URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Es ist Zeit für ein Haus
       
       > Seit Jahren ist die Instandsetzung im Gange und nicht der Rede wert. Das
       > Haus steht da wie ein verwundeter offener Körper.
       
       Am Morgen wachte ich mit einem neuen Buch auf. Das war merkwürdig, denn
       eingeschlafen war ich mit einem anderen. Irritiert sah ich mich um – es war
       immer noch dasselbe Zimmer, es hatte sich nichts Wesentliches verändert;
       links des Fensters klebte noch die Leiche der Mücke von letzter Nacht.
       
       „Ist deine Wohnung beleidigt, wenn du sie mal verlässt?“, fragte neulich
       ein Freund, der mich lange nicht mehr gesehen hatte. Dabei verbringe ich
       gar nicht so viel Zeit zu Hause. Ich gehe schon auch raus. An guten Tagen.
       
       Mein palästinensischer Nachbar hat zwei zerschlagene Fenster, die man vom
       Hinterhof aus sehen kann. Die Hausverwaltung macht da nichts. Klar ist nur,
       niemand hat sie mit Absicht zerschlagen, es war einfach an der Zeit. Bei
       mir gibt es Risse in der Decke, und ein Wärmezähler hat es nicht mehr
       ausgehalten, im Sommer nichts zu tun zu haben, und ist vom Heizkörper
       gesprungen. Das Haus wird seit zwei Jahren instand gesetzt, haha,
       tatsächlich wird irgendwie an dem Haus gewerkelt, mal kommt die bulgarische
       Brigade, um wie bekloppt herumzuhämmern, mal lässt sie sich für Wochen
       nicht blicken.
       
       Rohre liegen frei, das Treppenhaus wird nur auf Aufforderung geputzt, man
       kennt das. Wen am Sonntag die Suppe anschaut, mit großen, traurigen Augen,
       der kann auf die Idee kommen, dass da finstere Absicht dahintersteckt. Aber
       am Ende ist es bloß Berliner Wurschtigkeit, glaube ich. Kommste heute
       nicht, kommste morgen.
       
       Immerhin, die Mäusepolizei hat die Observierung eingestellt, die Mäuse
       haben sich verzogen. Ihr Handlungskorridor ist stetig kleiner geworden,
       spätestens seit auch die Wände wegen der Rohre geöffnet wurden wie Wunden.
       Mittlerweile gibt es Stellen im Treppenhaus, in denen man durch den Boden
       blicken kann. Der Boden sieht aus wie eine hart gewordene
       Mehrschichtencremetorte. Die Mäuse sind jetzt draußen und spielen in der
       Sonne, oder sie sind als Bewegung in den Untergrund gegangen oder hausen
       jetzt ewig im Mäusehimmel.
       
       Immerhin, die steile Nachbarin ist wieder da. Die fluiden Gäste sind zu
       lange weggeblieben, AirBnB ist plötzlich kein Geschäftsmodell mehr, genauso
       wenig das ganzjährliche Überwintern auf den Kanaren. Ich begegne ihr im
       Treppenhaus, sie sieht meist verschlafen aus, vielleicht hat sie auch
       Mücken oder Mäuse.
       
       Auf dem Weg zum Briefkasten denke ich an die neunziger Jahre, man wird ja
       auch nicht jünger. In den letzten beiden Jahrzehnten des vorherigen
       Jahrhunderts galt es als schick, schäbig zu wohnen. Man ging in schäbige
       Clubs, mit Toiletten, die man eigentlich nur mit Gummistiefeln betreten
       sollte, man wohnte mit Ofenheizung. Alles war kaputt, und so ist es im
       Grunde immer noch.
       
       Eine Treppenhausleuchte zwinkert mir zu. Über den doppelten Boden meines
       Briefkastens, hinter dem all die Post verschwindet, die ich seit Monaten
       nicht mehr bekomme, berichte ich das nächste Mal.
       
       28 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Hamann
       
       ## TAGS
       
   DIR Haus und Hof
   DIR Gentrifizierung
   DIR Kiez
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Kolumne Die Wahrheit
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Kolumbus
   DIR Mäuse
   DIR Elvis Presley
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Hamburg, meine Perle vor den Säuen
       
       Hamburg ist eine Reise wert. Aber ist die Stadt an Elbe und Alster wirklich
       schöner als beispielsweise Berlin? Vor Ort kommen Zweifel auf.
       
   DIR Die Wahrheit: Warst du schon mal am Südpol?
       
       Die Erde ist keine Scheibe, sondern eine Kugel mit gekrümmten Längengraden.
       Und Breitengraden. Zeit für ein neues Magazin.
       
   DIR Die Wahrheit: Sterbliche Überreste auf Tour
       
       Urlaub scheint derzeit unmöglich. Aber wie war eigentlich der letzte?
       Schön, angenehm und zwiespältig wie ganz Polen.
       
   DIR Die Wahrheit: Schiffe versenken für Ideologen
       
       Kolumbus’ Santa Maria wurde von Roland Kaiser besungen. Wahrscheinlich
       liegt sie deshalb schon lange nicht mehr im Hafen von Barcelona.
       
   DIR Die Wahrheit: Die Maus zum Jagen tragen
       
       Die Kolumne mit der Maus (2): Nachts, wenn alles schläft, ist meistens
       keiner wach. Und Luise ist längst freigesetzt, in der Wildnis der Stadt.
       
   DIR Die Wahrheit: Elvis oder nicht Elvis?
       
       „Be bop al lula“ oder „A-bop-bop-a-loom-op a-lop-bop-boom“? Eine dringend
       notwendige musiktheoretische Abhandlung.