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       # taz.de -- Theater trotz Corona: Eine Lanze für die Spiellust
       
       > Während andere Theater die Saison beenden, fängt am Münchner Volkstheater
       > die neue an: mit einer Garten-Kreuzigung, den „Goldberg-Variationen“.
       
   IMG Bild: Cengiz Görür (l.) sollte eigentlich den Judas spielen; dahinter: Pascal Fligg, Mauricio Hölzemann
       
       Vorsicht mit der Lanze!“, ruft Mr. Jay. Das Ding ist ein Theaterrequisit
       und hat einen Mechanismus, der beim Zustechen für die Absenkung der Spitze
       sorgt. Doch weil Raamah den nicht betätigt hat, steckt sie nun in Goldbergs
       Flanke. Der Jude hängt am Kreuz. Scheinbar leblos. Die alte Geschichte. Und
       Mr. Jay giggelt und lacht sich ins Fäustchen.
       
       Mr. Jay ist der Regisseur in George Taboris „Die Goldberg-Variationen“. Er
       will die ganze Bibel-Geschichte auf die Bühne bringen und scheitert an der
       Technik – „Es werde Licht!“ –, den Mitwirkenden und sich selbst. Goldberg
       ist Jays sehr emsiger jüdischer Regieassistent, der für diese beiden
       Eigenschaften von ihm gepiesackt wird. Gespielt werden die beiden von
       Pascal Fligg als Supermacho, der sich selbst mit Gott verwechselt, und
       Mauricio Hölzemann als dessen Lamm.
       
       Der Regisseur, der das Stelldichein dieser Ungleichen zur Unzeit im Garten
       des Münchner Volkstheaters in Szene setzt – eigentlich beginnen in Bayern
       gerade die Theaterferien –, heißt [1][Christian Stückl, seines Zeichens
       Volkstheater-Intendant (seit 2002) und Leiter der Oberammergauer
       Passionsspiele (seit 1987]). Damit sind die „Goldberg-Variationen“ ein
       Stückl-Stück par excellence, denn enger miteinander verstrickt sind Theater
       und Religion selten. Und mit beidem kennt er sich aus.
       
       Als der Corona-Shutdown verkündet wurde, war er gerade dabei, in seinem
       Heimatdorf zum vierten Mal die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu zu
       inszenieren. Unter den bis zu 400 Mitwirkenden, die dabei gleichzeitig auf
       der Bühne standen, waren auch seine eigenen, über achtzigjährigen Eltern.
       Teils schnupfend, teils fiebrig, aber immer auf dem Posten.
       
       ## Gegen Antisemitismus
       
       Und auch wenn die Verlegung der alle zehn Jahre stattfindenden Passion auf
       2022 letztendlich fast eine Erleichterung war, einen Phantomschmerz hat sie
       offenbar dennoch hinterlassen. Darum steht jetzt ein Kreuz im
       Volkstheater-Garten. Ein kleineres als das im Passionsspielhaus. Aber die
       Lanze stammt von dort. Und der Oberammergauer Judas, Cengiz Görür, schlüpft
       in eine ganze Reihe von Rollen, rappt und schlägt akrobatische Kapriolen,
       während einer der beiden Jesusse Zeuge dieser Ersatz-Passion wird, bei der
       es so ganz anders zugeht als bei der „echten“.
       
       Denn dass Christian Stückl am Sonntag für sein Engagement gegen
       Antisemitismus der [2][Abraham-Geiger-Preis] verliehen wurde wie vor ihm
       etwa Amos Oz, hat auch damit zu tun, dass er einst als gerade mal
       24-jähriger [3][Passionsspielleiter damit begonnen hat, entsprechende
       antijüdische Stellen aus dem alten Text zu streichen].
       
       Bei Tabori dagegen skandieren die Schauspieler Sätze wie „Wir sind die
       schlimmen Juden“, „wir sind geil und schwitzen“ und „wir träumen von Rache,
       verhunzen die Sprache …“. Mr. Jay hat die Probe für diese „Tanz um das
       goldene Kalb“-Szene Goldberg überlassen. Und als der sich anschließend Luft
       machen muss, versteht man auch, warum. Wozu die ganze Drecksarbeit selbst
       erledigen, wenn die Demütigungen schon im System stecken? In den Köpfen,
       den unbedachten Worten, den Stereotypen.
       
       [4][Dieser systemische Antisemitismus hat Tabori interessiert], der sein
       eigenes Stück 1991 mit dem kongenialen Duo Ignaz Kirchner (als Goldberg)
       und Gert Voss (als Jay) uraufgeführt hat. Und er entlarvte ihn mit diesem
       tabulosen (jüdischen) Humor, den man so leicht für Zynismus halten kann.
       Dass man den nicht schamhaft herunterdimmen kann, weiß Christian Stückl,
       der an den Münchner Kammerspielen selbst bei Tabori assistiert hat. Also
       setzt er in seiner auf vier Schauspieler, eine Schauspielerin und zwei
       Musiker reduzierten Fassung eher noch eins drauf und ergänzt den bunten
       Strauß an Missständen im Theater, das die Welt ist, um einen Ausbruch der
       von Jay sexistisch angegrabenen Diva Terese Tormentina in Richtung
       „toxische Maskulinität“, #Mee Too und noch mehr Schlüpfrigkeiten.
       
