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       # taz.de -- Tod von US-Bürgerrechtler John Lewis: „Die Zeit für Geduld ist vorbei“
       
       > Für die Rechte von Schwarzen riskierte John Lewis in den sechziger Jahren
       > sein Leben. Nun ist er gestorben. Für Black Lives Matter bleibt er
       > Vorbild.
       
   IMG Bild: Posthum ist Lewis für viele zu einem Vorbild und einer Inspiration geworden
       
       New York taz | John Lewis hat geweint, als er das Video von den letzten
       acht Minuten und 46 Sekunden von George Floyd unter einem Polizeiknie in
       Minnesota sah. In einem seiner letzten Interviews sprach der schwarze
       Bürgerrechtler, Demokrat und Kongressabgeordnete von dem „sehr, sehr langen
       Weg zu Freiheit und Gerechtigkeit“. Den Hunderttausenden von jungen
       schwarzen und weißen AktivistInnen, die unter dem Logo von [1][Black Lives
       Matter auf den Straßen waren] und wenn nicht die Abschaffung der Polizei,
       dann zumindest die radikale Kürzung ihrer Mittel verlangten, versicherte
       er: „Ich bin stolz auf diese neue Generation.“
       
       Das war im Juni. Der 80-Jährige war bereits schwer von seinem
       Bauchspeicheldrüsenkrebs gezeichnet. Am Freitag ist er [2][in Atlanta
       verstorben].
       
       Seither reißt die Welle von Huldigungen nicht ab. Lewis, der vom Anfang
       seines politischen Aktivismus in den späten 50er Jahren im tiefen Süden der
       USA bis zu seinen letzten Tagen eine kontroverse Figur für Konservative in
       den USA war, ist posthum schlagartig zu einem Vorbild und einer Inspiration
       für alle geworden. Die Eile, sich hinter den Toten zu stellen, war derart
       groß, dass zwei republikanische Senatoren (Marco Rubio und Dan Sullivan)
       Fotos von einem anderen schwarzen Demokraten – dem im vergangenen Jahr
       verstorbenen Elijah Cummings – neben ihre Huldigung an Lewis stellten.
       
       Senatschef Mitch McConnell, der in den letzten Jahren das Wahlrecht für
       AfroamerikanerInnen, das Lewis in der Bürgerrechtsbewegung erkämpft hat,
       ausgehöhlt hat, erinnert sich jetzt daran, dass er seine Hand gehalten und
       mit ihm „We shall overcome“ gesungen hat. Und selbst Donald Trump, der in
       Tweets scharf gegen Lewis geschossen hat (Motto: „nur Gerede – keine
       Taten“), schaffte es 24 Stunden nach dessen Tod, zu erklären, er sei
       „traurig“ und bete für Lewis und seine Familie.
       
       Lewis, der als eines von zehn Kindern einer Landarbeiterbeiterfamilie in
       Troy, Alabama, zur Welt kam, war seit seinen Teenagerjahren ein
       „Troublemaker“ – ein Unruhestifter. In der Hütte seiner Eltern gab es weder
       Strom noch eine Innentoilette. Aber die Eltern hielten ihre Kinder an,
       keinen Ärger zu machen. Als Lewis im Februar 1960 zum ersten Mal bei einem
       gewaltfreien Protest gegen die Rassentrennung festgenommen wurde, schämten
       sich die Eltern. Der Sohn machte den „Good Trouble“ zu seinem Lebensmotto.
       
       In den Jahren danach sollten dutzende Festnahmen und dutzende Tage in
       Gefängniszellen folgen. Dazu kam brutale Gewalt, mit der weiße RassistInnen
       – sowohl Zivilisten als auch Polizisten – auf Lewis losgingen. Sie
       benutzten Knüppel, Tränengas, glühende Zigaretten und Peitschen.
       
       1961 entging Lewis zum ersten Mal nur knapp dem Tod, als er vor der
       Busstation in Montgomery, Alabama, von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern
       zusammengeschlagen wurde. Lewis war als einer der dreizehn ersten „Freedom
       Riders“ nach Montgomery gekommen. Es waren junge weiße und schwarze Männer
       und Frauen, die gemeinsam in einem Bus reisten. In den Südstaaten war das
       verboten. Im Laufe des Sommers 1961 nahm Lewis an dutzenden Freedom Rides
       teil.
       
       ## Schädelbruch für ein Gesetz
       
       Mit dem Aktivismus seiner frühen Jahre richtete sich Lewis gegen die
       Rassentrennung in den Südstaaten. Er – und seine MitstreiterInnen – hatten
       sich für zivilen Ungehorsam entschieden. Bei Schulungen übten sie strikte
       Gewaltfreiheit. Aber die Gewalt der anderen Seite war so blutig, dass die
       Freedom Rides in Bussen schon nach einem Sommer eingestellt wurden. Die
       friedlichen Proteste gegen segregierte Parks, segregierte Theater und
       segregierte Restaurants gingen mit Sit-ins und Demonstrationen weiter.
       
