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       # taz.de -- Interview mit Flüchtlingsberater: „80 bis 85 Prozent werden abgelehnt“
       
       > Nicolas Chevreux berät Geflüchtete mit Angehörigen in griechischen
       > Lagern. Vorschriften machten Familienzusammenführungen fast unmöglich,
       > sagt er.
       
   IMG Bild: Das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, Juni 2020
       
       taz: Herr Chevreux, Sie sind Asylverfahrensberater bei der Awo Berlin-Mitte
       und beraten unter anderem Geflüchtete, die von Angehörigen getrennt sind.
       Kommt das oft vor? 
       
       Nicolas Chevreux: Ich habe quasi täglich mit solchen Fällen zu tun. Viele
       Menschen werden im Zuge ihrer Flucht getrennt.
       
       Was können Sie tun? 
       
       Zunächst muss man wissen: Es gibt rechtlich zwei Möglichkeiten,
       Familienangehörige nach Deutschland zu holen. Beim „Familiennachzug“ geht
       die Person, die herkommen möchte, zur deutschen Botschaft in ihrem Land.
       Sie sagt: Mein Kind, mein Ehemann, meine Mutter hat einen Schutzstatus in
       Deutschland. Aufgrund des Aufenthaltsgesetzes kann die Person dann ein
       Visum beantragen. Der zweite Weg ist die „Familienzusammenführung“ nach der
       EU-Dublin-III-Verordnung. Die gilt aber nur für Familienangehörige, die
       schon in einem EU-Land sind. Dann muss zum Beispiel Griechenland einen
       Aufnahmeantrag an Deutschland stellen, damit die Flüchtlinge zu ihren
       Verwandten hierherkommen können. Hintergrund ist, dass die Asylverfahren
       einer Familie in einem Land durchgeführt werden sollten.
       
       Das macht Sinn! 
       
       Ja, durchaus.
       
       Wie gut klappt das, Angehörige aus Griechenland hierherzuholen? 
       
       Es ist selten, dass ich Erfolg habe. Früher wurde etwa die Hälfte der
       Übernahmeanträge aus Griechenland vom Bundesamt für Migration und
       Flüchtlinge, Bamf, abgelehnt, inzwischen 80 bis 85 Prozent (siehe Text
       rechts, Anm. d. Red.). Und die angenommen werden, hatten fast alle erst
       nach einer Remonstration, also einer Beschwerde, Erfolg. Interessant ist
       auch, dass Anträge aus anderen EU-Staaten, etwa Schweden oder Niederlande,
       viel öfter angenommen werden als aus Griechenland.
       
       Wie werden die Ablehnungen begründet? 
       
       Oft wird gesagt, dass die Verwandtschaft zwischen den Personen nicht belegt
       ist. Weil es zum Beispiel keine Geburtsurkunde gibt oder die Menschen aus
       Ländern kommen, wo die Dokumente sehr leicht zu fälschen sind. Das
       Bundesamt hat oft Zweifel an der Echtheit von Dokumenten, etwa aus
       Afghanistan.
       
       Was gibt es noch? 
       
       Viele Geflüchtete haben ihre Dokumente nicht übersetzt. Auf Lesbos ist es
       aber schwierig, eine Übersetzung, sagen wir von Farsi ins Deutsche, zu
       bekommen. Das Bamf lehnt auch solche Anfragen ohne beglaubigt übersetzte
       Dokumente ab. Ob das rechtlich geht, ist meines Wissens strittig. Aber so
       passiert es. Strittig sind auch Fälle, wo es nicht um direkte Familie geht,
       wie Eltern und Kinder, sondern um abhängige Personen, auf die ein
       Verwandter in Berlin aufpassen kann und möchte: etwa den behinderten Cousin
       oder die schwer traumatisierte Tante. Da muss man die Verwandtschaft nicht
       unbedingt beweisen, das geht ja auch gar nicht. Aber dann muss man zeigen,
       dass der Fall besonders schwer ist. Solche Anträge werden vom Bamf aber
       fast immer abgelehnt, die besondere Schwere des Falls wird nicht gesehen.
       
       Was wäre denn aus Ihrer Sicht ein schwerer Fall? 
       
       Nehmen wir Frau A., eine Klientin aus Afghanistan, die ich betreue. Sie ist
       29 Jahre alt, lebt seit einiger Zeit in Berlin, ist als Flüchtling
       anerkannt, hat Arbeit und Wohnung. Ihr Vater, Herr B., hat nur ein Bein und
       lebt alleine im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Es ist ja bekannt, dass
       die Umstände dort schon für Gesunde sehr schwierig sind. Aber wenn man
       behindert ist, ist das Leben dort noch viel schwieriger. Das haben wir dem
       Bamf so geschrieben, aber der Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung,
       dass Herr B. „keine besondere Härte“ sei.
       
       Was können Sie machen? 
       
       Man kann klagen gegen das Bamf. Es gibt aber nur wenige Anwälte in
       Deutschland, die solche Fälle übernehmen, und nur wenige Klagen haben
       Erfolg. Das Problem ist natürlich, dass der Kläger in Griechenland sitzt,
       auf Lesbos aber nur schwer Zugang zu Rechtsberatungen und -beistand hat.
       
