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       # taz.de -- Olympischer Sport in der Coronapause: Vortasten in den dunklen Raum
       
       > Bis Olympia 2021 wird sich auch der Leistungszenit der Athletinnen und
       > Athleten verschoben haben. Gedanken eines ehemaligen Spitzensportlers.
       
   IMG Bild: Gibt eben auch Fehlversuche: Hochspringer Mateusz Przybylko bei der WM 2019 in Doha
       
       Für den Spitzensportler ist die Ressource Zeit ein besonders knapp
       bemessenes Gut. Die Jahre, die ihm zur Ausübung seiner Passion zur
       Verfügung stehen, scheinen oft seltsam komprimiert. Für jeden hat die Zeit
       einen ganz eigenen Wert, der sich vielleicht auch daran misst, wie man etwa
       jetzt durch die Coronapandemie mit dem weitgehenden Verlust eines Jahres
       aktiver Betätigung im Wettkampfsport umgeht.
       
       Der Verlust von Zeit kann auch ein Gewinn von Zeit sein. Jenseits des nun
       sukzessive überwundenen Lockdowns bleibt den olympischen Athleten ein Jahr
       länger zur Vorbereitung auf die [1][verschobenen Spiele in Tokio]. Manche
       erreichen den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit gerade in dem Jahr, in dem die
       Spiele nur dank der pandemiebedingten Verlegung stattfinden – wenn alles
       wie geplant verläuft. Andere haben ihn überschritten und zahlen einen hohen
       Preis: die Aufgabe eines Traums. 2021 wird es Olympiasieger geben, die es
       im Jahr zuvor nicht gegeben hätte.
       
       Zum Wesen der Zeit gehören das Warten und die Geduld. Nicht jeder ist geübt
       in dieser Disziplin, manchem aber wird sie gleichermaßen zur Tugend wie zur
       Chance. Dem Hochspringer [2][Mateusz Przybylko], 28, vor zwei Jahren
       Europameister, der seine Disziplin leichtfüßig beherrscht, kommt die
       Verlegung gelegen. „Ich habe mehr Zeit, an meinen Schwächen zu arbeiten“,
       sagt er, dem sein Trainer bisweilen das Gemüt eines Kindes attestiert.
       
       2016 in Rio de Janeiro bei seinen ersten Olympischen Spielen
       verletzungsbedingt schon in der Qualifikation ausgeschieden, sollte für
       Przybylko Tokio in diesem Jahr ein Fest des Erfolgs werden. Corona machte
       es zunichte. „Ich schaue jetzt nach vorne“, sagt Przybylko. „Ein Jahr geht
       schnell vorbei.“
       
       ## Von der Seele des Sportlers
       
       Ist die Zeit – dieses Grinsen hinter der Maske der Vergänglichkeit, wie
       Augustinus sagte – vielleicht doch mehr als die vom menschlichen
       Bewusstsein wahrgenommene Form der Veränderungen oder der Abfolge von
       Ereignissen? Und was passiert mit einem Sportler, wenn so ein Ereignis in
       der Zeit plötzlich einen Sprung um ein Jahr nach vorne macht, reißt die
       Verschiebung eine Lücke in das Selbstverständnis eines Sportlers?
       
       „Mit der Bekanntgabe der Verschiebung trat eine gewisse Beruhigung ein“,
       sagt Michael Gutmann, der nicht nur Professor für Sportpsychologie in
       Göttingen ist, sondern auch leitender Psychologe des Deutschen
       Leichtathletik-Verbandes (DLV). „Schlimm war die Phase, in der nicht klar
       war, ob die Spiele stattfinden und unter welchen Bedingungen.“
       
       Die „Seele“ des Sportlers, so Gutmann, lebe davon, dass man versuche, alles
       unter Kontrolle zu halten und sich bestmöglich auf alle Situationen
       vorzubereiten. „Alles, was nicht beherrschbar ist, bleibt damit eine
       gewisse Bedrohung.“ Aber die Zukunft, diese große Unbekannte der Zeit,
       lässt sich nicht beherrschen, ihr metaphysisches Handwerkszeug bleibt die
       Unwägbarkeit. Die Vorstellung der Zukunft ist immer ein vorsichtiges Tasten
       in einen dunklen Raum, in dem der Minotaurus sitzen kann oder Fortuna, die
       Glücksgöttin der griechischen Mythologie.
       
       ## Pragmatische Athleten
       
       Der Alltag der Athleten ist dabei oft weit weniger mythisch. Durch die
       [3][Verschiebung der Olympischen Spiele] und das Wegbrechen (fast) der
       gesamten Saison [4][etwa in der Leichtathletik] kommt es zu ganz profanen
       Ängsten. Ängste um die Existenz. Einkünfte brechen weg, Pläne müssen
       korrigiert werden, der Sportler als reiner Idealist ist eine
       anachronistische Illusion.
       
       Noch einmal Professor Gutmann: „Das Spektrum der Top-Sportlerinnen und
       Top-Sportler umfasst ganz verschiedene Typen. Die meisten gehen mit der
       Situation sehr professionell um. Dazu gehört es, sie so zu akzeptieren, wie
       sie ist, und praktikable Lösungen zu finden. Auch bezüglich der
       existenziellen Situation.“
       
       Die größten Probleme sieht er im Nachwuchsbereich, da in wichtigen
       Entwicklungsphasen Wettkampferfahrungen und motivierende Erfolge verloren
       gegangen seien.
       
       Fantasie ist gefragt. Wer sich nicht im Stadion treffen kann, verabredet
       sich virtuell. Nur langsam kehrt die Normalität zurück. Pläne bieten sich
       an, neu geschmiedet zu werden. Vorsichtig läuft das Schicksal sich warm, um
       bald neue Helden zu küren.In die Karten aber lässt es sich nicht schauen.
       Das Schicksal liebt die Überraschung.
       
       Und die Zeit? Egal was wir machen, sie macht nur, was ihr Wesen ist: sie
       vergeht.
       
       11 Jul 2020
       
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