URI: 
       # taz.de -- LGBTIQ in der Türkei: „Weder allein, noch verkehrt“
       
       > Trotz Verboten, trotz Corona: Die Pride Woche verbindet Menschen in der
       > Türkei. Fünf Protokolle aus verschiedenen Teilen des Landes.
       
   IMG Bild: Dieses Jahr findet die Pride Woche in İstanbul wegen Corona online statt
       
       ## Arad (39), Denizli
       
       Ich bin in Teheran aufgewachsen. Seit ich fünf bin, fühle ich mich als
       Mann. Ich bewege mich wie ein Mann, ich spreche wie ein Mann. Ich habe
       immer mit Jungs gespielt und hatte und habe raspelkurze Haare. Als ich 16
       war, sagte mir meine Familie, ich müsse jetzt eine „Frau“ werden und
       verheiratete mich gegen meinen Willen. Die Ehe war für mich wie eine
       einzige Vergewaltigung. Ich sagte meinem Ehemann immer, dass ich selbst ein
       Mann sei. Das führte dazu, dass er und mein ältester Bruder mich regelmäßig
       schlugen. Nach einigen Jahren bekam ich einen Sohn. Ich hatte eine Frau als
       Geliebte und eines Tages sah mein Ehemann mich mit ihr. Er schleppte mich
       sofort vor Gericht.
       
       Ich verbrachte eine Nacht in Haft, aber meine Familie holte mich raus. Ich
       zog mit meinem Sohn zu meinen Eltern. Aber sie waren auch gewalttätig zu
       mir. Und die Nachbar*innen und alle im Umfeld fragten andauernd, ob ich
       Mann oder Frau sei. Jeden Tag bekam ich zu hören, ich sei pervers und
       sündige. Der Mann meiner Schwester vergewaltigte mich. Ich konnte es
       niemandem erzählen. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich entschied mich, in die
       Türkei zu gehen, um frei leben zu können, und ließ meinen Sohn zurück.
       
       Ich hatte Bekannte in Denizli, die mir halfen, eine Aufenthaltserlaubnis zu
       bekommen. Ich lebe mit einer homosexuellen Person aus dem Iran zusammen.
       Ich habe ein soziales Umfeld. Insbesondere bin ich mit Menschen aus den
       iranischen, libanesischen und türkischen LGBTIQ mir ein Mann aus seinem
       Fenster etwas zu. Er habe sein Handy im Auto vergessen, ob ich es ihm
       hochbringen könne, da er nicht gut Treppen steigen könne. Ich fiel darauf
       rein, er vergewaltigte mich. Wieder konnte ich es niemandem sagen. Denn er
       war Türke und ich Ausländerin. Die Polizei würde ihm glauben, nicht mir.
       
       Ich will einfach so leben, wie ich bin. Dafür muss ich mich operieren
       lassen, aber das ist sehr teuer. Eine Zeitlang nahm ich Hormone, doch aus
       Geldmangel musste ich damit aufhören. Ich bekomme monatlich 750 Lira (etwa
       97 Euro) von den UN. An Miete zahlen wir 700 Lira. Eine Arbeitserlaubnis
       habe ich nicht. Anfangs arbeitete ich in einer Textilfabrik. Auf einmal kam
       der Aufseher und fragte mich: „Was bist du?“ Ich verstand nicht einmal, was
       er wollte. Schließlich sagte ich, ich sei ein Mann. Daraufhin sagte er mir,
       ich solle nicht wiederkommen, solche wie mich wolle man nicht im Betrieb.
       Ähnliches erlebte ich auch an anderen Arbeitsplätzen.
       
       Als im März die Grenzen geöffnet wurden, sind viele Menschen, die ich
       kenne, nach Edirne gefahren. Ich habe der Sache nicht getraut. Tatsächlich
       ist es für die meisten meiner Freund*innen an der Grenze schlimm
       ausgegangen. Danach hat Corona alles nochmal schwerer gemacht.
       Gesundheitliche Versorgung in staatlichen Krankenhäusern bekommen wir als
       Ausländer*innen nicht.
       