       Sie haben selbst zweimal ehrenamtlich in Moria gearbeitet. Wie funktioniert
       das dort? 
       
       Es gibt mehrere NGOs, die dort Rechtsberatung anbieten. Ich selbst habe für
       eine deutsch-griechische Organisation namens European Lawyers in Lesvos
       gearbeitet. Vormittags haben wir im Lager beraten, nachmittags in einem
       Büro in der Stadt Moria. Aber das alles war vor Corona. Jetzt ist es noch
       viel schwieriger: Die Beratungen finden nach meiner Kenntnis nicht mehr in
       Moria, sondern nur noch in der Inselhauptstadt Mytilini statt. Das
       erschwert den Zugang zu Beratungen erheblich.
       
       Wie kommen die Leute denn zu Ihnen? 
       
       Grundsätzlich müssen die Leute im Chaos des überfüllten Lagers von sich aus
       den Weg zu uns finden. Die griechischen Behörden, die die Asylanträge
       bearbeiten, haben keine Zeit für Beratung, etwa welche Papiere die Leute
       für eine Familienzusammenführung brauchen. So habe ich den Vater von Frau
       A. kennengelernt. Er kam in Moria in unsere Beratung und fragte, wie er zu
       seiner Tochter nach Berlin kommen könnte. Der Kontakt war einfach, weil
       Frau A. Deutsch spricht. Ich konnte sie anrufen und später, als ich zurück
       war, in Berlin treffen. Wir haben die Dokumente zusammengesammelt, dann hat
       der Vater sie in Moria abgegeben, und die griechischen Behörden haben die
       Übernahmeanfrage an Deutschland gestellt. Da fällt mir ein: Grundsätzlich
       gibt es bei diesem Prozedere übrigens noch ein schwerwiegendes Problem.
       
       Welches? 
       
       Bei einer Familienzusammenführung dürfen zwischen Einreise in die EU und
       Aufnahmegesuch nur drei Monate liegen. Das ist schwierig bei den Umständen
       in Moria, wenn man die Unterlagen nicht hat, die Informationen, wo man
       hingehen muss, die Übersetzungen von Dokumenten. Wir hatten schon oft
       Fälle, wo die Frist versäumt wurde. Im Ausnahmefall bei besonderen Härten
       kann die Anfrage zwar auch verspätet kommen – aber solche Anträge werden
       eigentlich fast immer abgelehnt.
       
       Herr A. war aber nicht zu spät? 
       
       Nein. Er kam im Dezember 2019 auf Lesbos an, Anfang Februar haben wir den
       Antrag gestellt.
       
       Was macht das mit den Menschen? Wenn Sie ihnen sagen müssen, das wird
       nichts mit der Familienzusammenführung? 
       
       Ach! Es ist schon schrecklich, wenn ich jemandem erklären muss, dass sein
       oder ihr Asylantrag abgelehnt wurde – die Leute weinen und jammern. Aber
       wenn ich sagen muss, dass der Ehepartner, die Kinder nicht nachkommen kann
       – das zerstört die Menschen. Das ist die schlimmste Situation, die ich in
       meiner Beratungsarbeit habe. Aber die Leute geben nicht auf: Ich haben den
       Eindruck, dass viele sich illegal auf den Weg aufmachen.
       
       Und dann? 
       
       Sie können hier einen Asylantrag stellen. Das triggert dann die
       Dublin-Verordnung, sie haben ja schon einen Antrag in Griechenland laufen.
       Sie können auch abgeschoben werden, aber das passiert nicht so oft. Im
       vorigen Jahr sind um die 150 Menschen aus Deutschland zurück nach
       Griechenland abgeschoben worden. Also, das Risiko gibt es, aber die
       Menschen versuchen es. Und immerhin: Deutschland trennt selbst keine
       Familien. Wenn also der Teil, der schon länger in Deutschland ist, hier
       bereits einen Aufenthaltstitel bekommen hat, kann auch der andere
       Familienteil unter manchen Voraussetzungen hierbleiben, selbst wenn er
       illegal aus Griechenland hergekommen ist.
       
       Kennen Sie Fälle, wo das geklappt hat? 
       
       Ja. Das bedeutet also, die Situation ist am Ende dieselbe, egal ob die
       Leute legal oder illegal hierherkommen. Aber für die Familien ist das ganze
       Prozedere reine Zeitverschwendung, teuer und gefährlich. Dazu kommen die
       Schmerzen der oft jahrelangen Trennung. Die gleichen Tragödien sehen wir
       übrigens beim Familiennachzug. Wir versuchen ja auch Menschen aus Nigeria,
       Eritrea oder anderen Staaten nachzuholen. Wenn das nicht klappt, machen sie
       sich auch allein auf den Weg. So haben wir schon Menschen in unserer
       Beratung gehabt, die erzählten, ihr Ehepartner oder Kind sei im Mittelmeer
       ertrunken.
       
       14 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Memarnia
       
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