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       # taz.de -- Der Begriff „queer“: Meine schwule Normalität
       
       > „Queer“ ist ein Überbegriff für alle, die nicht in die Heteronorm passen.
       > Als Konzept von individuellem Sein und Identität taugt er jedoch nicht.
       
   IMG Bild: „Queer“ als Stilmittel: Geht’s noch unpolitischer?
       
       Für mich war ich immer normal. Ein Junge, so wird erzählt, so erinnere ich
       es selbst, der einfach freudig in der Welt war. Und gern spielte, wie alle
       Kinder: mit Jungs Jungssachen, Fußball, Räuber & Gendarm, Völkerball,
       Baumhausbauen. Winters aber lieber Eislaufen mit Rückwärtsspirale als
       Eishockey mit Bodychecks. Mit Mädchen spielte ich ebenso gern, Gummitwist
       und Oblaten sammeln, mit einer auch auf Bäume klettern. Das hätte lange so
       weitergehen können, aber als das Kindliche sich auswuchs, war ich als Junge
       eher der einzige, der auch mit dem anderen Geschlecht spielen wollte.
       
       Die Welten trennten sich, aus mir wurde ein Junge, um den sich die Eltern
       irgendwie auch sorgten. Scham oder Beschämung? Nicht die Bohne, das Leben
       war ja interessant, sei es unter Binnenschiffern an der Elbe oder mit
       Frauen in einem der ersten Supermärkte. In der Pubertät, als, wie bei
       allen, nichts mehr stimmte, der Körper explodierte, merkte so einer wie
       ich, dass mit mir etwas nicht in Ordnung war. Niemand sagte das, keiner
       hatte fiese Sprüche parat, die kamen erst später, als ich längst begreifen
       musste: Ich fand Mädchen erotisch gar nicht interessant, Jungs dafür viel
       mehr. Was bedeutete: Ich war anders, und zwar in meiner Umwelt als
       Einziger.
       
       Es waren die sechziger Jahre, und die Vorstellungen zu dem, [1][was ein
       Junge tut und was er zu lassen hat], waren gefrostet. Nichts war weich oder
       freundlich jugendlichem Eigensinn gegenüber. Ich mochte Mädchen, wenn sie
       stark waren und Jungs, die sich durch Stärke auch auszeichneten, vor allem
       aber durch herzliche Kumpeligkeit. Irgendwas aber lief „schief“. Panisch
       bekam ich das Gefühl, dass meine Normalität eine obskur Betrachtete war.
       Ich durfte offenbar für mich nicht mehr normal sein.
       
       Aus dem ja prinzipiell Schönen wurde Hässliches gemacht. [2][Schwul] – hieß
       das, ein Begehren, das nicht der Norm entsprach, ein existenzielles No &
       Never.
       
       ## „Schwul“ statt „homophil“
       
       Auf ewig dankbar bin ich allen, die in den frühen Siebzigern mit [3][Rosa
       von Praunheim] und übrigens auch vielen Lesben, die sich noch „schwule
       Frauen“ nannten, diese schmutzende, giftelnde Vokabel als Kampfbegriff
       nahmen. Den Kern der infamen Zuschreibung gegen die Zuschreibenden
       wendeten. „Schwul“, das war deutlich, nicht verschwiemelt wie „verzaubert“
       oder „homophil“, gar auch nicht „vom anderen Ufer“, „Schwuchtel“ oder
       „warmer Bruder“. Halbseiden, tretbar, aggressiv zu verfolgen bis hin zur
       Krankenhausreife. Das war damals üblich, es drohte buchstäblich überall,
       wenigstens möglicherweise. Angst war der gewöhnliche Zustand.
       
       Mit meiner Normalität war es indes vorbei. Ich – und Millionen andere, die
       es ja auch noch gab, von denen ich aber, alleingelassen sich fühlend, nicht
       wusste – musste und wollte mich mit Homosexuellem auseinandersetzen,
       persönlich und politisch. Eigentlich war in mir und mit mir nur eine
       besondere Art des Begehrens, nichts weiter. Eine Trivialität. Muschis –
       keine Lust, lieber andere Schwänze. Doch Paragrafen und andere staatliche
       und gesellschaftlich gern geglaubte Vorstellungen machten daraus eine
       stete, in die Haut gesunkene Drohung.
       
       Aber war das schon mehr als „schwul“? War es vielmehr „[4][queer]“, wie die
       heutige, modische Vokabel es nahelegt? Hatte ich mir das ausgesucht, war
       ich womöglich zu gering fluid, hätte ich besser, wie manche heutzutage,
       [5][nonbinary] sagen sollen? Ich fand das Deutliche besser für mich,
       stimmiger. Was die Leute über unsereins – es gab ja inzwischen ein „uns“ –
       dachten, musste bestätigt werden, um ihnen – es gab auch ein „ihnen“ – die
       Mäuler zu stopfen. Ja, schwul war genau das, was die Leute sich drunter
       vorstellten.
       