       ## Hêvî Berzê (27), Diyarbakır
       
       (dieser selbstgegebene kurdische Name bedeutet Hoffnung Starke Frau)
       
       Ich definiere mich als trans Frau. Mein erster Kampf begann in meiner
       Familie. Beim Aufwachsen vergrößert sich das soziale Umfeld. Du musst deine
       Kämpfe mit anderen Kindern führen, dann in der Schule, und zuletzt auch im
       politischen Umfeld.
       
       Ein Jahr lang hatte ich keinen Kontakt mit meiner Familie und habe
       versucht, mein eigenes Leben aufzubauen. Sexarbeit mache ich
       gezwungenermaßen. Als die Nachbarn während der Corona-Krise die ganze Zeit
       zuhause waren, fingen sie an, Steine gegen meine Fenster zu werfen. Jetzt
       lebe ich wieder bei meiner Familie. Am Anfang der Coronakrise hatte ich
       ohnehin kaum Arbeit und habe nur unter großer Angst Kunden empfangen.
       Irgendwann hat es dann ganz aufgehört. Ich möchte ohnehin gerade keine
       Sexarbeit machen, weil ich Angst habe, mich anzustecken – und weil ich mich
       psychisch etwas erholen will. Also arbeite ich derzeit nicht.
       
       Seit zehn Jahren mache ich Sexarbeit. In unserer Stadt sind die
       Diskriminierungen vielfältig und intensiv. Zu politischen Kundgebungen
       werde ich manchmal gar nicht erst durch die Absperrungen gelassen, von
       Frauendemonstrationen werde ich auch ausgeschlossen.
       
       Innerhalb der kurdischen Bevölkerung gibt es viel Ablehnung. Bei der
       Kundgebung zum Weltfriedenstag im September 2019 wurde ich körperlich
       angegriffen. Angegriffen wurden nur die trans Menschen, den schwulen und
       lesbischen Freund*innen neben uns ist nichts passiert. Als trans Frau bin
       ich sehr sichtbar. Aber auch Freunden*, denen bei Geburt das weibliche
       Geschlecht zugewiesen worden war, wurden angegangen. Ich trug die
       Regenbogenfahne. Ich wurde geschubst, die Leute wollten, dass ich die Fahne
       einrolle und abhaue.
       
       In der Nacht auf den 8. März war ich in einer Bar in Diyarbakır
       sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Ich habe aber auch keine Anzeige
       erstattet. Ich bin einfach nur aus der Bar geflohen und hab mich in ein
       Taxi geschmissen. Das Taxi wurde unterwegs von der Polizei angehalten. Sie
       wollten meine Telefonnummer und belästigten mich. Wir standen am Kofferraum
       des Taxis, und ich nutzte den Moment, als der Fahrer ausstieg und dazukam,
       um einen Polizisten zu schubsen und wegzulaufen. Deshalb war ich nicht in
       der Verfassung, am 8. März auf die Straße zu gehen.
       
       Als trans Frau erlebe ich dreifache Diskriminierung: Als Kurdin und
       aufgrund meiner Sprache, als trans Person und als Frau. Ich verstehe
       wirklich nicht, warum die Menschen in Diyarbakır so transfeindlich sind.
       Alle rackern sich doch die ganze Zeit ab, um Freiheit zu erringen – aber
       die Freiheiten anderer Menschen schränken sie ein, ohne mit der Wimper zu
       zucken. Wissen die überhaupt, was wir für Kämpfe führen?
       
       An einem Pride March habe ich noch nicht teilgenommen, aber überall, wo in
       Diyarbakır trans Menschen unterwegs sind, ist schon ein Pride: Es ist schon
       ein Ausdruck von Stolz und Widerstand, wenn wir überhaupt auf der Straße
       gehen. Denn was uns von Schwulen, Lesben und Bisexuellen unterscheidet, ist
       die große Sichtbarkeit. Als Schwuler kannst du dich verstecken. Aber weil
       es zwischen meiner Haut und meiner Seele keine Harmonie gibt, erkennen mich
       die Leute sofort als trans. Ich kann leider bei den Online-Veranstaltungen
       der Pride Woche nicht mitmachen, weil ich derzeit bei meiner Familie lebe.
       Ich würde es aber gerne.
       
