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       # taz.de -- Widerstand gegen Israels Annexionspläne: Resignation statt Protest
       
       > Die Führung in Ramallah mobilisiert gegen die israelischen
       > Annexionspläne. Doch im Westjordanland bleibt es bislang eher ruhig.
       
   IMG Bild: PLO-Fahnenmeer in Jericho
       
       Berlin taz | Es sah nach einem Erfolg aus: Rund eine Woche vor der
       möglichen Verkündung erster Annexionsschritte durch Israel haben Tausende
       Palästinenser*innen im Westjordanland gegen [1][die geplante Landnahme
       Israels] protestiert. Dazu aufgerufen hatte die Fatah von
       Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.
       
       Über den Köpfen der Teilnehmer*innen in Jericho wehten am Montagnachmittag
       palästinensische Fahnen; und hoher Besuch war auch da: Der
       Nahostbeauftragte der Vereinten Nationen, Nikolaj Mladenow, wiederholte die
       UN-Position, dass eine Annexion von Teilen des Westjordanlands nicht mit
       internationalem Recht vereinbar wäre.
       
       Ähnlich äußerten sich die Botschafter aus Russland, China, [2][und
       Jordanien], die ebenfalls nach Jericho gekommen waren. Auch Sven Kühn von
       Burgsdorff, der [3][EU-Vertreter in den palästinensischen Gebieten],
       betonte: Eine Annexion würde der Aussicht auf eine Zweistaatenlösung echten
       Schaden zufügen und werde „nicht unangefochten“ bleiben. „Heute kam die
       Welt zu uns und sagte uns, dass wir nicht allein sind“, resümierte Saeb
       Erekat, Generalsekretär der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO).
       
       Doch auch wenn die internationale Rückendeckung für die Palästinenser*innen
       zunimmt: Der von offizieller Seite organisierte Protest kann nicht darüber
       hinwegtäuschen, dass es jenseits davon bislang still bleibt, obwohl die von
       der israelischen Regierung angekündigte Annexion möglicherweise nur noch
       Tage entfernt ist. Ab kommendem Mittwoch kann Premierminister Benjamin
       Netanjahu erste Schritte einleiten.
       
       Vor zwei Wochen gelang es Abbas’ Autonomiebehörde kaum, 200 Leute zu einer
       Demonstration auf dem zentralen Manara-Platz in Ramallah zu bringen. Eine
       nicht offiziell organisierte, in der Bevölkerung verankerte Protestbewegung
       gegen die Annexionspläne gibt es nicht.
       
       ## Wirtschaftskrise im Westjordanland
       
       „Das Gefühl der Ohnmacht ist riesig“, meint der
       amerikanisch-palästinensische Autor Toufic Haddad, der in Jerusalem lebt.
       „Die Palästinenser*innen sind [4][eindeutig die schwächere Partei] und die
       bisherigen Mittel des Widerstands haben nicht funktioniert: nicht die
       Friedensverhandlungen, nicht der militärische Kampf, nicht der
       Volksaufstand. [5][Ein neuer Weg] müsste noch erfunden werden.“
       
       Hinzu komme die ökonomische Krise durch Covid-19. „Die Palästinenser*innen
       sind damit beschäftigt, für ihren Lebensunterhalt zu kämpfen“, sagt Haddad,
       der in Jerusalem lebt, „viele sind verschuldet.“
       
       Einer, der die Krise spürt, ist Chaled Dschum’a*, Besitzer eines kleinen
       Supermarkts in al-Tireh, einem Stadtteil von Ramallah. Während des
       Lockdowns hat der 58-Jährige an einigen Tagen buchstäblich nichts verkauft.
       
       „Ich hoffe, die Palästinensische Autonomiebehörde löst sich auf“, sagt er
       und holt eine Marlboro aus seiner Zigarettenpackung, dem vielleicht
       einzigen Überbleibsel seines amerikanischen Traums. Vor acht Jahren hat
       Dschum’a seinen Supermarkt in den USA verkauft, um wegen seiner Eltern in
       seine Heimat zurückzukehren. „Es war ein Riesenfehler. Hier gibt es nur
       korrupte Politiker und Probleme.“
       
       ## Genaue Annexionspläne unbekannt
       
       Nuri Bseiso*, Lehrerin aus Ramallah, sieht einer Annexion sogar mit
       Hoffnung entgegen: „Ein Teil von mir wünscht sich, dass mein Heimatdorf
       annektiert wird“, sagt die 49-Jährige. Rund 30 Kilometer von Ramallah
       entfernt, in dem arabischen Dorf al-Sawiya, ist sie aufgewachsen. Al-Sawiya
       liegt in der Nähe der israelischen Siedlung Ariel. Sollte Netanjahu mit
       seiner Ankündigung ernst machen, könnte dies auch Bseisos Heimatdorf
       betreffen. Genaue Pläne hat die Regierung bislang aber nicht
       bekanntgegeben.
       
       Dass Bseiso einer Annexion auch Gutes abgewinnen kann, hätte sie niemals
       gedacht, als sie zwischen 2005 und 2009 noch in Deutschland arbeitete und
       optimistische Vorträge über Palästina hielt. Sie habe sich damals als
       „romantische Patriotin“ bezeichnet, erzählt sie. Die zweite Intifada war
       vorbei, die ökonomische Situation in den besetzten Gebieten hatte sich
       etwas verbessert. „Doch seitdem ich zurück bin, gehe ich nicht mehr wie in
       Deutschland auf die Straße. Wenn ich unliebsame Kritik übe, habe ich immer
       Angst, dass ich verhaftet werde.“
       
       Hinter vorgehaltener Hand hört man dies von vielen. Bseisos Einschätzung
       der Demonstration vom Montag fällt entsprechend aus: Sie sei gefloppt, die
       Bevölkerung habe die Fatah damit „bestrafen“ wollen.
       
       Auch für den 27-jährigen Fotojournalisten Ahmad Al-Bazz sind die
       Kundgebungen der Fatah reine Lippenbekenntnisse: „Der geplanten Annexion
       sind Hunderte [6][kolonisierende Schritte] vorausgegangen, die seit Jahren
       vorgenommen werden“, sagt er. „Die Autonomiebehörde war nie daran
       interessiert, dem etwas entgegenzusetzen.“ De facto sei ohnehin schon alles
       annektiert, sagt er – ein Tenor, der in der palästinensischen Gesellschaft
       oft zu hören ist.
       
       * Namen geändert
       
       23 Jun 2020
       
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