       „Queer“ wäre damals als Wort keinesfalls besser gewesen. „Queer“ klingt
       parfümiert, uneigentlich. Sprachbereinigt insofern, als in „queer“ etwas
       verloren geht: das für die meisten heterosexuell orientierten Menschen
       Faszinierende, Drohende. „Schwul“ sind Leute, die die Nazis tausendfach
       töteten und die das deutsche Tätervolk gern an die Gestapo verpetzte.
       „Queer“ hingegen klingt geschmackvoll, ja, kulturell und programmatisch vom
       Gossenhaften entfernt.
       
       ## Die innere Homophobie tilgen
       
       Ohnedies ist ja „queer“ eine politisch beanspruchende Vokabel, die
       persönliche Lifestyles meint: Man gibt sich weich, zart, im klassischen,
       besser: traditionellen Sinn weicher männlich. Und das soll denn auch so
       sein, das ist die Programmatik. Was aber, wenn man auf dieses Programm der
       kollektiven Andersheit in Abgrenzung zum Heteronormativen (so die
       Fachvokabel) keine Lust hat? Wenn es einem nicht entspricht?
       
       Ich selbst musste durch die Schule des schwulenbewegten Kampfes und darauf
       beharren, ein anders begehrender, eben ein schwuler Mann zu sein. Aber ein
       schwuler Mann mit Interesse an Fußball – nicht des Aussehens der Spieler
       wegen, das muss man bei einem fantasierenden Nichthomopublikum immer
       klarstellen. Oder am Pop, dort besonders an Frauen, die aufs Ganze gehen,
       sozusagen an der ganzen Gummitwistwelt meiner Kinderjahre. Eine Welt, ehe
       man lernte, dass das Anderssein ein Strickfehler in einem selbst ist. Es
       ist der übliche Plan aller auf dem Wege aus der Kindheit raus: Mit sich
       einverstanden sein. Differenz aushalten können. Die Mehrheit ist eben in
       gewisser Hinsicht fundamental anders orientiert als man selbst – was soll
       denn das Erotisierungsfähige anders als basal sein?
       
       Die innere Homophobie tilgen, lindern. Das schafft den Mut, den Hass
       anderer Menschen zur strafrechtlichen Anzeige bringen zu wollen – anstatt,
       wie früher üblich, sich zu sagen: „Ach, das geschah mir schon recht!“ Aber
       auch einzusehen, dass es eine paradiesische, nichthomophobe Welt nicht gibt
       – höchstens eine Welt, in der man sich selbst nicht fertigmacht für das,
       was man ist.
       
       Was das Ringen mit dem eigenen Leben – als Angehöriger einer Minderheit –
       sein kann, ist ja eben dies: Mit sich einverstanden sein, sich normal
       finden. Unabhängig davon, ob sich das gerade modisch geziemt oder nicht.
       
       ## Man ist, was man ist
       
       Das „Queeren“ einer Person ist hingegen ein Vorgang, der sich von außen
       einschreibt: Oh, jemand ist „queer“. Ein innerer Vorgang der gleichen Güte
       ist indes hinderlich: Oh, ich soll „queer“ sein! Dann würde ich im Inneren
       wieder die Klischees aus der Außenwelt reproduzieren. In meinem Fall:
       Schwule seien sensibel, seien an Kunst interessiert oder am Schönen und
       Wahren und Guten. Diese einengende und gar angewiderte heteronormative
       Zuschreibung, Homosexuelle mögen doch bitte für den Schmuck zuständig sein.
       
       Es hieß früher schon, „Schwulsein“ sei nicht abendfüllend. Man ist, was man
       ist. Sigmund Freud nannte das „Triebschicksal“, ein Begriff, der einfach
       nur sagt, was Sache ist. Nicht fluide, ein Schicksal wie so vieles,
       Schönheit und Anmut etwa. Dass Schwules nur ein persönlicher Aspekt unter
       vielen ist, versteht sich von allein. Homosexuelles ist ein Umstand, mit
       dem unsereins irgendwann einverstanden ist, psychologisch heißt das: in die
       Persönlichkeit als bejahend integriert. „Queer“ hingegen ist ein Programm,
       das das Fleischlich-Begierige aus der Seinsweise getilgt hat, das explizit
       Schwule beispielsweise zum Verschwinden bringen möchte. Aber zugleich: eine
       Sammelformel, um die seltsame Buchstabenkette „LGBTI“ zu vermeiden –
       „queer“ meint alle, die in die heteronormative Welt nicht passen.
       
       „Queer“ als Stilmittel hingegen, als Versuch, an der Oberfläche subversiv
       zu sein, wie der Heteromann, der sich die Fingernägel lackiert: Geht’s noch
       unpolitischer? Das Streiten für Bürger:innenrechte ist kein kosmetischer
       Tand. Es wäre viel gewonnen, wenn vor allem gelten würde, dass allen ihr
       Eigensinn zu lassen ist: das Erotische gehört dazu, das Begehrende sowieso.
       Freundet euch mit euch selbst an! Das ist nicht so leicht, wie es klingt.
       Möglich, dass es im Alter gelungen sein wird. Aber nicht garantiert.
       
       30 Jul 2020
       
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