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       # taz.de -- Punk und Indie in Washington, D. C.: Puritanismus vs. Polemik
       
       > Zwei Alben als Abbild einer musikalisch heterogenen Hauptstadt: „Coriky“
       > von Coriky und die Neuauflage von No Trends „Too Many Humans“
       
   IMG Bild: Straight-Edge-Initiator Ian MacKaye und seine Frau Amy Farina als Duo The Evens, 2018
       
       Der Ian MacKaye des Jahres 2020 hat erstaunlich viel mit dem Ian MacKaye
       der achtziger Jahre gemein. Noch immer trägt er Kapuzenpulli und eine
       Mütze, die nur das Hinterhaupt bedeckt, noch immer sitzt er im alten, mit
       Plattencovern vollgestellten Büro seines Labels Dischord Records in
       Washington, D. C., noch immer redet er über die Kraft von Punk und D.I.Y
       und darüber, dass er sich seit mehr als 30 Jahren vegan ernährt.
       
       Von all dem konnte man sich überzeugen, als er dem kanadischen
       Pop-Journalisten Nardwuar kürzlich ein rares Interview gab. MacKaye,
       inzwischen 58, zählt zu den [1][Schlüsselfiguren des US-Hardcore-Punk]: als
       Sänger und Gitarrist von Minor Threat und Fugazi, als Labelbetreiber und
       als [2][Erfinder der Verzichtsphilosophie Straight Edge].
       
       Zwei aktuelle Veröffentlichungen bilden nun sehr gut die Entwicklung der
       wegweisenden D.C.-Punk- und Indieszene ab. Zum einen ist da MacKayes eigene
       neue Band. Coriky heißt sie. Gemeinsam mit dem ehemaligen Fugazi-Bassisten
       Joe Lally und seiner Frau Amy Farina am Schlagzeug rief er sie bereits 2015
       ins Leben, jetzt erscheint ihr Debütalbum.
       
       Coriky wirkt wie die logische Fortsetzung von MacKayes Duo The Evens –
       unter diesem Alias haben er und Farina zwischen 2001 und 2012 drei Alben
       veröffentlicht. Der Wechselgesang der beiden steht auch jetzt wieder im
       Vordergrund, ergänzt vom Bass-Groove Lallys. Stilistisch bewegen sich die
       elf Songs zwischen Songwriter und Achtziger-Indierock, insgesamt ist das
       Klangbild eher ruhig, mit gelegentlichen Noise-Ausbrüchen.
       
       ## Melancholische Bestandsaufnahme der USA der Gegenwart
       
       Die [3][erste Single, „Clean Kill“], floatet locker und leicht im Midtempo
       vor sich hin, „[4][Have A Cup Of Tea]“ dagegen ist eine leicht
       melancholische Bestandsaufnahme der USA der Gegenwart, und „[5][Woulda
       Coulda]“ als vielleicht überraschendster Track zum Schluss kommt mit
       Gospelgesang und Americana-Anleihen daher.
       
       Ein Grund für das Trio, sich mit einem Album wieder zu Wort zu melden, war
       die politische Entwicklung jüngerer Jahre. Der Song „Inauguration Day“
       spielt auf den 20. und den 21. Januar 2017 an, die Tage der Amtseinführung
       von Donald Trump und der Proteste dagegen.
       
       „There’s some people here to see you / I don’t think they agree with you /
       one hundred thousand strong / standing out on the lawn“, singt MacKaye im
       eingängigen Chorus des Stücks. Für die Bürger:innen von D. C. war Trumps
       Amtsantritt ein besonders bitterer Moment, denn im Wahlkreis stimmten 2016
       lediglich 4,1 Prozent der Wahlberechtigten für den heutigen US-Präsidenten.
       
       Politische Untertöne hat auch der Song „bqm“, in dem MacKaye über eine mehr
       und mehr von Algorithmen geleitete und von Newsfeeds in den Wahn getriebene
       Gesellschaft nachsinnt: „We’re eating something / but it is not food / menu
       operated by algorithm“, heißt es darin. Einige wenige Stücke auf „Coriky“
       fallen textlich wie musikalisch etwas ab. Dennoch dürften nicht nur Fans
       des Dischord-Sounds, sondern auch alle anderen Freund:innen von
       Indie-Gitarren Spaß an dem Album haben.
       
       ## Wiederveröffentlichung einer heute vergessenen Band
       
       Das andere Werk, das mit der Washingtoner Szene in Verbindung steht, ist
       die Wiederveröffentlichung einer heute vergessenen Band. Das Label Drag
       City hat [6][„Too Many Humans“ von No Trend] von 1983 neu aufgelegt,
       ergänzt durch die erste EP, Liveaufnahmen, Demos und Raritäten.
       
       No Trend gründeten sich 1982 in Ashton, Maryland (zwischen Washington, D.
       C., und Baltimore) und existierten bis 1988 – im Vergleich zu den Acts des
       Dischord-Labels ist die Band aber eher ein Randphänomen geblieben. Bei No
       Trend war übrigens Jeff Nelsons Bruder Brian Saxofonist.
       
       Auf „Too Many Humans“ ätzt und polemisiert die Band um Sänger Jeff Mentges
       vom ersten Ton an gegen das menschliche Treiben auf dem Planeten – es ist
       1984, die Zeit der atomaren Aufrüstung, Reagan, Kohl und Thatcher haben in
       den westlichen Industrienationen das Ruder übernommen. Saurer Regen fällt
       vom Himmel („Acid rain is falling“), die Städte sind Giftmüllhalden („Toxic
       waste dump“), die Straßen kohlenmonoxidverpestet („Carbon monoxide“).
       
       ## Angepisste Attitüden gegen puritanische Lehre
       
       Der Mensch treibt den Irrsinn voran und vermehrt sich zu allem Überfluss
       wie die Ratten („Too many fucking humans / You breed like rats / And you’re
       no fucking better“). In vielerlei Hinsicht bildeten No Trend mit ihrer
       angepissten Attitüde somit einen Gegenentwurf zur puritanisch anmutenden
       Lehre Minor Threats und MacKayes.
       
       Wegweisend war neben der Energie von Sänger Mentges auch das Gitarrenspiel
       von Frank Price. Price spielte schräge Soli, arbeitete mit Dissonanzen,
       Funk-Licks sowie Krach- und Noise-Attacken, wie es später bei den Bands des
       Labels SST gang und gäbe werden sollte. Auf späteren Alben experimentierten
       No Trend mit Ska, Funk und Fahrstuhlmusik.
       
       Zudem war die Band fast wie eine Theatertruppe unterwegs, sie verkleideten
       sich oder sie vergrätzten das Publikum mit grellen Blinklichtern. Alles in
       allem: zwei Alben, die die Heterogenität der so vitalen Washingtoner
       Musikszene gut widerspiegeln. Im Gestern wie im Heute.
       
       20 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Dokumentarfilm-ueber-DC-Punk-Szene/!5016645
   DIR [2] /Doku-ueber-Straight-Edge-Bewegung/!5134025
   DIR [3] https://youtu.be/rSQ3b6QnHlk
   DIR [4] https://youtu.be/cLl0rcg-BHM
   DIR [5] https://youtu.be/XkB76H0oY_k
   DIR [6] https://www.dragcity.com/products/too-many-humans-teen-love
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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