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       # taz.de -- Navigationshilfe fürs Alleinsein: Für sensible SolistInnen
       
       > Warum fühlt man sich als Einzelgast am Nachmittag in Cafés wohl, am Abend
       > in Restaurants aber nicht? Übers Alleinsein gibt es neue Erkenntnisse.
       
   IMG Bild: Porträt einer Dame, die einen Brief schreibt (um 1900). Wirkt sie einsam? Oder in sich ruhend?
       
       Es ist der Klassiker für Alleingängerinnen, die sich am Abend in einem
       Restaurant an einen Tisch setzen. Auch Renate Christians kennt das. „Der
       Kellner kommt her und fragt: Sind Sie allein? Ich antworte: Sieht so aus.“
       Die 65-Jährige geht öfter allein essen. „Zum Italiener, zum Chinesen, ich
       genieße es, auch mal neue Restaurants auszuprobieren“, sagt sie, „ich muss
       nicht als Stammgast vom Wirt umarmt werden. Ich sitze gerne alleine und
       gucke mir die Leute an.“
       
       Christians, ehemalige Krankenhausberaterin und gelernte Krankenschwester,
       gehört zu einer wachsenden Gruppe. Die [1][Zahl der Singlehaushalte] nimmt
       zu. Aber Männer und Frauen, die sich in der Gastronomie, in Hotels, in
       Kinos und Theatern allein bewegen, sind in der öffentlichen Wahrnehmung
       immer noch nicht die Norm – ebenso wenig wie Frauen, die allein verreisen.
       
       Über „die Kunst, mit sich allein zu sein“, hat der britische Buddhist
       Stephen Batchelor ein neues Buch geschrieben (Edition Steinrich), und der
       Originaltitel trägt schon die Ambivalenz des Themas in sich: „The Art of
       Solitude“. Das englische Wort [2][„Solitude“] hat nicht den negativen
       Beigeschmack wie die deutsche „Einsamkeit“. „Solitude“ kann Einsamkeit,
       Isolation, aber auch die innere Einkehr, eine willkommene Abgeschiedenheit
       bedeuten.
       
       „Mit sich allein sein ist ein fließendes Konzept, das von den Tiefen eines
       Verlassenheitsgefühls bis zur mystischen Entrückung eines Heiligen reicht“,
       schreibt Batchelor, der in seinem Buch Meditations- und Drogenerfahrungen
       mit Reiseberichten und Porträts verquickt.
       
       Das Alleinsein kann als Zeichen von Schwäche, von Ausgeschlossensein, aber
       auch als Zeichen von Stärke, von Autonomie interpretiert werden.
       „Entscheidend ist die Norm, die man selbst verinnerlicht hat“, sagt der
       Psychiater und Buchautor Manfred Spitzer im Gespräch mit der taz, „wenn ich
       allein entspannt bin und offen in die Welt gehe, schauen mich auch die
       Leute anders an“.
       
       ## Café oder Restaurant?
       
       Ob man sich allein entspannt fühlt, hängt auch von den Orten ab. Es ist
       schöner, sich als AlleingängerIn dorthin zu bewegen, wo nicht die
       [3][Pärchendiktatur] herrscht mit ihrem heteronormativen
       Zugehörigkeitskonzept.
       
       Das Kaffeehaus mit Zeitungen hieß schon in früheren Zeiten Einzelgäste
       willkommen und ist eine Umgebung, in der man Leute beobachten und einer
       Beschäftigung nachgehen konnte wie dem Zeitunglesen. Die zerlesenen
       Zeitungen mit den hölzernen Zeitungshaltern sieht man kaum noch,
       stattdessen fragt man im Café nach dem WLAN-Passwort und hält sich an das
       eigene Ipad als wichtigstes Utensil. Ipad und Handy sorgen immer für ein
       Gegenüber.
       
       Sich in einem gut besuchten Edelrestaurant an einem Samstagabend allein
       einen Tisch vorzubestellen ist hingegen etwas für Hartgesottene. Am
       Wochenende herrscht dort Pärchen- und Gruppendiktatur. Nur
       AlleingängerInnen, die ohnehin sehr stark mit ihrem Innenleben beschäftigt
       sind oder eben die Seezunge faite maison besonders schätzen, fühlen sich
       dort wohl.
       
       Entspannter am Samstagabend ist der Kiez-Sudanese mit Selbstbedienung. Und
       danach das kleine Kino, das kurz vor der Schließung steht und in dessen
       Sitzreihen sich auch andere Einzelgäste fläzen.
       
       ## Allein unter sich
       
       „Wenn man nicht auffallen will, geht man dahin, wo man nicht auffällt“,
       sagt Spitzer. Sensible SolistInnen entspannen sich, sobald weitere
       Einzelgäste auftauchen, ob nun im Lokal oder im Kino oder in der
       Musikkneipe.
       
       „Einsamkeit ist hierzulande schambesetzt“, sagt der Soziologe [4][Janosch
       Schobin]. Die Zuschreibung des Verlierertums an AlleingängerInnen lässt
       sich im öffentlichen Diskurs beobachten. Auf ältere alleinstehende Frauen
       etwa richten sich die immer gleichen Fantasien der Umgebung: Ist sie
       geschieden? Kriegt sie keinen Mann mehr? Dabei könnte man SolistInnen auch
       als AbenteurerInnen sehen. Und AlleingängerInnen können ja durchaus
       irgendwo eine Partnerin haben, nur unternehmen sie eben auch gerne mal was
       ohne Begleitung.
       