       Ich habe Bekannte im kurdischen Urfa, die sagen, es sei dort einfacher für
       Menschen wie mich. Aber das Migrationsamt hat meine Anfrage, ob ich nach
       Urfa ziehen darf, nicht beantwortet. Ich weiß nicht, was ich machen soll.
       Über die Pride-Woche weiß ich nicht viel, aber ich fühle mich unter LGBTIQ
       sehr wohl und wünschte mir, es wäre nicht auf eine Woche im Jahr
       beschränkt.
       
       ## Zeynep (27), İstanbul
       
       Ich bin in Istanbul aufgewachsen und seit meiner Pubertät weiß ich, dass
       ich mich auch von Frauen angezogen fühle. Ich lebe offen bisexuell. Ich
       komme zwar aus einer vermeintlich modernen und offenen Familie und lebe in
       einer Metropole, trotzdem war das Coming-Out die schwerste Zeit in meinem
       Leben. Viele Menschen, die mir nahestanden, haben darauf auf eine Weise
       reagiert, die mich für mein Leben verwundet hat. Es war alles dabei von
       offenem Hass bis zu gnädiger Toleranz. Ich musste lernen, dass sexuelle
       Orientierung eine höchst persönliche Sache ist, die bei jedem Menschen
       anders ist und gerade deswegen offen verteidigt werden sollte.
       
       Seit 2017 unterstütze ich mit meinen beruflichen Fähigkeiten ehrenamtlich
       verschiedene LGBTIQ-Vereine in der Türkei. Wir haben noch einen weiten Weg
       vor uns, aber der Pride ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.
       Insbesondere für jüngere Menschen und diejenigen, die sich einsam und
       verloren fühlen, sind große Veranstaltungen und große Bewegungen sehr
       wichtig. Ich glaube, dadurch können im Leben von LGBTIQ-Personen, die
       vielleicht im familiären Kontext, an der Uni oder im Beruf große
       Schwierigkeiten haben, leichter safer spaces entstehen. Und je schwieriger
       die Zeiten werden, desto wichtiger wird unser Kampf. Auf der einen Seite
       sind wir regelmäßig Hassbotschaften von offiziellen Stellen ausgesetzt, auf
       der anderen Seite wird die Pride Week jedes Jahr wieder verboten.
       
       Unsere Bewegung findet immer wieder alternative Wege, auch wenn sie
       versuchen, uns jede Bewegungsmöglichkeit zu nehmen. Ich habe immer noch
       Hoffnung, dass wir dadurch organisierter und stärker werden. Es ist sowohl
       für die Einzelnen, als auch für die Bewegung insgesamt wichtig, unseren
       Kampfgeist vor Burnouts zu schützen. Aber oft geht es leider auch darum,
       einfach trotzdem weiterzumachen und ich sehe, dass viele Aktivist*innen in
       meinem Umfeld damit ähnlich umgehen. Meine Motivation speist sich aus der
       Vorstellung, dass wir eines Tages wieder am Taksim mit Regenbogenfahnen in
       den Händen in Freiheit unseren Pride March machen können – und dass wir
       durch unsere Kämpfe heute den folgenden Generationen eine sicherere,
       bessere Umgebung schaffen können.
       
       Politisch gesehen sind die Kämpfe der LGBTIQ in der Türkei zunehmend lokale
       Kämpfe geworden. Das hat natürlich mit der Repression zu tun und den
       Verboten fast aller Veranstaltungen. Es gibt aber trotzdem immer noch
       Kommunalverwaltungen, die LGBTIQ-freundliche Protokolle unterzeichnen, oder
       Diskussionsveranstaltungen, die an Hochschulen stattfinden können. Das
       Gesamtbild ist etwas düster, aber zu sehen, dass wir uns inmitten all
       dieser Feindschaft überhaupt organisieren können, stärkt wiederum unser
       Vertrauen in unsere Kraft. Ich finde, dass unsere Bewegung in letzter Zeit
       sehr erfolgreich darin ist, Alternativen zu erfinden und unsere Kämpfe mit
       neuen Mitteln fortzuführen, und das macht mir Hoffnung für die Zukunft.
       