       Der junge Lewis wurde ein Vertrauter von Martin Luther King und einer der
       führenden Köpfe der Bürgerrechtsbewegung. Im März 1963 sprach er vor
       200.000 Menschen in der Mall in Washington. „Die Zeit für Geduld ist
       vorbei“, sagte der junge Mann. Zwei Jahre später erlitt Lewis die schwerste
       körperliche Verletzung seines Lebens. Am 7. März 1965 stand er an der
       Spitze einer Demonstration auf der Brücke nach Selma. Die Menge verlangte
       Wahlrecht für alle. Schwer bewaffnete Polizisten versperrten den
       DemonstrantInnen den Weg. Lewis ging weiter.
       
       Die Bilder von einem Polizisten, der mit einem Knüppel auf den bereits am
       Boden liegenden Lewis schlug und ihm den Schädel brach, rüttelten die
       US-Öffentlichkeit auf. Und sie veränderten das nächste halbe Jahrhundert
       Politik in den USA. Wenige Tage später, als Lewis noch um sein Leben
       kämpfte, lag dem US-Kongress das Wahlrechtsgesetz vor, das die
       Bürgerrechtsbewegung verlangt hatte. Noch im selben Monat unterschrieb
       Lyndon B. Johnson das Gesetz.
       
       Mit eindringlichen Worten langsam zu reden und das moralische Auftreten
       hatte Lewis schon im Hühnerstall seiner Eltern geprobt. Im
       fortgeschrittenen Alter sagte er einmal, dass die Hühner ihm besser
       zuhörten als seine Kollegen im US-Kongress. Er studierte Philosophie und
       Religion. Und er blieb seinen gewaltfreien Prinzipien treu. Als die
       schwarze Bürgerrechtsbewegung sich radikalisierte, als der Ruf nach „Black
       Power“ lauter wurde, und als die Black Panther mit Waffen auf die Straße
       gingen, um AfroamerikanerInnen vor Polizeigewalt zu schützen, trat Lewis in
       den Hintergrund.
       
       ## Bis ins hohe Alter an allen Fronten
       
       1986 begann er seine zweite Karriere im Repräsentantenhaus. Seither ist er
       ununterbrochen in Atlanta gewählt worden. Und hat einen unaufhaltsamen
       Aufstieg zu einem moralischen Gewissen der Demokratischen Partei gemacht.
       Er trat im Kongress nicht nur für schwarze Bürgerrechte ein, sondern auch
       für die Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen und gegen die
       Kriminalisierung von EinwandererInnen.
       
       Nach dem Massaker im Pulse-Club in Florida organisierte Lewis einen
       mehrtägigen Sitzstreik im US-Kongress, um gegen den freien Verkauf von
       Schusswaffen zu protestieren. Gegen die republikanische Mehrheit im
       Kongress konnten die sitzstreikenden Demokraten sich nicht durchsetzen. In
       den Monaten bevor Lewis seine Krebsdiagnose bekam, war er einer der
       lautstärksten KritikerInnen der Inhaftierung von Kindern von Immigranten im
       US-Kongress.
       
       Donald Trump war nicht der erste Präsident, mit dem Lewis im Zwist lag. Er
       blieb schon dem Amtsantritt von George W. Bush wegen des Zustandekommens
       seiner Wahl fern. Doch im Januar 2017 machte er [3][aus einem Protest einen
       Boykott]. Vor Trumps Amtsantritt sagte Lewis, dass er glaube, dass Trump
       nur dank der Hilfe aus Russland zum Präsidenten wurde und Hillary Clinton
       „zerstört“ habe. Zwischen ihm und Trump war es der Beginn einer innigen
       Feindschaft.
       
       ## Hunderttausende für eine John-Lewis-Brücke
       
       Im Innern der Demokratischen Partei war Lewis ein Held. Obama zeichnete ihn
       mit dem höchsten Orden des Landes aus. Und ging Hand in Hand mit dem alten
       Bürgerrechtler über die Brücke nach Selma. Die trägt immer noch den Namen
       von Edmund Pettus, einem General der Konföderierten und einem
       Führungsmitglied des Ku-Klux-Klan.
       
       Seit Jahren verlangen DemokratInnen und BürgerrechtlerInnen, dass sie nach
       Lewis umbenannt wird. In den letzten Wochen seines Lebens kamen mehr als
       100.000 Unterschriften zusammen, um die Namensänderung zu verlangen.
       
       In der neuen Bürgerrechtsbewegung ist Lewis ein leuchtendes Vorbild. Und
       zugleich ein Mann der 60er Jahre. Die Religion, die für ihn und Martin
       Luther King so wichtig war, spielt bei Black Lives Matter nicht mehr die
       vordergründige Rolle, und viele der Slogans, die jetzt in den Straßen der
       USA ertönen, gehen auf jene Frauen und Männer zurück, die schon damals
       radikaler waren als er.
       
       19 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Rassistische-Polizeigewalt-in-den-USA/!5688583
   DIR [2] /US-Buergerrechtler-John-Lewis-gestorben/!5701279
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       ## AUTOREN
       
   DIR Dorothea Hahn
       
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