Abgang verhagelt.
       
       Um die Eigendynamik der Natur geht es irgendwie auch in dem
       Abschiedswinken, zu dem die Kammerspiele ins Münchner Olympiastadion
       eingeladen haben. Es ist die wohl größte Bühne der Stadt und ein Ort, den
       Lilienthal sehr mag, weil er – erbaut für die Olympischen Sommerspiele 1972
       – die Vision einer offenen und demokratischen Gesellschaft verkörpert.
       
       Sich dieser grandiosen Architektur zu stellen ist mutig und ein letzter
       Beweis dafür, dass der [2][zunächst stark angefeindete und in seinem
       fünften Jahr gefeierte Intendant] immer für eine Überraschung gut ist – und
       die Gegensätze liebt. Denn den großen Raum füllt hier ein ausgemachter
       Meister des Kleinen.
       
       [3][Toshiki Okada war einer der wichtigsten Regisseure] der Lilienthal-Zeit
       in München. Sein Thema ist die Vereinzelung (japanischer) Großstädter,
       seine Sprache eine autistisch anmutende Abfolge von Bewegungs-Ticks, die
       seine Performer unter ihrem Dauerquasseln (und oftmals ihm widersprechend)
       mitlaufen lassen.
       
       ## Okada extra aus Japan angereist
       
       Was etwa Julia Windischbauer in und als „The Vakuum Cleaner“ aussehen
       lassen konnte, als würde es ohne ihr eigenes Zutun mit ihrem Körper
       passieren, muss sehr lange geprobt werden.
       
       Für die „Opening Ceremony“ ist Okada für ganze fünf Tage aus Japan
       angereist (was eine lokale Zeitung zum Anlass genommen hat, über die
       CO2-Bilanz umweltbewegter Kulturschaffender zu räsonieren). Er hätte auf
       einer Szene aufbauen können, die er für das coronabedingt abgesagte
       Spektakel „Olympia 2666“ schon im Kasten hatte.
       
       Doch was jetzt gezeigt wurde, ist neu, dauert keine Stunde und steht damit
       im größtmöglichen Kontrast zum ursprünglich geplanten
       Abschieds-Schaulaufen, das – analog zu Lilienthals Abschied vom HAU 2012 –
       24 Stunden hätte dauern sollen. Das ist durchaus als Antiklimax und als Ja
       zu den neuen Zeiten zu sehen, aber auch ein wenig enttäuschend.
       
       Auf der größten Bühne der Stadt wirken die 18 Schauspieler winzig. Das
       70.000 Menschen fassende Stadion gerät zum Suchbild, seine Leere zur
       Aufforderung, der Herkunft der Stimmen nachzuforschen, die die
       Stadionanlage überträgt.
       
       ## Sie muss aufs Klo und mag es sauber
       
       Die erste stammt von Julia Riedler, die sich von ihrer Natur – sie muss
       aufs Klo – und ihrer Kultur – sie mag es neu und sauber – zu einem Stunt
       genötigt sieht: Vom transparenten Dach des Olympiastadions aus, dem wohl
       schönsten Architekturdenkmal Münchens, fliegt sie mit Europas längstem
       Flying Fox 200 Meter gen Allianz-Arena. Ein gelber Umhang flattert hinter
       ihr her.
       
       Das war’s dann aber schon mit dem Spektakel. Nach ihr gießen zehn Leute mit
       grünen Plastikkannen das Gras neben der Sprintbahn, die wie Touristen
       gekleidet sind – oder wie japanische Rasenpfleger, denn das vielstimmig
       beschworene „globale Event“, auf dessen Eröffnung sie das Grün halbherzig
       vorbereiten, ist natürlich nicht der Lilienthal-Abschied, sondern die
       Sommer-Olympiade in Tokio, die am 23. Juli begonnen hätte.
       
       Während die zehn nun ihre Kannen schwenken, fliegen ihre Fragen durch die
       Luft, in die sie versonnen Löcher schauen: Werden sie’s später machen oder
       nicht? Und wenn, dann wann – und wie?
       
       Fragen, die auch die absagen- und verschiebungsgeplagte Kulturwelt in den
       vergangenen Monaten beschäftigt hielten, hier aber nicht von der nächsten
       Corona-PK der Regierung, sondern von (Super-)„Mario“ beantwortet werden,
       jenem allzeit bereiten Klempner aus dem Videospiel, von dem es auch eine
       Olympiaausgabe gibt und der, wie es heißt, „alle Pannen dieser Welt
       reparieren kann“.
       
