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       # taz.de -- Lokale Corona-Shutdowns: Klein denken, groß siegen
       
       > Eine seit Jahrhunderten nicht gesehene Kleinstaaterei: Die
       > Bundesregierung will Corona mit stark regionalisierten Einschränkungen
       > bekämpfen.
       
   IMG Bild: Ein Dorf im Nordosten Brandenburgs: Mit dem Virus ist nicht zu spaßen
       
       Es ist eine späte Genugtuung für die wackeren Märker: Der brandenburgische
       Landkreis Ostprignitz-Ruppin (OPR) sieht sich in seiner getadelten
       Vorreiterrolle nun im Nachhinein bestätigt. Ende März, auf dem Gipfel der
       Coronakrise, war man noch mit dem Alleingang gescheitert, im Gegensatz zur
       offiziellen Landeslinie ein Einreiseverbot für Nichtbewohner zu verfügen.
       
       OPR bleibt deutsch, OPR bleibt gesund ohne Berliner, OPR bleibt zeckenfrei
       – so hatte man sich das vorgestellt. Für die Ruppiner wäre es die einmalige
       Gelegenheit gewesen, das Angenehme mit dem Nützlichen und die Ruhe vor den
       ungeliebten Städtern mit dem Erhalt der Volksgesundheit zu verbinden. Denn
       man lebt dort zwar auch vom Tourismus, doch die damit einhergehende
       Zumutung in Gestalt lästiger Fremder nimmt man eher zähneknirschend hin,
       ähnlich wie die Anwesenheit einer feindlichen Besatzungsmacht.
       
       Doch erst zeigte die Landespolizei dem zuständigen Landrat Ralf Reinhardt
       (SPD) auf dessen Ersuchen um die Bewachung der „Kreisgrenzen“ hin nur
       lässig den Vogel, und anschließend wurde die Verordnung vom
       Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg kassiert.
       
       Auf einmal aber wirkt der fast schon vergessene Vorstoß der Brandenburger
       wie eine hypermoderne Vision und Reinhardt wie Galileo Galilei. Er hat es
       schon immer gewusst. Die Öffentlichkeit hat ihn verspottet, verhöhnt und
       harsch kritisiert – nun kriechen die Dilettanten wimmernden Würmern gleich
       zu Kreuze. Denn die Bundesregierung denkt jetzt ebenfalls über stark
       regionalisierte Einschränkungen nach.
       
       Flickenteppich Deutschlandkarte 
       
       Wo Landkreise verstärkt von Corona betroffen sind, soll noch restriktiver
       vorgegangen werden als bisher. Zwar sind es in diesem Fall keine Einreise-,
       sondern Ausreisebeschränkungen auf Kreisebene, die Kanzleramtschef Helge
       Braun (CDU) ins Gespräch bringt, doch das Ziel ist das gleiche: Eine seit
       Jahrhunderten hierzulande nicht mehr gesehene Kleinstaaterei schützt mit
       ihren unzähligen Schlagbäumen Mensch vor Mensch, Wolf vor Wolf und Kranken
       vor Gesundem.
       
       Über dreihundert eigenständige Staaten hatte das Heilige Römische Reich
       Deutscher Nation im siebzehnten Jahrhundert, das waren kaum weniger als die
       401 Landkreise der Gegenwart. Der bunte Flickenteppich, der die
       Deutschlandkarte war, gestaltete sich als irres Sammelsurium winziger
       Bistümer, Grafschaften, Abteien, Reichsstifte, Hochstifte, Buntstifte …
       Alle paar Kilometer gab es eine Zollschranke, anderes Geld, andere Gesetze
       und gern auch mal direkt aufs Maul. Botschafter dürfte damals ein etwa so
       häufiger Beruf gewesen sein wie heute Influencer.
       
       Der Städte- und Gemeindebund reagiert auf die Pläne der Regierung eher
       zurückhaltend. Hier argumentiert man, die Maßnahmen seien mangels
       geeigneter Kontrollmöglichkeiten schwer durchzusetzen. Auch seien die
       Kreise dafür viel zu groß.
       
