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       # taz.de -- Coronavirus in Argentinien: Endlich wieder Weltmeister
       
       > Buenos Aires und der Großraum der Hauptstadt befinden sich am Samstag
       > seit 100 Tagen unter Quarantäne. Vor allem Ladenbesitzer*innen sind am
       > Anschlag.
       
   IMG Bild: Essenausgabe in einer Suppenküche in Buenos Aires
       
       Buenos Aires taz | Marielena Munir steht in der Schlange vor einem kleinen
       Supermarkt. „Argentinien ist Weltmeister“, ruft sie der zwei Meter hinter
       ihr stehenden Frau zu. „Ja, Quarantäne-Weltmeister“, ruft die zurück. Am
       Samstag steht Argentinien 100 Tage unter Quarantäne. „Länger als in China,
       Spanien und Italien“, sagt Marielena Munir.
       
       Auch wenn einzelne Landesteile als Coronavirenfrei gelten und dort die
       Quarantäne gelockert oder ganz aufgehoben ist, gilt sie in der Hauptstadt
       und im Großraum [1][Buenos Aires] ununterbrochen seit dem 20. März. Hier
       sind 85 Prozent der bisher 50.000 Infektionsfälle des Landes registriert.
       Und hier leben 16 Millionen der 45 Millionen Argentinier*innen. Ein Ende
       ist nicht in Sicht. Gerade hat die Regierung die Quarantänemaßnahmen in der
       Área Metropolitana sogar wieder verschärft.
       
       Als gerade einmal 128 Fälle gemeldet waren, hatte Präsident Alberto
       Fernández die strenge Quarantäne verhängt. Das Haus verlassen durfte man
       nur zum Einkaufen, für Arztbesuche oder ähnliche Basisdinge. Die Kurve der
       Infizierten blieb flach und dieser Erfolg verzögerte ihren Höhepunkt. So
       verlängerte der Präsident die Quarantäne immer wieder aufs Neue.
       
       Als es vor drei Wochen die ersten Lockerungen gab, durfte auch Marielena
       Munir ihre kleine Modeboutique wieder öffnen. Doch seit einer Woche weist
       die Kurve der Infektionen immer steiler nach oben und Munir musste wieder
       schließen.
       
       ## Nerven liegen blank
       
       Ihr Modeladen gehört nicht zu den 25 Prozent der essentiellen
       Einzelhandelsgeschäfte der Hauptstadt, die öffnen dürfen. „Zu Beginn
       standen alle hinter dem Präsidenten. Inzwischen geht es bei vielen um die
       wirtschaftliche Existenz und das zehrt den Nerven“, sagt die 35-Jährige und
       zupft an ihrem Mundschutz. Den müssen in Buenos Aires alle tragen.
       
       „Wenn das noch lange so geht, werden bis zu 100.000 Geschäfte
       verschwinden“, warnte vor wenigen Tagen der Vorsitzende der Handelskammer,
       Mario Grinman. Schon jetzt hätten 50.000 Geschäfte die Jalousien für immer
       heruntergelassen, davon geschätzt die Hälfte in der Hauptstadt.
       
       „Das trifft nicht nur Ladenbesitzerinnen wie mich“, sagt Munir. „Stimmt“,
       meint die hinter ihr stehende Frau. Ihr Mann sei Frisör, sein kleiner Salon
       seit 100 Tagen geschlossen. Miete, Strom würden fällig und nur mit den
       Hausbesuchen in der Nachbarschaft kämen sie nicht mehr lange über die
       Runden.
       
       Weil ihr Mann gerade einen Hausbesuch macht, hat sie ihre kleine Tochter
       dabei. Kindern ist der Ausgang nur am Wochenende für eine Stunde und in
       Begleitung eines Elternteils erlaubt. „Der Spielplatz ist geschlossen und
       davor steht ein Wachmann“, erzählt die Fünfjährige resigniert. Zur sozialen
       Distanz hat sich soziale Erschöpfung gesellt.
       
       ## Hungern oder Changas machen
       
       José Zaracho sammelt die leeren Kartons ein, die vor dem Supermarkt stehen.
       Bereits seit drei Wochen zieht der Cartonero mit seinem Karren durch die
       Straßen auf der Suche nach Dosen, Plastik, Karton und Altpapier. Sechs
       Wochen hätten er und seine Familie die Quarantäne durchgehalten, erzählt
       er, dann hätten sie vor der Wahl gestanden: Hungern oder wieder Sammeln
       gehen.
       
       „Hier in der Stadt befolgen die Leute die Quarantäne noch“, meint der
       45-Jährige. Im Vorortbezirk La Matanza, wo er wohne, sei davon kaum noch
       etwas zu merken. Dort leben die Leute von Changas, wie die informellen Jobs
       heißen. „Wer keine Changas macht, hat schnell kein Geld fürs Essen.“
       
       Umgerechnet [2][130 Euro Nothilfe] hatte die Regierung jedem Betroffenen
       zugesagt. Neun Millionen haben ihren Anspruch angemeldet. So wurde das
       Nothilfe-Programm zugleich zur ersten aussagekräftigen Erhebung über den
       informellen Sektor in Argentinien.
       
       „Ist hier das Ende der Schlange?“ fragt Eduardo Riggio. Seit dem 20. März
       gehe er nur noch hinaus, um einzukaufen oder Notwendiges zu erledigen. „Mit
       Asthma und Diabetes gehöre ich zu mehreren Risikogruppen“, sagt der
       73-Jährige. „Wenn mich das Virus erwischt, liege ich in zwei Wochen in
       Chacarita“, sagt Riggio und meint den großen Friedhof im gleichnamigen
       Stadtteil.
       
       Bisher sind in Argentinien 1.150 Menschen an Covid19 gestorben. Nur 15.000
       der bisher 50.000 Infizierten gelten als genesen. „Wer wegen der Quarantäne
       gegen den Präsidenten schimpft, der möge sich anschauen, was bei unseren
       Nachbarn in Brasilien und Chile los ist“, sagt er in aller Ruhe. Auch könne
       niemand über Versorgungsmängel klagen, sagt er, und zeigt auf die
       Schaufensterauslage des Supermarkts.
       
       „Solange es keine Impfung oder eine gutes Medikament gibt, werde ich meine
       Zeit zu Hause verbringen müssen.“ Deshalb habe er seine alten Bücher wieder
       entdeckt. „Gerade lese ich ‚Hundert Jahre Einsamkeit‘ von García Márquez“,
       sagt er „Hoffentlich dauert die Quarantäne nicht genau so lange.“
       
       27 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Vogt
       
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