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       # taz.de -- Jahresplanung und Corona: Gefangen im Konjunktiv
       
       > Eigentlich wäre jetzt..., aber stattdessen haben wir Corona. Das
       > Zeitgefühl verrutscht, im Kalender wird immer mehr gestrichen.
       
   IMG Bild: Eigentlich wäre jetzt EM, Panini-Fußball-Sammelbildchen erinnern daran
       
       Als L. und ich an einem dieser hellen, langen Abende die Graefestraße
       hinunterliefen und nicht so recht wussten, ob wir noch Bier trinken gehen
       sollten (und wenn ja, wie viele) oder nicht, ließ er beiläufig ein paar
       Sätze fallen, die mich irritierten. „Eigentlich wäre ja jetzt EM, und wir
       würden da hinten am Späti beim Public Viewing sitzen“, sagte er, Richtung
       Dieffenbachstraße weisend. „Wahrscheinlich wäre grad Halbfinale, Spanien
       gegen Portugal.“
       
       Ganz kurz rauschte ein ölig glänzender Cristiano Ronaldo durch meinen Kopf,
       vor allem aber hallten die Möglichkeitsformen „wäre“ und „würde“ nach. Die
       Coronazeit ist definitiv die große Zeit des Konjunktivs, dachte ich. 2020
       scheint wie ein ganzes Jahr im Modus Irrealis.
       
       Jeder Fußballfan weiß, dass gerade dieser Sport der letzte ist, der im
       Konjunktiv stattfindet, schon gar nicht eine ganze Europameisterschaft.
       Nicht ohne Grund hat sich im Sprechen über Fußball ein ganz eigenständiger
       fußballerischer Indikativ Präsens herausgebildet: „Wenn er den Ball
       reinmacht, läuft so ein Spiel anders“, kommentieren Trainer und Spieler
       gerne mal nach dem Match das Geschehen, obwohl sprachlich eigentlich der
       Konjunktiv in der Vergangenheit angezeigt wäre.
       
       Vielleicht hilft einem eine solch unwirkliche Wirklichkeitsform ja auch im
       Umgang mit den Entbehrungen in der Zeit der Corona-Pandemie? Als
       Realitätsverweigerung? Nun ja. Bedingt. Aber klar, wenn Corona nicht ist,
       läuft so ein Jahr anders.
       
       ## Durcheinander im Kalendarium
       
       Nein, eigentlich sind wir gefangen im Konjunktiv. Für mich zum Beispiel
       fühlt es sich manchmal so an, als sei noch April. Dann wieder denke ich,
       wir hätten schon August. Jedenfalls komme ich mit der Zeit durcheinander.
       Denn sind nicht schon längst Sommerferien? Die Kinder haben doch schon die
       ganze Zeit frei! Andererseits hat der 1. Mai in meinem gefühlten
       Kalendarium noch nicht stattgefunden. Kein Wunder, dass man nichts mehr
       blickt.
       
       Das Blöde ist, dass auch alles Zukünftige so konjunktivisch aufgeladen ist.
       Es ist, als habe sich durch Corona auch die Sprachordnung geändert: „Auf
       unbestimmte Zeit gilt der Konjunktiv. Bitte verwenden Sie ihn so oft wie
       möglich, bevorzugt in Verbindung mit Konditionalsätzen.“ Das tun wir alle
       fleißig. „Wenn bis Ende des Jahres keine zweite Welle kommen sollte, könnte
       man darüber nachdenken, die Clubs wieder zu öffnen.“ – „Wenn der R-Wert und
       die Anzahl der Neuninfektionen beständig niedrig bleiben sollten, könnte
       schon bald wieder Kontaktsport erlaubt sein.“ So etwas in der Art.
       
       Die Zeit der Sicherheiten ist eben vorbei. Wahrscheinlich hat es sie nie
       gegeben, aber wir waren sehr gut darin so zu tun, als ob es sie gäbe. Damit
       hat auch der Indikativ ausgedient. Seine große Zeit hat er gehabt, all die
       Jahre hat er geherrscht. Schließlich hat Wittgenstein nicht geschrieben:
       „Die Welt ist alles, was der Fall sein könnte“. Und Norbert Blüm nicht
       gesagt: „Die Rente könnte sicher sein.“ Wittgenstein ist lange tot, Norbert
       Blüm noch nicht ganz so lange, aber sicher ist, dass nichts mehr sicher
       ist. Am Allerwenigsten die Rente.
       
       Wir können nun nur hoffen, dass das Mögliche zwischendurch auch noch mal
       wirklich wird. Denn eigentlich würden wir jetzt Sommerpartys feiern, würden
       bei Festivals dicht an dicht stehen. Oder wir lägen in der Hängematte, und
       bei dem Wort „Hygiene“ würden wir an die Morgentoilette denken und nicht an
       Desinfektionsmittel, Attila Hildmann oder Ken Jebsen. Es gäbe ein ganz
       normales Sommerloch, wir würden uns verlieben wie jeden Sommer, auch in
       dieser Hinsicht würden wir Kontaktsport betreiben. Die Welt wäre alles, was
       der Fall wäre. Und 2020 wäre ein Jahr wie jedes andere.
       
       29 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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