URI: 
       # taz.de -- Künstlerin über moderne Bildhauerei: „Keinen eigenen Stil entwickeln“
       
       > Ayşe Erkmen erhält den Ernst-Franz-Vogelmann-Preis für zeitgenössische
       > Skulptur. Ihr Werdegang begann in Istanbul, der Keimzelle türkischer
       > Kunst.
       
   IMG Bild: Karin Sander, 3-D-Bodyscan der Künstlerin Ayşe Erkmen, 2008, Sammlung NMAO, The National Museum of Art, Osaka, VG Bild-Kunst, Bonn
       
       taz: Frau Erkmen, Sie sind 1949 geboren. Europa erholte sich da gerade vom
       Zweiten Weltkrieg. Wie war Ihre Kindheit in Istanbul? 
       
       Ayşe Erkmen: Ich wurde im Zentrum von Istanbul, im Stadtteil Beyoğlu,
       geboren. Mein Vater war Rechtsanwalt. Meine Mutter machte den Haushalt.
       Meine Großmutter war Schneiderin, und ich wurde durch ihre Kreativität sehr
       beeinflusst. Denn bereits im Alter von vier Jahren saß ich auf der Ecke
       ihres großen Nähmaschinentischs und sah ihr zu, bevor sie mich später auch
       nähen und den Zuschnitt machen ließ. Es war die schönste Zeit meines Lebens
       und sie war dabei die größte Inspiration.
       
       Lernten sie dadurch bereits konzeptuell zu denken? 
       
       Vielleicht. Meine Großmutter machte Kleider für Schauspieler und war mit
       ihrem Atelier im Istanbul dieser Zeit sehr bekannt. Jede Woche kam ein
       Zeichner zu ihr, um nach ihren Vorstellungen ihre Designs aufs Papier zu
       bringen. Die zeigte sie dann ihren Kunden und realisierte diese als
       Auftragsarbeit.
       
       Dann gingen Sie zur Schule. Gab es dort bereits eine Verbindung zur Kunst? 
       
       Ja. Dort konnte man bereits aus verschiedenen Angeboten wählen. Kunst
       gehörte dazu, aber auch Bogenschießen. Beides habe ich gemacht. Kunst die
       überwiegende Zeit. Wir hatten dort eine wundervolle Lehrerin, die Zeit
       ihres Lebens alle meine Ausstellungen besucht hat. Sie setzte bereits
       damals alle Arten von Material für die Kunst ein.
       
       Wie war es zu dieser Zeit – in den in der Türkei politisch schon
       schwierigen 1970er Jahren – in Istanbul? 
       
       Es war eine sehr westlich orientierte Gesellschaft. Mein Umfeld war sehr
       liberal und immer offen für neue Einflüsse. So ging bereits meine Mutter
       auf eine französische Schule. Ich besuchte später das amerikanische Robert
       College, zwei Klassen unter mir war Orhan Pamuk, der spätere
       Nobelpreisträger für Literatur.
       
       Wie sah Ihre Kunst anfangs aus? 
       
       Meine zweite Konkrete Skulptur von 1977 war aus Kunststoffröhren und wurde
       im Fındıklı-Park aufgestellt. Diese hatte ich als Abschluss an der Akademie
       gemacht und wurde ausgezeichnet. Meine erste aus dem Jahr 1969 war eine
       Skulptur mit verschiedenen Acrylplatten, gelb und weiß. Fundstücke aus den
       Straßen Istanbuls.
       
       Hat sich ein für Sie erkennbarer Stil daraus entwickelt? 
       
       Ich versuche keinen eigenen Stil zu entwickeln. Es ist vielmehr ein
       konzeptueller Stil, um Dinge und Situationen besser zu verstehen. Dadurch
       habe ich auch die Freiheit, mit allen erdenklichen Materialien meine
       Installationen umzusetzen. An jedem Ort und mit jedem Medium – Film,
       Klanginstallationen, Glasarbeiten, Keramik, Porzellan, Zeichnung. Es ist
       eine Freiheit, die ich mir selbst gegeben habe. Und dabei nehme ich in
       Kauf, keinen visuell wiedererkennbaren Stil zu haben.
       