       ## Verträumte Gießkannenschwenker
       
       Dieser seltsame Messias ploppt in den Weiten des Stadions in verschiedenen
       Versionen auf. Die schönste ist Samouil Stoyanov, der sich im voluminösen
       Blaumann auf einem Mini-Gokart abstrampelt (und immer wieder
       hintüberkippt), dem Publikum ein Warm-up aufdrängt (inklusive
       „Mario-Juchzer“) und den verträumten Gießkannenschwenkern die Botschaft
       überbringt, „dass das globale Event unverändert unter dem Namen „das
       globale Event“ stattfinden kann“.
       
       Okadas Text ist verspielt, manchmal poetisch, teils banal und immer
       redundant. Doch egal, was die Schauspieler sagen, diese letzte Begegnung
       mit ihnen geht ans Herz. Neben Deutsch wird Japanisch und Arabisch
       gesprochen und allmählich diffundiert etwas gemäßigt Wildes in die Dialoge
       hinein.
       
       Es ist die Rede vom Klee, und ein Gärtner, gespielt von Annette Paulmann,
       hat die subversive Idee, täglich „eine Prise Gräser“ auszusäen und damit
       die Rasen-Ordnung sanft zu unterwandern. Am Ende sind die Gärtner
       abgetreten und das Gras spricht von Vögeln, Insekten, „Unkräutern“ und
       anderen „Fremdkörpern“. Die Herkunft dieser melancholischen Stimmen macht
       man schließlich auf den der Ehrenloge gegenüberliegenden Tribünen aus.
       
       Es sind fünf grüne Gestalten, die von Bienen schwärmen und von der Höhe,
       die sie – die Gräser – ungestutzt erreichen könnten. Man kann viel
       hineinlesen in diese putzige, vage an Philippe Quesnes „Farm Fatale“
       erinnernde Schlusspassage, worin Vogelscheuchen die Welt retten. Fast die
       ganze Philosophie einer Ära, in der es immer um Diversität und Öffnung
       ging.
       
       Doch im Kern ist die „Opening Ceremony“ keine sich selbst feiernde
       Rückschau, sondern eher ein kleiner, hingefrickelter Gruß an eine
       vielleicht bessere Zukunft, der dem Spektakel, das es nicht geben durfte,
       keine Träne hinterherweint. Und der Münchner Himmel macht mit und gibt
       sogar die Sonne frei.
       
       13 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Matthias-Lilienthal-uebers-Theatermachen/!5042618
   DIR [2] /Matthias-Lilienthal-zieht-Muenchen-Bilanz/!5696664
   DIR [3] /Der-Theaterregisseur-Toskiki-Okada/!5307330
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Leucht
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Münchner Kammerspiele
   DIR Matthias Lilienthal
   DIR Olympiastadion
   DIR Theater
   DIR Zeitgenössischer Tanz
   DIR Matthias Lilienthal
   DIR Kammerspiele München
   DIR Theater der Welt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Theater trotz Corona: Eine Lanze für die Spiellust
       
       Während andere Theater die Saison beenden, fängt am Münchner Volkstheater
       die neue an: mit einer Garten-Kreuzigung, den „Goldberg-Variationen“.
       
   DIR Tanzwerkstatt Europa in München: Licht am Ende des Tunnels
       
       Die Tanzwerkstatt Europa ist eine der größeren Kulturveranstaltungen, die
       wieder analog auf die Bühne gehen – mit einem breiten Hygienekonzept.
       
   DIR Matthias Lilienthal zieht München-Bilanz: Im Moment der größten Liebe
       
       Leicht hatten es Matthias Lilienthal und die Münchner nicht miteinander.
       Ein Rückblick auf fünf Jahre Intendanz an den Münchner Kammerspielen.
       
   DIR Der Theaterregisseur Toskiki Okada: Raum für das Unbehagen
       
       Das Banale wird bei ihm beinahe tragisch. Die Werke des Theaterregisseurs
       Toshiki Okada sind derzeit in München und Braunschweig zu sehen.
       
   DIR Matthias Lilienthal übers Theatermachen: „Das ist echter Eighties-Titel“
       
       Der Leiter von „Theater der Welt 2014“ über sein Festival, die Einbindung
       des Veranstaltungorts Mannheim und das Leben und Arbeiten in Beirut.