       ## Okan (24), Diyarbakır
       
       2014 kam ich zum Jurastudium nach Diyarbakır. An der Fakultät lernte ich
       Keskesor LGBTI+ kennen, einen der ersten kurdischen Vereine für LGBTIQ. Ich
       lebe meine Homosexualität offen. Ich bin mittlerweile freiberuflicher
       Rechtsanwalt und bin immer noch bei Keskesor, weil ich dort einen Ort
       gefunden habe, um gegen Homophobie und Transphobie zu kämpfen und mich
       auszudrücken. Allerdings nimmt derzeit meine Funktion in der
       LGBTIQ-Kommission der Anwält*innenkammer einen Großteil meiner Zeit in
       Anspruch.
       
       Wir haben uns im Rahmen der Anwält*innenkammer Diyarbakır gegründet, um
       Kolleginnen* und Kollegen* zusammen zu bringen. Jurist*innen aus jedem
       politischen Lager haben sich gegen uns gestellt. Für die einen sind wir
       nicht mit dem Islam zu vereinbaren, für die anderen gibt es im politischen
       Kampf wichtigere Themen als die unserer Kommission und deshalb dürfe sie
       gar nicht erst gegründet werden. Trotzdem gibt es uns seit September 2019
       als Kommission für LGBTIQ-Rechte.
       
       Eine Gruppe von Jurist*innen hat ein Flugblatt aufgesetzt, um gegen uns zu
       hetzen. Sie forderten unter anderem, dass Menschen mit „abweichenden
       sexuellen Eigenschaften“ sich „behandeln lassen“ und die Kommission
       „aufgelöst“ werden müsse. In den darauffolgenden Monaten haben wir für
       Referendar*innen und Praktikant*innen Bildungsmodule namens LGBTIQ 101
       angeboten. Gleichzeitig konnten wir die Pfilchtverteidigung in vielen
       Fällen übernehmen, weil hilfreiche Jurist*innen an uns weiterverwiesen
       haben. Für eine*n LGBTIQ haben wir eine Schutzanordnung erwirken können.
       
       Der Kampf um offene Identität als LGBTIQ ist eine Sache, aber viele
       sechzehnjährige Jugendliche brauchen viel eher wirkungsvolle rechtliche
       Mechanismen, um sich selbst verteidigen zu können. Ohne die kommen wir mit
       den Fällen, die an uns herangetragen werden, auch nicht wirklich weiter. Da
       ist ein junger Mensch, der nicht möchte, dass die Familie davon erfährt.
       Und zwar nicht nur aufgrund von religiöser Verschlossenheit oder feudalen
       Familienstrukturen, sondern auch weil aufgeklärte Mittelklassefamilien ihre
       Kinder nach dem Muster binärer Geschlechtsidentitäten erzieht und Menschen
       uns ohne Weiteres ins Gesicht sagen können: „Ab nach Holland mit euch!“ Das
       ist auch ein verbreiteter Hashtag.
       
       Seit ich nach Diyarbakır gekommen bin, hat es kaum Fortschritte gegeben,
       was das Recht auf Versammlungsfreiheit oder überhaupt die Möglichkeit, sich
       als LGBTIQ im öffentlichen Raum auszudrücken, angeht. Als wir 2014 als
       LGBTIQ-Gruppe an den Newroz-Feierlichkeiten teilnahmen, gab es keinerlei
       Probleme. Aber 2019 kam es zu Angriffen auf unsere Gruppe während der
       Newroz-Feierlichkeiten und am Weltfriedenstag. Da die staatliche Politik
       erstens selbst Hate Speech verbreitet und zweitens Hassverbrechen an LGBTI
       straffrei bleiben, gibt es auch in der hiesigen Bevölkerung eine Zunahme an
       Hassverbrechen.
       
