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       # taz.de -- BBC-Fernsehserie „Normal People“: Ganz nah dran
       
       > In der BBC-Serie „Normal People“ nimmt die Intimität der beiden
       > Hauptrollen viel Platz ein. Das funktioniert erstaunlich gut.
       
   IMG Bild: Marianne (Daisy Edgar-Jones) und Connell (Paul Mescal), mal mit etwas mehr Abstand
       
       Höchstens 90 Zentimeter ist das Bett breit, auf dem die beiden das erste
       Mal Sex haben. Das Setting im charakterlosen Kinderzimmer könnte nicht
       weniger erotisch sein, doch der Sex der beiden ist es allemal. Vorsichtig
       beginnen sie sich zu küssen, ziehen sich langsam aus, vergewissern sich
       beim jeweils anderen, ob ihre Handlungen in Ordnung sind. Wenige Minuten
       später atmen und stöhnen sie fast synchron. Sechs Minuten dauert die erste
       Sexszene in „Normal People“ und sie ist der erste Beweis dafür, wie
       großartig diese Serie ist.
       
       Marianne (Daisy Edgar-Jones) und Connell (Paul Mescal) beginnen in ihrem
       letzten Schuljahr eine heimliche Beziehung. Niemand soll davon wissen.
       Wieso? Die beiden leben an unterschiedlichen Enden: der irischen
       Kleinstadt, der Beliebtheitsskala und der Einkommensschichten. Marianne
       kommt aus einer wohlhabenden Familie, verbringt ihr Leben mit Lesen und
       Lernen, weil da auch niemand wäre, mit dem sie Zeit verbringen könnte. Bis
       Connell kommt, der beliebte Rugby-Spieler. Die beiden sehen sich nach der
       Schule, wenn Connell seine Mutter von der Arbeit abholt: Sie putzt für
       Mariannes Familie.
       
       Die 12-teilige Hulu- und BBC-Produktion basiert auf dem zweiten Roman der
       irischen Schriftstellerin Sally Rooney. Ähnlich erfolgreich wie ihre Bücher
       ist nun auch diese Serie: Die US-amerikanische und britische Medienwelt ist
       begeistert. Keine Geschichte wurde so häufig erzählt wie die
       heterosexueller Liebe voller verpasster Chancen. Doch die Regisseur:innen
       Lenny Abrahamson und Hetti Macdonald zeigen, dass sich jede Geschichte
       lohnt zu erzählen, wenn man sie nur besonders gut erzählt.
       
       Vier Jahre lang begleiten die Zuschauer:innen Marianne und Connell. Durch
       die letzten Monate der Schule, ans Dubliner Trinity College, in den Urlaub
       in Italien und auf klischeehafte Uni-WG-Partys. Mal sind die beiden
       Freund:innen, mal Partner:innen, mal Friends with Benefits. Die
       Herausforderungen ihrer klassenübergreifenden Beziehung stehen zwar nicht
       im Vordergrund, aber werden in vielen Szenen mitverhandelt: beispielsweise
       wenn Connell sich nicht traut, Marianne um Hilfe zu bitten, als ihm im
       Studium das Geld fehlt. Und Marianne seinen Weggang aus Dublin als
       Zurückweisung auffasst, da ihr so etwas wie Geldnot als Grund überhaupt
       nicht in den Sinn kommt.
       
       Die Serie arbeitet mit wenigen Dialogen, dafür mit atmosphärischen
       Ausschnitten und mit der Handkamera aufgenommenen Porträtaufnahmen. Die
       Gedankenwelt der beiden Heranwachsenden wird behutsam und detailreich
       gezeigt, Familie und Freund:innen bleiben (fast) charakterlos in ihren
       Nebenrollen.
       
       Und dann ist da eben noch der Sex, der sicherlich ein Viertel der Spielzeit
       einnimmt. Er wird als Werkzeug zum Ermitteln der eigenen Macht und
       Identität genutzt. Doch diese kalte Beschreibung wird den Szenen der Serie
       nicht gerecht. Sie sind intim, heiß, meistens ziemlich ernst, mal liebe-
       und mal gewaltvoll und vor allem immer leidenschaftlich. „Mit dir ist es
       anders als mit den anderen“, sagt Marianne, nachdem sie nach langer Zeit
       und anderen Partnern mal wieder mit Connell zärtlich wird. Diesen Satz
       bräuchte es für die Zuschauer:innen gar nicht, sie sehen es.
       
       Entstanden sind die Szenen im Zusammenarbeit mit Intimacy Coach Ita
       O’Brien, die auch schon bei „Sex Education“ mitgearbeitet hat. Sie
       choreografiert die Küsse, die Berührungen und Sexszenen am Set, achtet auf
       Konsens und dass sich alle Beteiligten wohl fühlen. Ein Konzept, das nicht
       nur für die Schauspieler:innen aufgeht. Denn was „Normal People“ hier
       zeigt, hebt sich deutlich ab vom üblichen filmischen Geschlechtsverkehr.
       
       Eine zweite Staffel wird es von „Normal People“ wohl nicht geben, doch
       Rooneys Debütroman „Conversation with Friends“ wird bald auch als Serie
       erscheinen. Wieder eine Hulu- und BBC- Produktion, wieder vom irischen
       Regisseur Lenny Abrahamson. Und Rooney selbst ist natürlich auch wieder mit
       an Bord. Nur ob Connell und Marianne ihre Beziehung ins Erwachsenenleben
       retten können, werden wir wohl nicht mehr erfahren.
       
       15 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
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