       Was interessiert Sie am meisten? 
       
       Ein historisch-institutioneller Kontext ebenso wie gesellschafts-kulturelle
       Themen. Etwa so wie in [1][meiner Arbeit „-miş“ (1994)] als die türkische
       Zeitform des Hörensagens, bei der es um die türkische Gesellschaft in
       Berlin geht. Dargestellt habe ich an der Fassade an der Oranienstraße, Ecke
       Heinrichplatz vierzig solcher Endungen ohne vorangestellten Verbstamm, die
       so keinen Sinn ergeben und für Deutsche und Türken gleichermaßen ein Rätsel
       sind.
       
       Bevor Sie aber Berlin für sich entdeckten, gingen Sie zur Kunstakademie in
       Istanbul … 
       
       Damals, gegen Ende der 1960er Jahre, war die Türkei hermetisch abgeriegelt.
       Wir durften nicht ausreisen. Buchläden mit fremdsprachiger Literatur gab es
       nicht. Es gab keinen kulturellen Austausch mit Ländern des Westens. In
       dieser Zeit hatte ich keine Einflüsse von außen und alles ist aus sich
       selbst heraus entstanden. Auch meine Professoren an der Akademie – Altan
       Gürman und Şadi Çalık – waren kaum jemals außerhalb der Türkei. Werke
       geschätzter Künstler wie Richard Serra oder Ulrich Rückriem und auch
       Lawrence Weiner, für seine typografischen Arbeiten, habe ich erst sehr viel
       später kennengelernt.
       
       Das hört sich nach einer sehr traditionellen Gesellschaft an. 
       
       Überhaupt nicht traditionell. Dabei empfehle ich immer, das Buch „Istanbul“
       von Orhan (Pamuk) zu lesen, der ein reales Bild der damaligen Gesellschaft
       zeichnet. Ich wuchs in denselben Kreisen auf wie er, war an der selben
       Schule. Und meine Großmutter lebte damals bei ihm ums Eck. Die damalige
       Gesellschaft war alles andere als konservativ. Ebenso wenig meine Familie.
       Ich verstehe, dass türkische Menschen mit ihrer Kultur nicht so leicht zu
       verstehen sind, aber es sind eben oft auch die Klischees, mit denen man
       sich konfrontiert sieht.
       
       Aber auch wenn Sie bereit waren für etwas Neues in der Kunst – war es der
       Markt auch? 
       
       Meine frühen Arbeiten waren sehr radikal. In einer Gruppe von sieben
       Künstlern hatten wir uns zusammengefunden, um mit unserem eigenen Geld
       regelmäßig Ausstellungen stattfinden zu lassen. Dazu machten wir kleine
       Kataloge und versuchten jedes Jahr eine Ausstellung zu realisieren. Es war
       aber mehr, um Diskussionen anzustoßen und nicht um uns zu vermarkten.
       
       Wie muss ich mir eine Entwicklung ohne den Markt vorstellen? 
       
       Es gab am Anfang nur Galerien für traditionelle Malerei und keine
       Möglichkeit, diese Kunst, die ich machte, zu verkaufen. Aber das hat mir
       Mut gemacht, und gab mir eine unglaubliche Freiheit. Ich beschwerte mich
       nicht darüber, da ich dadurch auch Niemanden etwas erklären musste. Und
       niemand erwartete etwas von mir. Einen Marktdruck gab es nicht.
       
       In den Endachtzigern und Anfang der Neunziger Jahre gab es dann starke
       Veränderungen. 
       