       Der erste Pride war ja ein Aufstand, ein Riot. Unser Widerstand ist möglich
       geworden durch diesen Aufstand gegen die Repressionen, unter denen
       LGBTIQ-Communities leiden mussten. Es gibt einen riesigen Unterschied zu
       unserem heutigen Widerstand. Ich sehe, dass wir heute eher als Teil des
       Mainstream auf ein liberales Einfordern von Grundrechten konzentriert sind.
       
       Dennoch unterscheidet sich der Pride in Istanbul und die LGBTIQ-Bewegung in
       der Türkei an einigen Punkten von anderen in der Welt. Wir bekommen es
       immer wieder hin, in der Türkei auch allgemeine politische Probleme zu
       thematisieren und gleichzeitig und gemeinsam zu kämpfen. Trotzdem gibt es
       viel zu kritisieren: Inwieweit die türkische LGBTIQ-Bewegung auch kurdische
       LGBTIQ mitdenkt, oder andersherum, inwieweit bei den Kämpfen um einen
       Friedensschluss zwischen Staat und kurdischer Bewegung auch die Anliegen
       von LGBTIQ mitgedacht werden. Ich bin mir da nämlich in beiden Fällen nicht
       so sicher.
       
       Auch als in der Türkei keine bewaffneten Auseinandersetzungen stattfanden,
       während des Friedensprozesses, gab es weiterhin Hassverbrechen. Aber es
       herrschte ein insgesamt positiveres Klima als heute. Denn man konnte in
       Diyarbakır auf der Straße Feiern und Versammlungen abhalten. Wir wurden zum
       Beispiel als Keskesor LGBTI+ zum Munzur-Kulturfestival nach Dersim
       eingeladen. Später fand dort in Dersim eine kleine, lokale LGBTIQ-Demo
       statt. Es ging eben um gesellschaftliche Friedensprozesse. Heute müssen wir
       als LGBTIQ auch eine Friedenspolitik formulieren können.
       
       Im Schatten bewaffneter Konflikte ist es natürlich schwierig, Politik zu
       machen oder sich in irgendeinem gesellschaftlichen Feld kämpfend zu
       bewegen. Insofern hat das Scheitern des Friedensprozesses auch dem Kampf
       gegen Homophobie und Transphobie geschadet. Während des Friedensprozesses
       haben wir vor allem um Sichtbarkeit gekämpft. Es gab damals kurdische
       Kommunalverwaltungen und lokale NGOs, die mit uns zusammengearbeitet haben.
       Seit wieder Krieg herrscht, eskalieren leider auch die nationalistischen
       und polarisierenden Diskurse, und das führt dazu, dass wir weniger
       Unterstützung aus der Zivilgesellschaft bekommen.
       
       ## Zeplin (26), İzmir
       
       Ich bin eine Person, die mit dem binären Gendersystem keinen Frieden
       geschlossen hat und würde mich am ehesten als queer bezeichnen. 2011 fing
       ich an zu studieren und damals gab es nicht so viel Bewusstsein wie heute,
       was LGBTIQ angeht, nicht so viel Solidarität und ehrlich gesagt hatten wir
       auch nicht so viel Hoffnung wie heute. Ich bin hoffnungsvoll, was unsere
       Kämpfe angeht, die feministische Bewegung und die LGBTIQ-Bewegung machen
       kräftige Fortschritte, manchmal sind wir selbst über unsere Stärke
       erstaunt.
       
       Andererseits sieht man, wie zum Beispiel die diskriminierenden Äußerungen
       des Religionsministeriums Diyanet direkt für viele unserer Freund*innen
       dazu führen, angegriffen zu werden. Klar gab es immer eine Phobie gegen
       uns, aber Hassdiskurse zementieren sie und stärken die Täter, während die
       Straffreiheit für Personen, die trans Menschen ermorden, viele
       Aktivist*innen abgeschreckt und entmutigt hat. Aber wir haben schon lange
       gelernt, uns gegenseitig an den Händen zu fassen.
       