       ## Lernen von der DDR
       
       Das ist allerdings Quatsch. Wir haben uns nicht mühsam bis ins
       einundzwanzigste Jahrhundert geschleppt, um nun all den technischen
       Fortschritt zu verleugnen. Was nach dem Dreißigjährigen Krieg möglich war,
       müsste dieser Tage doch vergleichsweise ein Klacks sein. Denn wo damals die
       Häscher des Herzogs, Landvogts, Sheriffs oder wie der Fantasietitel des
       Zwergstaatsvorstehers gerade lautete, den dunklen Wald nach entlaufenen
       Pestkranken durchkämmten, können heute Drohne, Infrarotkamera und
       elektronische Fußfessel die Insassen besonders Covid-19-belasteter Regionen
       weitaus besser im Zaum halten.
       
       Auch von der Deutschen Demokratischen Republik ließe sich lernen, die ja
       ein erstaunliches Know-how entwickelt hatte, um Patienten an Bett und Staat
       zu fesseln, damit sich keiner mit Kapitalismus ansteckte. Vielleicht sollte
       an Kreisgrenzen auch geschossen werden – mit dem Virus ist schließlich
       nicht zu spaßen.
       
       Und die Kreise sind zu groß? Dann macht man sie eben kleiner, Gottchen, ist
       das denn alles so schwierig, muss ich euch als Nächstes vielleicht auch
       noch mit Vorverdautem füttern, oder was? Auch bei dieser Gebietsreform
       können die kleinsten Schnipsel des alten Flickenteppichs Vorbild sein, denn
       aus einem Kleinstaat wie der im Nordelsass gelegenen Herrschaft
       Fleckenstein wäre garantiert kein Infizierter ausgebüxt. Das hätten die
       sieben anderen Bewohner hundert pro bemerkt.
       
       ## Gleich hinter der Hauptstraße der nächste Kleinstaat
       
       Alles ist so viel leichter zu überwachen. Dann braucht die Polizei der
       Politik auch gar nicht mehr mit geflunkerten Ausreden zu kommen wie die
       faulen Büttel aus Brandenburg (sage ich jetzt mal betont augenzwinkernd –
       so eine kleine Neckerei ist also kein Grund, jetzt in der Amtsstube den PC
       anzuwerfen, um meine Daten an die Faschokameraden zu versenden, danke).
       Fortan genügt genau ein Cop an jedem Ende der einzigen Hauptstraße.
       
       Dort beginnt nämlich schon der neue Landkreis respektive Kleinstaat oder
       Coronaüberwachungsbereich. Besagter Cop ist zugleich Grenzbeamter und
       Hilfsvirologe. Er stellt Passierscheine aus, misst Fieber, wischt Popos
       sauber und verweigert Aus- beziehungsweise Einreise. Natürlich müssen die
       Landkreise autonomer sein, als sie zurzeit sind. Daher wären eine eigene
       Währung und Wirtschaft hilfreich – man ja weiß ja nie, wie lange der lokale
       Lockdown anhält und wann die Hilfslieferungen aus der Westostprignitz die
       Ostwestprignitz erreichen.
       
       Eine unabhängige Gesetzgebung vor Ort vermag wiederum die Einmischung
       zänkischer Verwaltungsgerichte aus der Hauptstadt abzuwehren. Es sind die
       Landratsfürsten, die auf kurzem Dienstweg über Wohl und Wehe, Ein- und
       Ausreise, Lockup und Lockdown entscheiden sollten, nicht ortsfremde
       Regierungssprecher.
       
       Und eines Tages steht die Clusterkreisbewohnerin endlich mit der begehrten
       Ausreiseerlaubnis in der Schlange am Checkpoint zum Nachbarkreis Filzstift
       Schaumstadt/Golz. Tränen des Glücks, aber auch des Stolzes füllen die
       Augen, netzen die Wangen und durchfeuchten den Mundschutz. Nur durch ihre
       Opferbereitschaft und das entschlossene Eingreifen ihres Kreisherrn wird
       die Pandemie besiegt. Nun schmeckt die wiedergewonnene Freiheit doppelt
       süß.
       
       22 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Uli Hannemann
       
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