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       # taz.de -- im Haifischbecken: Vermieter Willi wollt’s anders
       
       > Ein Eigentümer wollte Mieter über seinen Tod hinaus schützen. Eine
       > Landesstiftung ignoriert das. Nun fordert die Wrangelstraße 83 das
       > Vorkaufsrecht.
       
   IMG Bild: Hausgemeinschaft der Wrangelstraße 83
       
       Die Hilferufe mehren sich: Ein Café hier, ein Buchladen da oder ein ganzes
       Mietshaus – überall fürchten MieterInnen und Gewerbetreibende um ihre
       Existenz. Sie werden hinausgentrifiziert, gekündigt, zwangsgeräumt. Und
       immer mehr von ihnen wehren sich. Wir erzählen in unserer Serie „Im
       Haifischbecken“ in loser Folge ihre Geschichten. Auch betroffen? @taz.de 
       
       Der kleine Fisch: „Willi wollt’s anders“ lautet das Motto, unter dem sich
       die Bewohner*innen der Wrangelstraße 83 in Kreuzberg zusammengeschlossen
       haben. Gemeint ist Willi Kolberg, der 2016 verstorbene Hausbesitzer, unter
       dem die dreizehn Mietparteien unbeschwert in die Zukunft schauen konnten.
       Dafür wollte er auch nach seinem Ableben sorgen – und so schrieb er in
       seinem Nachlass: „Ich wünsche auf gar keinen Fall, dass meine Häuser
       verkauft oder anderweitig veräußert werden. Sie sind mein Lebenswerk.“ Die
       MieterInnen sollten bleiben dürfen, der Hausverwalter und -wart der
       Wrangelstraße 83 ein lebenslanges, mietfreies Wohnrecht genießen.
       
       Kolberg vermachte dieses, zwei weitere Berliner Gebäude und ein Wohnhaus in
       Frankfurt/Main der landeseigenen Charité – in der Überzeugung, dass diese
       seinen sozialen Anspruch weiterführen würde. So hoffte es auch Iris Böhnke
       (Name geändert), die schon vor dem Mauerfall in die Wrangelstraße zog und
       sagt: „Mir war gleich klar, so lange wie er lebt, ziehe ich hier nicht
       freiwillig wieder aus.“ Ihre letzte Mieterhöhung bekam sie 2004; niemals
       sei Mieter*innen gekündigt worden.
       
       Der große Fisch: Die Häuser landeten bei der Stiftung des Jüdischen
       Krankenhauses, an dem die Universitätsklinik zur Hälfte beteiligt ist. Die
       Stiftung beauftragte mit der Hausverwaltung die Gewobe, eine Tochterfirma
       der Wohnungsbaugesellschaft Degewo, und kündigte entgegen Kolbergs Wunsch
       dem bisherigen Hauswart. Anschließend versuchte sie sogar, ihn per
       Räumungsklage aus seiner Wohnung zu klagen. Auch einem Mieter, dem Kolberg
       eine Gewerbefläche zur Wohnnutzung überließ, wurde gekündigt. „Die setzen
       sich einfach über seinen letzten Wunsch hinweg“, sagt Böhnke empört.
       
       Die Krankenhaus-Stiftung, anscheinend wenig erpicht darauf,
       Immobilieneigentümer zu sein, verkaufte schon 2018 die ehemaligen
       Kolberg-Häuser in Frankfurt sowie in der Hermannstraße 14, welches kurz
       darauf abgerissen wurde. Nun hat sie auch die beiden verbliebenen Häuser in
       der Tempelherrenstraße 18 und der Wrangelstraße abgestoßen, letzteres für
       2,2 Millionen Euro. Käufer ist Henrik Ulven, ein Immobilienspekulant, der
       einem ganzen Netzwerk aus GmbHs vorsteht. Bei einer ersten Hausbegehung der
       neuen Eigentümer sei sofort ein Mieter überrumpelt worden und entgegen
       seinem Willen in dessen Wohnung Fotos angefertigt worden, erzählt Böhnke.
       
       Wer frisst hier wen? Wie so oft, heißt die letzte Rettung Vorkaufsrecht.
       Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat bis zum 10. August Zeit, einen
       Käufer zu finden. Für Iris Böhnke ist die Sache klar: Die landeseigenen
       Institutionen hätten sich an dem Nachlass von Willi Kolberg bereichert.
       Wenn nun eine Wohnungsbaugesellschaft Geld für den Kauf in die Hand nehmen
       muss, sei das für das Land insgesamt ein „Nullsummenspiel“.
       
       Der Linken-Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser spricht von einem „makaberen
       Umgang“ mit Kolbergs letztem Willen und sagt: „Der Regierende Bürgermeister
       und sein Finanzsenator sind hier auch ganz persönlich in der
       Verantwortung.“ Als Aufsichtsmitglieder der Charité hätten sie „mit
       zugelassen, dass es überhaupt erst zu diesem Trauerspiel gekommen ist und
       die Bewohner*innen des Hauses befürchten müssen, den Immobilienhaien zum
       Fraß vorgeworfen zu werden“.
       
       Unterstützung kommt von der Stadtteilinitiative Bizim Kiez, die von Böhnke
       angesprochen wurde. In einem Artikel heißt es: „In diesem Haus werden
       niedrige Mieten für Wohnungen in einfachem Standard bezahlt und das
       ermöglicht Menschen mit geringem Einkommen, in der Stadt zu wohnen.“ Die
       Ausübung des Vorkaufsrechts sei in diesem Fall eine „verdammte Pflicht“. Zu
       einer ersten Kundgebung rufen die Bewohner*innen und Aktivist*innen an
       diesem Dienstag ab 19 Uhr vor dem Haus auf.
       
       6 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Erik Peter
       
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