       Corona bedeutet für viele von uns vor allem Arbeitslosigkeit. Als LGBTIQ
       findest du ohnehin nur sehr schwer einen Job, und wenn dann alles
       dichtmacht und alle in unbezahlten Urlaub geschickt werden, heißt das für
       viele von uns, unsere Selbstbestimmung zu verlieren und vielleicht zu
       unseren Eltern zurückkehren zu müssen. Die meisten von uns waren halt in
       nicht sozialversicherten Jobs. Das gilt auch für Studierende, die einfach
       viele Freiräume verloren haben mit der Krise.
       
       Ich selbst musste zu meinen Eltern zurück und da kann ich meine Identität
       nicht offen leben. Aber ich höre auch von anderen, dass ihre Eltern einfach
       spüren, was die Kinder verbergen, und ich habe Angst, dass meine Eltern das
       auch spüren. Zum Beispiel hatte ich letztens ein Gespräch mit meiner
       Mutter, wo ich gesagt hab, ich möchte nicht mit Leuten zu tun haben, die
       mich nicht so akzeptieren, wie ich bin – und plötzlich fragte sie ganz
       aggressiv und ganz nervös, was ich damit meine, und wenn ich in ihren Augen
       nicht halbwegs “normal“ aussehen würde, könnte diese Spannung wohl sehr
       eskalieren.
       
       Viele Frauen und LGBTIQ haben während der Ausgangssperre vermehrt häusliche
       Gewalt erlebt, die in sehr vielen Fällen unsichtbar geblieben ist. Wir
       wissen nur: In 20 Tagen wurden 21 Frauen ermordet. Trans Menschen, die ihre
       Identität vor ihrer Familie verstecken müssen, sind über Nacht darauf
       angewiesen, ihre Kleidung und ihren Namen zurückzulassen und vielleicht
       sogar ein Kopftuch zu tragen. Einwände können uns sehr teuer zu stehen
       kommen.
       
       Die Pride Woche zeigt uns jedes Jahr, wie mutig und hoffnungsvoll wir trotz
       allem doch sind. Sie zeigt uns, dass wir weder allein noch verkehrt sind,
       das ist ein Slogan von uns. Wir können Seite an Seite stehen, um das allen
       zu zeigen. Ich glaube, 2013 war es leichter als heute, aber dafür haben wir
       jetzt gelernt, nicht nur demonstrieren zu gehen, sondern wirklich mit
       unseren Körpern Widerstand zu leisten. Ich habe letztes Jahr auf dem Pride
       zweimal Polizeigewalt erlebt, Freund*innen von mir wurden festgenommen. Ich
       will das nicht romantisieren, aber wir haben uns am nächsten Tag sehr
       entschlossen und hoffnungsvoll angeschaut.
       
       Die jüngeren Generationen können sich heute unglaublich schnell Wissen über
       unsere Kämpfe aneignen, das liegt nicht nur am Internet, sondern auch
       daran, dass wir überall sichtbar sind. Es gibt türkischsprachige Quellen zu
       vielen Themen, Beratungsstellen und Räume in den sozialen Medien. Die
       nächste Generation kommt heftig, würde ich sagen. Vielleicht führt unsere
       Sichtbarkeit dazu, dass sie mehr Druck ausgesetzt sind als wir es waren,
       aber das wird auch den Widerstandsgeist bei ihnen stärken.
       
       Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
       
       25 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR taz.gazete
   DIR Figen Güneş
   DIR Meral Candan
       
       ## TAGS
       
   DIR taz.gazete
   DIR The Last Of Us
   DIR taz.gazete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Homophobie in der Gaming-Szene: Eine Lesbe rettet die Welt
       
       Mit der lesbischen Hauptfigur erzürnt das Videospiel „The Last of Us“
       homophobe Gamer. Doch zugleich führt es viele an eine queere Identität
       heran.