       Wir waren alle altersmäßig in den 30ern. Vorher gab es keine Galerien für
       zeitgenössische Kunst. Keine Kunstkritik in den Zeitungen. Keine Sammler,
       die sich für unsere Kunst interessierten. Keinen Einfluss von außen. 15
       Jahre später bemerkten wir den großen Einfluss, den wir auf einmal mit
       unserer Praxis und den zahlreichen Ausstellungen auf eine jüngere
       Generation ausübten, die altersmäßig in den 20ern war und die Öffnung des
       Landes miterlebte. So gesehen wurden meine sieben Freunde – Füsun Onur,
       Serhat Kiraz, Canan Beykal, Cengiz Çekil, Ahmet Öktem, Ergül Özkutan,
       İsmail Saray und ich – zur Keimzelle türkischer Gegenwartskunst nach dem
       Zweiten Weltkrieg.
       
       Letztlich sind Sie durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst dann
       nach Berlin gekommen. Wie war das? 
       
       Ich zog damals nach Charlottenburg in die Nähe des Ku’damms. Ohne Deutsch
       zu sprechen, wie auch heute noch. Es schien mir immer zu schwierig, die
       Sprache zu lernen. Dabei habe ich auch nie viele deutsche Künstler
       getroffen. Damien Hirst wohnte aber bei mir um die Ecke im Kiez der
       Mommsenstraße. Douglas Gordon, Matt Mullican, Rachel Whiteread und Mona
       Hatoum, die ich bereits durch die Istanbul Biennale kannte, kamen damals
       auch. Es war eine großartige Zeit. Noch heute sehe ich meine Nachbarn, die
       Künstler Arturo Herrera und Bernard Frize, regelmäßig.
       
       Und was werden Ihre kommenden Projekte sein? 
       
       Alle Projekte wurden durch den Corona-Lockdown verschoben. Das große
       Projekt für Kunst im öffentlichen Raum, das ich für die japanische Ichihara
       Biennale plante, ist auf kommenden März verschoben. Eine weitere Biennale
       in Fremantle bei Perth in Australien findet jetzt erst im September 2021
       statt. Und da ist natürlich die Preisträger-Ausstellung in Heilbronn, die
       eine Retrospektive sein wird.
       
       20 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Archiv-Suche/!1558995&s=Ayse+Erkmen&SuchRahmen=Print/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sebastian Strenger
       
       ## TAGS
       
   DIR zeitgenössische Kunst
   DIR Türkei
   DIR Istanbul
   DIR Berliner KünstlerInnen
   DIR Skulptur
   DIR Heilbronn
   DIR Kunstbetrieb
   DIR Bildende Kunst
   DIR IG
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR taz.gazete
   DIR Türkei
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Kasper Königs Kunstsammlung versteigert: Denken in Sprüngen
       
       C.D. Friedrich oder Hanne Darboven: Die Sammlung von Kurator Kasper König
       war ein charmantes Potpourri. Wie sie in Köln unter den Hammer kam.
       
   DIR Dilek Güngors Buch „Vater und ich“: Das Schweigen
       
       Literatur über die Beziehung zwischen Vätern und Töchtern gibt es zu wenig.
       Dilek Güngor hat einen Roman über dieses Verhältnis geschrieben.
       
   DIR Corona und Kunst im Iran: Der Pandemie trotzen
       
       Die Kulturszene im schiitischen Gottesstaat Iran ist stark von der Pandemie
       betroffen. Eine Bestandsaufnahme aus Teheran und Isfahan.
       
   DIR Kampagne für Osman Kavala: Moralischer Mut
       
       Weiter in Haft: Osman Kavala, Förderer der türkischen Zivilgesellschaft.
       „Artists United for Osman Kavala“ kämpfen für seine Freilassung.
       
   DIR Barbaros Altuğ über Transnationalität: „Berlin ist ein Sehnsuchtsort“
       
       Autor im Exil: Barbaros Altuğ über die New Wave der türkischen Diaspora,
       den Genozid an den Armeniern und warum er Berlin sobald nicht verlassen
       will.