       ## Sehnsucht nach der analogen Kunstform
       
       Allerdings muss man nichts davon überbewerten. Stückl inszeniert keinen
       Kommentar auf die Gegenwart, sondern ein (coronabedingt reduziertes)
       Sommertheaterspektakel, das das Scheitern zum Thema macht. Vor allem aber
       sind diese „Goldberg-Variationen“ eine Liebeserklärung an das
       Theaterspielen – live und gemeinsam vor leibhaftig anwesendem Publikum, für
       das Christian Stückl bei einer phänomenalen Pressekonferenz Anfang Mai eine
       Lanze gebrochen hat.
       
       Beherzter und glaubwürdiger hat auf dem Tiefpunkt der kulturellen
       Coronadepression keiner die Sehnsucht nach dieser analogen Kunstform
       beschworen. „Ich bin nicht Kammer 4“, hat Stückl mit Bezug auf die neue
       digitale Sparte der Münchner Kammerspiele verkündet – und die Sehnsucht
       nach seinem Publikum bekräftigt, nach Zusammensein, sogar nach Kritik. Er
       ist einer, der will, dass es dampft, und zwar nicht nur dann, wenn er sich
       ein um die andere Zigarette anzündet.
       
       Ob ein solches Theater unter Corona-Bedingungen geht, aerosolminimierend
       also, wollte er ausprobieren und dafür notfalls auch riskieren, dass es
       „fad“ wird. Also hat er seine Mitarbeiter statt in Kurzarbeit vorzeitig in
       den Sommerurlaub geschickt und bereits Mitte Juni mit den gleichzeitigen
       Proben von fünf neuen Stücken begonnen, die ursprünglich weder im alten
       noch im neuen Spielplan vorgesehen waren. Die zeigen sie jetzt
       hintereinander weg. Mit Abstand auf der Bühne wie im Zuschauerraum, mit
       einer Aufführungsdauer unter zwei Stunden, mit wenig Berührungen, aber mit
       Herz.
       
       ## Kostümkatastrophe
       
       So hat das Volkstheater mit seinen „Goldberg-Variationen“ als wohl erstes
       Theater des Landes die Spielzeit 2020/21 eröffnet. Mit einer Spielfreude,
       die über manche Rumpeligkeiten des Stückes hinweghilft wie über einen auch
       energetisch lahmenden Beginn. Denn es ist nicht ganz leicht, richtig
       schlechte Schmierenkomödianten zu spielen, ohne selbst mit
       Schmierenkomödianten verwechselt zu werden.
       
       Doch nachdem sie sich warmgespielt haben, flutscht die Charge wie
       geschmiert, und es gibt ein paar herrliche Szenen: Pascal Fligg als
       brummeliger Moses, der mit den Gesetzestafeln hadert. Oder Timocin Zieglers
       Raamah, der sich selbst sedieren muss, um seine Kostümkatastrophe
       auszuhalten: ein Riesenzotteltier von Schambehaarung, auf dem ein winziges
       Feigenblatt klebt. Oder Görür, der erst im Herbst sein Regiestudium
       antritt, als queere Schlange, die die Mitschauspieler für die Paradiesszene
       locker macht: Dass alle coronakompatibel nebeneinander an der Rampe stehend
       Joints rauchen und sich augenrollend eingrooven in den Modus, den sie fürs
       Nacktsein brauchen, ist ein schön absurdes Bild. Und die comicartige
       Schlägerei in Slow Motion, mit der man den Abstandsregeln Genüge tut,
       könnte sogar Schule machen.
       
       Weiter geht es mit dem Sonderspielplan schon am Mittwoch, dann hat Laura
       Naumanns Stück „Das hässliche Universum“ in der Regie von Sapir Heller
       Premiere. Am Freitag, dem 7. August, kommt Kafkas „Der Bau“, inszeniert von
       der jungen Regisseurin Mirjam Loibl, heraus. Der Volkstheater-„Oldie“ Simon
       Solberg inszeniert Josef Haders „Indien“ (Premiere: 14. August), und
       Hausregisseur Abdullah Karaca „Probleme Probleme“ nach Ingeborg Bachmann am
       26. August.
       
       Und am 6. September, wenn sich andere Häuser gerade aus dem Sommerschlaf
       räkeln, folgt mit Noam Brusilovskys „Gehörlosen-Hörspiel“ noch ein Stück,
       das im März gerade noch seine Generalprobe erlebt hat, bevor einen Tag
       später alle Theater schließen mussten. Nun geht einen Tag nach seiner
       voraussichtlichen Premiere in Bayern die Schule wieder los. Wer dazwischen
       nicht verreisen will oder kann, weiß also, wohin.
       
       27 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Oberammergau-ohne-Passionsspiele/!5684076
   DIR [2] https://www.abraham-geiger-kolleg.de/2020/01/16/abraham-geiger-preis-2020-geht-an-christian-stuckl/
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       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Leucht
       
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