       „Ich mache viel allein, aber ich bin nicht einsam“, sagt Renate Christians.
       Die dreifache Großmutter ist seit zwei Jahrzehnten von ihrem Mann getrennt
       und politisch in der Gruppe „Omas gegen Rechts“ aktiv. Das Alleineleben
       musste sie damals, nach der Trennung, „erst lernen“. Der erste Urlaub
       allein in einem Hotel in Fuerteventura „war schrecklich“, erinnert sich
       Christians, „in dem Hotel gab es nur Paare und Familien“. Nach drei Tagen
       im Hotel kamen dann zwei junge Männer aus dem Ruhrgebiet zu ihr und
       fragten, ob sie sich dazusetzen könnten. „Ich sagte: Ja, gerne, ich habe
       seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen“, erinnert sich Christians.
       
       Inzwischen habe sich viel verändert und die Zeiten, wo Singles das
       dunkelste, kleinste Zimmer im Hotel bekamen, seien zum Glück vorbei, sagt
       Christians. Reiseveranstaltern ist aufgefallen, dass gerade alleinstehende
       Frauen durchaus wohlhabend sind und gern in die Welt ziehen, gern mit
       Aussicht auf ein bisschen Austausch unter Gleichgesinnten. Das Biohotel
       Gutshaus Stellshagen in Damshagen an der Ostsee zum Beispiel hat im
       Restaurant einen „Begegnungstisch“ eingerichtet, an den sich Alleinreisende
       setzen und ein Gespräch anfangen können, wenn sie wollen. Auch Reisetrends
       wie das [5][Pilgern auf dem Jakobsweg] konnten nur entstehen, weil es so
       viele Alleinreisende gibt. Sie freue sich jetzt auf den Nordseeurlaub im
       Einzelzimmer, sagt Christians, „meine Malsachen nehme ich mit“. Sie
       schreibe auch immer mal wieder ihre Gedanken auf.
       
       ## Kontakt zur Welt
       
       Buchautor Stephen Batchelor zitiert einen modernen Einsiedler auf einer
       Insel in Patagonien, der Tagebuch schreibt und über den Weg des Schreibens
       „nicht mehr länger wirklich allein ist“. Beschäftigung auf Reisen verleiht
       Richtung und Sinn, ob man nun Bücher liest, malt, schreibt oder mit
       Fernglas und einer Vogelstimmen-App auf dem Handy durch die Gegend läuft
       und Birdwatching betreibt. Handlungen schaffen Verbindung zur Welt.
       Deswegen ist es auch nett, Reisebilder zu liken, die jemand auf Facebook
       postet. Alleinreisende nehmen mit dem Facebook-Post Kontakt auf zum Rest
       der Welt – und das hat mit Angeberei nichts zu tun.
       
       Einsamkeit war in der deutschen Tradition lange gar nicht negativ besetzt,
       sagt Philosoph Schobin. Die Veredelung der Einsamkeit, des Eremitentums,
       finde sich unter anderem in der christlichen Tradition. Dort stand
       Einsamkeit für innere Einkehr und Gottesnähe. Erst seit dem 19. Jahrhundert
       sei die Einsamkeit stärker mit Leiden konnotiert, so Schobin.
       
       Das hängt vielleicht auch mit dem gesellschaftlichen Wandel zusammen: In
       einer westlichen Gesellschaft der Langlebigen machen die meisten Leute in
       ihrem Leben Verlusterfahrungen, wenn nahe Menschen sterben. In einer
       Gesellschaft, in der angeblich jeder vielfältige Optionen für Kontakte und
       Bindungen hat, wächst möglicherweise auch die Angst vor dem
       Ausgeschlossensein.
       
       „Manches will man ja teilen“, sagt Christians. Ins Theater zum Beispiel
       gehe sie nicht gerne allein, in der Pause fühle sie sich als Einzelne dort
       nicht wohl, „da fehlt mir der Austausch“. Sie ist sowohl viel allein als
       auch mit FreundInnen und in Gruppen unterwegs. Sehr hilfreich findet sie
       als Hauptstadtbewohnerin dabei die App [6][BerlinerSingles.de.]
       
       ## Die „einsame ältere Frau“ ist ein Klischee
       
       Die Begegnungs-App ist ein gutes Beispiel für den gesellschaftlichen
       Wandel: Sie kommt erst mal wie eine heteronormative Dating-App daher, die
       eigentliche Action spielt sich aber unter dem Punkt „Events“ ab, wo viele
       Mitglieder, darunter viele Ältere, sich in kleinen Gruppen zum Urban
       Farming, zum Motorrad-Kurventraining oder zu Friedhofsführungen verabreden.
       Die Partnersuche spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle.
       
       Beziehungsmärkte könnten „auch eine Art von Einsamkeit produzieren“, sagt
       Janosch Schobin, nämlich dann, „wenn man sich davon exkludiert“ fühle
       aufgrund bestimmter Merkmale wie Alter, Aussehen, Krankheit, Armut. Das
       Klischee, dass angeblich besonders Frauen im Alter vereinsamen würden,
       trifft dabei nicht zu. Schobin hat Statistiken der Ordnungsämter
       untersucht, nach denen der Anteil der Männer, die nach ihrem Tod ohne
       Beteiligung von Angehörigen von Staats wegen bestattet werden, sehr viel
       höher ist als der Anteil der Frauen, die solcherart beerdigt werden.
       Verarmte, kranke Männer können im Alter sehr isoliert sein.
       
       Letztlich kommt es vielleicht darauf an, das Alleinsein als eine Form der
       Beziehung zur Welt zu betrachten. Eine Lebenslage, die sowohl die Einkehr
       nach innen als auch die weite Öffnung nach außen gestattet. „Man kann sich
       immer interessieren und andere Menschen in das eigene Leben hineinlassen“,
       sagt Renate Christians, „das geht auch noch im hohen Alter.“
       
       23 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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